Eintauchen in Lebensgeschichten

Über Jürgen Beckers Prosasammlung „Wie es weiterging“

Von Judith BergesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Berges

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zweitveröffentlichungen von Texten haben einen schlechten Ruf, manchmal zu Unrecht. Jürgen Beckers Zusammenstellung von Auszügen aus seinen Werken, chronologisch angeordnet von 1964 bis 2009 und mit einem Nachwort des Autors, ist ein Fall von gelungener Zweitverwertung. Es ist faszinierend, von Text zu Text der Entwicklung seines Schreibens zu folgen, auf Neues zu stoßen und dann Anderes wiederzuerkennen. „Das Schreiben fortzusetzen hieß stets, das Schreiben neu anzufangen“, schreibt Becker im Nachwort.

Dieses Abbrechen und neu Ansetzen ist manchmal abrupt, und es findet sich nicht nur zwischen den Texten, sondern, milder, auch in ihnen. Deshalb ist Jürgen Beckers Werk außerordentlich geeignet für diese Art der Neuauflage. Das Abrupte, Sprunghafte wirkt nicht unmotiviert, sondern gehört zur Lebendigkeit des Textes. Es wird aufgefangen von der Klammer eines Zusammenhangs, der, so Becker im Nachwort, „aus der Person des Autors kommt, seinen Erfahrungsbereichen, dem Gedächtnisraum seiner Biografie“.

Auch ohne solche ausdrückliche Zusatzinformation vermittelt sich dem Leser dieser Zusammenhang und verstärkt den Eindruck des Eintauchens in Lebens-Geschichten im buchstäblichen Sinne. Reisen an Orte und zu Erlebnissen, die zurückliegen in der Zeit, aber durchaus unabgeschlossen, unverschlossen sind, da das Erzählen, wo es in der einen Weise abbricht, in der anderen weitergeht. Diese Textstücke verdanken ihre Offenheit auch der Genauigkeit von Beckers Sprache, der Kleinteiligkeit seiner Betrachtungen, als wäre die Sprache ein kleines Wesen, das zu Fuß unterwegs ist und über kaum etwas hinweg geht, dicht an allem vorbeikommt, was auf seinem Weg liegt, und es betastet und betrachtet.

Umso überraschender, wenn das Sprachwesen dann doch in aller Selbstverständlichkeit über große Entfernungen hinweg versetzt wird, nach New York, nach Miami, zurück nach Europa. Was ging vor? Was haben wir getan? Was haben wir uns dabei gedacht? Jürgen Becker erforscht nicht nur die ihm begegnende Außenwelt sehr genau, er berichtet auch kontinuierlich vom Schauplatz der inneren Ereignisse, fragt, beschreibt, erinnert. „Felder“ bietet dichte Beschreibung unübersichtlicher Augenblicke, „Umgebungen“ oder „Erzählen bis Ostende“ berichten sozusagen von den Rahmenbedingungen (Küchenmöbel, Reisen, Wohnen, Beruf, Beziehungen). In der Erzählung „Aus der Geschichte der Trennungen“ bettet Jürgen Becker die eigene Biografie erzählend in die deutsche Geschichte ein. Das alles fügt sich zusammen zu einem umfassenden Bild unserer Gegenwart und jüngsten Vergangenheit. Sehr schön ist es, den ersten Text neben den letzten zu stellen, „Felder“ von 1964 neben „Im Radio das Meer“ von 2009. Im ersten jagen sich die Worte und Kommata durch endlose Sätze über ganze Seiten hinweg. Im letzten stehen schlichte, knappe Betrachtungen, Bemerkungen eher, Absatz für Absatz allein, ohne Verbindung zum vorhergehenden oder zum folgenden. Bei einigen handelt es sich nicht einmal um vollständige Sätze, sie wirken wie Hinweise auf etwas, dessen Sinn noch zu erkennen wäre: „Einzelne Fotos, die aus dem Fotoalbum entfernt worden sind.“

Manche sind verspielt, andere rätselhaft. Einige sind für die Herstellung historischer Bezüge offen: „Man sah sie nie, die Züge hinter den Wäldern.“ In ihrer Offenheit nehmen diese Betrachtungen die zwei allerersten Wörter des Buches wieder auf: „wie weiter…“. Ja, wie weiter? Das weiß man noch nicht. Da muss man schon selber hingehen. „Vorbeigehende könnten es sehen, aber sie sehen es auch nicht.“ Jetzt schon.

Titelbild

Jürgen Becker: Wie es weiterging. Ein Durchgang - Prosa aus fünf Jahrzehnten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
294 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423059

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