Mehr als eine romantische Vorgeschichte der Ethnologie

Der von David E. Wellbery herausgegebene Tagungsband „Kultur-Schreiben als romantisches Projekt“ entdeckt ein kulturanthropologisches Eigenwissen der Literatur um 1800

Von Urs BüttnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Urs Büttner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von „Romantischer Ethnographie“ zu sprechen, ist ein Anachronismus, erläutert David E. Wellbery einleitend in dem von ihm herausgegeben Band in der Reihe der Stiftung für Romantikforschung. Die Romantik war längst vorbei, als sich eine akademische Diszplin „Völkerkunde“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte. Der Anachronismus sei aber zu rechtfertigen, insofern er zu neuen Lektüren der Literatur um 1800 anleite. In diesem Sinne ‚proto-ethnologische‘ Wissenbestände spielten nämlich eine zentrale Rolle in den Geschichtsspekulationen dieser Zeit, da sie versprechen auf das Ursprüngliche einer universalen Poiesis des Sozialen zurück gehen zu können.

Die Debatten dieser Zeit entfalten den Gedanken der Poiesis des Sozialen nach beiden Schlagworten hin. So werden völkerkundliche Argumente gleichermaßen mobilisiert im Hinblick auf Fragestellungen einer universalistische Ästhetik zwischen den Polen Einfachheit und Vielgestalt, als auch zur Ausbildung des Sozialen als eines eigengesetzlichen Gegenstandbereichs. Bindeglied zwischen beiden Horizonten bilden Mythos und Ritus, die sich als Ursprung doppelt beziehen lassen, einerseits als Urform der Künste, andererseits als alle Gesellschaftsbereiche ordnende und verbindende Kräfte. Hieran schließen die Romantiker in verschiedener Weise an, wenn sie mittels der Kunst Gesellschaftsreformen anleiten wollen.

Die Beiträge des Bandes wecken Zweifel, ob es sich tatsächlich, wie einleitend behauptet, bei „Romantischer Ethnographie“ um einen Anachronismus handelt. Sie gehen zurück auf eine prominent besetzte Chicagoer Tagung, bei der Stefan Andriopoulus, Frauke Berndt, Roland Borgards, Michael Chaouli, Markus Dauss, Alexander Honold, Albrecht Koschorke, Gerhard Neumann, Ingrid und Günther Oesterle, Andrea Polaschegg, Oliver Simons, Sabine Schneider und Ralph Ubl vorgetragen haben.

In kaum einem der Beiträge fallen einleitend nicht die großen Namen aus der modernen Methodendiskussion ethnografischen Schreibens oder zentraler völkerkundlicher Theoreme, die in die Kulturwissenschaft Eingang gefunden haben. Die Versuche, Fragestellungen aus der Zeit um 1800 als eine Art literarische Vorgeschichte der späteren Wissenschaft „Ethnologie“ aufzuwerten, verkehren sich aber in ihr Gegenteil. Gemessen an der Differenziertheit und der Kreativität eigenständiger Konzeptualisierungen, die die Interpretationen des Bandes in den literarischen Texten entdecken, scheinen eine Reihe der modernen ethnologischen Einlassungen hinter das Reflexionsniveau von 1800 zurückzufallen. Von daher bietet der überzeugende Band sehr viel mehr als die anvisierte literarische Vorgeschichte der Ethnologie. Kennen die Genealogiekonstruktionen der Wissenschaft „Ethnologie“ nur philosophische Vorläufer wie Rousseau und Herder, so rehabilitiert dieser Band einen keineswegs nur ‚proto-ethnographischen‘ Diskurs der schönen Literatur um 1800.

Titelbild

David E. Wellbery (Hg.): Kultur-Schreiben als romantisches Projekt. Romantische Ethnographie im Spannungsfeld zwischen Imagination und Wissenschaft.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
300 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826049071

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch