„Thomas Manns Geisterbaron“

Manfred Dierks Studie über den Münchner Arzt und Okkultisten Albert von Schrenck-Notzing

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schlimm genug, dass Thomas Mann gegen Ende des „Zauberbergs“ ein waschechtes Gespenst beschwört. Aber musste er dem Geist von Hans Castorps Vetter auch noch diese „sonderbare Kopfbedeckung“ verpassen? „Sie sah aus, als hätte Joachim sich ein Feldgeschirr, einen Kochtopf aufs Haupt gestülpt“. Handelt es sich dabei um einen bizarren Hinweis auf den im Roman nahenden Kriegsausbruch?

Wohl auch, aber eben nicht nur. Denn wie der Germanist Manfred Dierks zeigt, ist der „landsknechtartige“ Topf zugleich eine Anspielung auf eine Besonderheit vieler „Phantome“. Diese angeblich von einem Medium im Rahmen einer Séance erzeugten Materialisationen in Menschengestalt kannte Thomas Mann aus den Büchern des Münchner Okkultisten und Freiherren Albert von Schrenck-Notzing. Meist trugen diese Phantome solche helmartigen Kopfbedeckungen. Schrenck-Notzing zufolge bestanden Helm und Phantom aus „Ektoplasma“, seelischer Materie des Mediums – für Skeptiker dagegen aus billigem Silberpapier, das über Ähnlichkeiten zwischen dem Medium und seinem „Phantom“ hinwegtäuschen sollte.

Zwar hatte auch Thomas Mann sein „Zauberberg“-Kapitel mit „Fragwürdigstes“ überschrieben. Doch war der Autor von der Echtheit parapsychologischer Phänomene überzeugt, wie Dierks in seiner Studie über den seinerzeit prominenten Münchner Okkultisten Schrenck-Notzing betont. 1922/23 hatte Thomas Mann gleich an drei Sitzungen teilgenommen, die der Baron in seinem Münchner Palais veranstaltete. Um dann mit „Erschütterung“ – laut Dierks ein Mann’sches Codewort für sexuelle Erregung – zu erleben, wie im Dunkeln Taschentücher zu schweben begannen und sich aus dem Nichts ein klauenartiges Greiforgan materialisierte. „Jeder Gedanke an Betrug“ erschien Thomas Mann absurd, wie er nicht nur dem Baron bescheinigte, sondern bald darauf auch einem erstaunten Publikum in seinem Erfolgsvortrag „Okkulte Erlebnisse“.

Schrenck-Notzing konnte in den 1920er-Jahren einen so prominenten Fürsprecher wohl gut gebrauchen, so ramponiert war inzwischen sein wissenschaftlicher Ruf. Das „Zauberberg“-Kapitel dürfte er dennoch missbilligt haben, vermutet Dierks: Denn gerade Geisterbeschwörungen galten dem Baron als blanker Spiritismus, sprich Humbug, die Materialisationen seiner Medien dagegen waren eine vielfach bezeugte Tatsache, die es zu erforschen galt. Streng wissenschaftlich, versteht sich.

Dass sich Dierks auch da nicht vorschnell über „Thomas Manns Geisterbaron“ lustig macht, wo Schrenck-Notzing zum Opfer seiner pseudowissenschaftlichen Fantasmen wurde, macht seine kenntnisreiche und mit dem Einfühlungsvermögen und Rüstzeug eines Romanciers geschriebene Darstellung sympathisch. Zumal Schrenck-Notzing vor seiner okkultistischen Wende ein Pionier der Sexualwissenschaft war und sich um 1890 auf Augenhöhe mit Sigmund Freud bewegte, wie Dierks zeigt.

Sechs Jahre zuvor hatte der 1862 bei Oldenburg geborene Adlige, damals noch Medizinstudent, sein Talent für die Hypnose entdeckt. Diese fing gerade an, von einer Jahrmarktsattraktion zu einem möglichen Instrument in der Medizin aufzusteigen; in Frankreich begann der Siegeszug der „Schule von Nancy“, die mittels Suggestion Fälle von Hysterie behandelte. Dierks, immer auch mit Blick für die karrieretechnischen Motivationen seiner Akteure, schildert, wie sich eine lose Gruppe junger Mediziner – in Berlin Max Dessoir und Albert Moll, in Wien Freud und in München Schrenck-Notzing – daran machte, ein neues Wissenschaftsparadigma zu begründen.

Auch Schrenck-Notzing behandelte zunächst Hysterikerinnen, ehe er sich auf ein andere „Krankheit“ spezialisierte: die Homosexualität. Erst suggerierte er seinen männlichen Patienten eine „gesunde“ Sexualität, um sie dann zur praktischen Einübung derselben ins nächstgelegene Bordell zu schicken. Das alles nicht ohne einigen Erfolg, einige seiner Patienten sollen sogar geheiratet haben. Dierks attestiert dem Baron, als Therapeut bereits Grundsätze der erst später entwickelten Verhaltens- und Lernpsychologie angewandt zu haben. Und ähnlich wie die zeitgleich entstehende Psychoanalyse Sigmund Freuds ging Schrenck-Notzing von einer in der Kindheit durch traumatische Erlebnisse erworbenen Homosexualität aus.

Während sich aber Freud dem Unbewussten zuwandte, faszinierten Schrenck-Notzing andere, damals genauso ernsthaft diskutierte Phänomene: darunter Gedankenübertragung oder das Absondern von „Ektoplasma“ aus der Mundhöhle. Einer Zeit, die gerade erst Röntgenstrahlen entdeckt hatte, galten eben auch andere unsichtbare Kräfte als möglich – und Schrenck-Notzing machte sich daran, diese ebenso wissenschaftlich wie publikumswirksam zu erforschen.

Wobei Dierks den Baron vom Vorwurf der Naivität freispricht. Immer aufwändiger wurden die Kontrollmaßnahmen, um Betrug zu verhindern; Körperöffnungen wurden inspiziert, die Medien in Ganzkörpertrikots gezwängt. Das Problem war eher Schrenck-Notzings Selbstimmunisierung: Wer überzeugt war, dass alle Medien ab und an betrogen – weil sie erschöpft waren, aber ihr Publikum nicht enttäuschen wollten –, für den war ein entdeckter Betrug eher ein Ausweis von Professionalität – und keine Widerlegung der Theorie. Seine größte Demütigung als Wissenschaftler erlebte Schrenck-Notzing (vermutlich) nicht mehr: Nach seinem Tod 1929 meldeten zahlreiche Spiritisten, ihnen sei der berühmte Okkultist erschienen.

Titelbild

Manfred Dierks: Thomas Manns Geisterbaron. Leben und Werk des Freiherrn Albert von Schrenck-Notzing.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2012.
368 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783898068116

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