„Der Körper hat Konjunktur.“

Über einen vielfältigen Band zum Leib-Konzept

Von Stephan KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um welche günstigen Umstände es sich handelt, die dieser prägnante erste Satz des Bandes „Leiblichkeit“ anspricht, ist sehr schnell zu erfahren. Es bedarf dazu beinah nur einer fast zufälligen Lektüre einiger der präzise verfassten Kapitel. Sofort wird deutlich spürbar, dass sich die Autorinnen und Autoren der gleichzeitigen Komplexität und Diversität des Gegenstandes und der jeweils dargestellten Theoriekomplexe nicht nur bewusst sind, sondern dass sie diese sehr zugänglich zu vermitteln verstehen. Auf diese Weise wird das Postulat von der ‚Konjunktur des Körpers‘ vom Anfang auch zu einem Anspruch, dem dieser Band genügen will – und dem er vollauf gerecht wird. Dies gilt umso mehr, da von den Herausgebern nicht nur behauptet wird, sie folgten mit diesem Buch keinem wie auch immer benennbaren ‚turn‘. Vielmehr ist die Konzentration auf den Leib als allgegenwärtige Größe menschlichen Daseins hier kein schlicht konjunktureller oder gar modischer Winkelzug, sondern gerade die breitgefächert aufgearbeitete „theoretische Perspektive, deren Tiefendimension noch immer nicht hinreichend abgeschritten wurde“. Der Hinweis auf dieses Desiderat ist zugleich Grundlage für die hohe Qualität des Buches und bestimmt auch den weiten Horizont an theoretischen Positionen, der darin eingehend vorgestellt wird.

Die Einteilung des Buches eröffnet dieses Blickfeld mit einem dreifachen Ansatz, der ausdrücklich nicht nur theoriehistorisch-chronologisch aufgebaut ist. So widmen sich die Einzelkapitel des ersten und weitaus umfangreichsten Abschnittes dem phänomenologischen Leibbegriff, der allen voran von Husserls und Merleau-Pontys Schriften bestimmt wird. Angesichts seiner Bedeutung und der durch ihn prominent fortgeführten Differenzierung der Begriffe ‚Leib‘ und ‚Körper‘ beziehungsweise ‚corps propre‘ und ‚corps‘ wundert es somit nicht, dass Merleau-Pontys theoretische Wirkung in „Leiblichkeit“ als einzige gleich durch zwei fundierte Beiträge gewürdigt wird. Die Rundschau des Abschnittes reicht bis weit in die Gegenwart und stellt Autoren wie Bernhard Waldenfels oder Hermann Schmitz vor.

Der zweite Teil bietet Einblick in die „Geschichte des Leibbegriffes“ und setzt dabei einen klaren Schwerpunkt im 19. Jahrhundert. Aufgezeigt werden so die Grundzüge der historischen Vorläufer (unter anderem Friedrich Nietzsche) beziehungsweise zeitgenössische Ansätze (etwa Sigmund Freud, Ernst Cassirer, Helmuth Plessner) zu jener basalen Differenzierung zwischen Körper und Leib.

Die Kritik eben dieser Unterscheidung – und damit auch des Leibbegriffes überhaupt – lässt sich im dritten Abschnitt nachverfolgen. Die Einzelbeiträge dort sind den theoretischen Ansätzen von Theodor W. Adorno, Gilles Deleuze, Michel Foucault oder Judith Butler (im Kontext der Genderforschung) gewidmet.

Der Band ist ein Kompendium und eignet sich als ausgezeichneter und verlässlicher Begleiter auch für interdisziplinär Interessierte. Die bequeme und spannende Lesbarkeit und die inhaltliche Handhabbarkeit der einzelnen Kapitel machen „Leiblichkeit“ nicht nur zu einem reichhaltigen Handbuch, sondern zu einer sehr praktischen Sammeldarstellung theoretischer Ansätze zum Leibkonzept, die keine Vorgänger hat. Der Band schließt fraglos eine Lücke – und dies mit hoher Qualität.

Titelbild

Emmanuel Alloa / Christian Grüny / Thomas Bedorf / Tobias Nikolaus Klass (Hg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts.
UTB für Wissenschaft, Tübingen 2012.
412 Seiten, 20,99 EUR.
ISBN-13: 9783825236335

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch