Poetiken des Wilden, von der Antike zur Gegenwart

Jörg Robert und Friederike F. Günther präsentieren einen bunten Strauß als Festschrift für Wolfgang Riedel

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekannt wurde Wolfgang Riedel, momentan Vizepräsident der Universität Würzburg, und ebendort Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literatur- und Ideengeschichte, vor allem durch seine Arbeiten zu Literatur und Anthropologie – sei es durch seine Monografie zur „Anthropologie des jungen Schillers“, durch seine späteren Arbeiten zur „Literarischen Anthropologie um 1900“ oder, genereller, durch die Sondierung dieser Forschungslandschaft im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, in der er viele Motive der heutigen Konjunktur von Wissens- und Literaturgeschichte andeutete oder sogar vorwegnahm. Zahlreiche seiner Arbeiten kreisten um das dialektische Verhältnis von Kultur und Natur, Eigenem und Fremden, Zivilisiertem und Primitivem. Für die nun erschienene Festschrift zu Riedels 60. Geburtstag wählten die Herausgeber Jörg Robert und Friederike F. Günther die Antithese von „Klassik und Wildem“ zur Bezeichnung der Riedel’schen Bandbreite – und versammelten in dem Band Aufsätze von Weggefährten und Kollegen, die die wechselseitigen Durchdringungen und Bedingungen von zivilisatorischer und azivilisatorischer Selbst- und Fremdzuschreibung diskutieren und analysieren.

Einer Festschrift mehr noch als einem Sammelband angemessen, ist die hier zum Themenkomplex der „Poetik des Wilden“ gebündelte Expertise sowohl beeindruckend wie auch weitfassend: Vertreten sind nicht nur Arbeiten zur Aufklärung, zum Primitivismus in der klassischen Moderne sowie zur Gegenwartsliteratur und -kultur, sondern auch Arbeiten der klassischen Philologie – so beispielsweise ein Aufsatz des Würzburger Gräzisten Michael Erler zu Aischylos und der „Einbürgerung des ‚wilden Schreckens‘ in die Gesellschaft“. Der Titel von Erlers Artikel gibt die Richtung zahlreicher Aufsätze vor: Quasi-anthropologische Inklusionen und Exklusionen samt Begründungsstrukturen sowie formalen, ästhetischen, historischen, politischen Folgen werden vielfach verhandelt, so etwa in der Darstellung der „Akkulturation des Wilden bei Schiller“ (Peter-André Alt), in Auseinandersetzung mit „Exotismus und Zivilisationskritik“ bei Robert Müller und Alfred Döblin (Georg Braungart) oder im Weg vom „wilden Spektakel zur befreienden Katastrophe“ in Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ (Irmela von der Lühe).

Wohl kaum zu vermeiden ist dabei, dass mancher Artikel einzig an dünnem assoziativem Faden mit dem Rest des Bandes zusammenhängt. So ist Roland Borgards Aufsatz zu „Löwen. Poetik und Politik der Tiere bei Brockes, Ridinger und Buffon“ zwar eine lesenswerte und elaborierte Analyse im Rahmen „politischer Zoologie“, die sowohl „allgemeine Anthropopolitik, in der sich der Mensch dem Tier gegenüber in Stellung bringt“ wie auch „Souveränitätstheorien, in denen der Mensch den Löwen als politisches Tier nutzt“ berücksichtigt und diskutiert – nur gibt es neben der räumlichen Nähe (auch Borgards lehrt in Würzburg) wenig direkten Zusammenhang zu Riedels Arbeiten.

An anderer Stelle macht der Band dafür die Spannungen deutlich, in der bestimmte Forschungspositionen zueinander stehen. So optiert – einerseits – beispielsweise Norbert Christian Wolf in seinem Aufsatz „Das ‚wilde Denken‘ und die Kunst. Hofmannsthal, Musil, Bachelard“ für einen auf Riedels Arbeit aufbauenden Begriff des „literarischen Primitivismus“, der „wildes Denken“ jenseits programmatisch regressiver Denk- und Wahrnehmungsformen auffinden möchte – und damit auch das „Nicht-Ratioïde“ Robert Musils, auch Hofmannsthals epiphanische „Einswerdung[en] von Individuum und Außenwelt“ dem „literarischen Primitivismus“ zuschlägt. Literarischer Primitivismus wird damit der sentimentalischen Erfahrungsweise à la Friedrich Schiller angenähert. Auf der anderen Seite findet sich Manfred Engels Auseinandersetzung mit dem dadaistischen Primitivismus, die einen dezidiert ‚engen‘ Begriff des literarischen Primitivismus zu verteidigen sucht. Engel bestimmt diesen Primitivismus in Literatur und Kunst der Moderne vor allem über seine „heuristische Funktion“: „Er dient dazu, künstlerische Verfahren zu finden und/oder zu elaborieren, die die dezidiert anti-realistische Formensprache der Moderne konstituieren.“ Hier also antirealistisches Formspiel, dort analogischer Denkstil – die Entfernung zwischen den Positionen lässt die Bandbreite der Anknüpfungsmöglichkeiten an die von Riedel (mit) angeregten Diskussionen erkennen.

Die auch hier sichtbare Spannung und Durchdringung von Eigenem und Fremden zeigt sich mit am deutlichsten in der Figur des „nahen Fremden“, wie sie von Hans Richard Brittnacher am Beispiel des „Zigeuners“ im Band diskutiert wird. Brittnacher gelingt die Konturierung der Figur des Zigeuners durch Rückbezug auf und Abgrenzung zum „edlen Wilden“ Rousseaus – „als Zurechtweisung dieser Utopie erscheinen die ‚Zigeuner‘.“ Brittnachers recht materialreiche Diskussion zeigt die literarischen und para-anthropologischen Negativbestimmungen des „Zigeuners“ überzeugend auf, wenn auch manchmal ein Argumentationsschritt zu fehlen scheint, wie etwa in folgender Zuspitzung: „Wer die Unbill der Natur klaglos erträgt und seine Züchtigung gelassen hinnimmt, drückt seinem Peiniger auch die Legitimation zum Pogrom in die Hand.“

Insgesamt liegt mit der von Robert und Günther herausgegebenen Festschrift eine facettenreiche Ehrerbietung an Wolfgang Riedel und sein literatur- und kulturwissenschaftliches Werk vor.

Titelbild

Friederike Felicitas Günther: Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel.
Herausgegeben von Jörg Robert.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
541 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783826049156

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