Umbruchssituation in Europa

Über den von Bernhard Zeller und Walter Pohl herausgegebenen Band „Sprache und Identität im Frühen Mittelalter“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach der Identität beziehunsgsweise Identitätsbildung sowohl ethnischer als auch kultureller Gruppen und den daraus resultierenden institutionalisierten Abstrakta ist auch und gerade heutzutage aktueller, als es vielleicht noch um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts schien. Bedingt durch die seit dem Wegfall der beiden Blöcke ausgelöste Umbruchphase erscheinen gegenwärtig viele vermeintliche Sicherheiten zur Disposition gestellt. Eine ähnliche Umbruchsituation in Europa ergab sich in der Völkerwanderungszeit bzw. dem frühen Mittelalter und genau hiermit beschäftigt sich die vorliegende Publikation, die ein Ergebnisband der im Januar 2009 in Wien veranstalteten Tagung „Sprache und Identität“ ist.

Auf den über 300 Seiten werden im vorliegenden Band die sprachlichen Aspekte der Identitätsbildung und -findung thematisiert – und dabei zum Teil beeindruckende, manchmal auch etwas skurril daherkommende Ansätze aufgetan. Lesenswert ist allein schon die Einleitung Walter Pohls, dessen Verdienste für die Völkerwanderungszeit- und Frühmittelalterforschung allseits bekannt sein dürften. Bemerkenswert ist hier, dass der Text Pohls deutlich über die Einleitungstexte ‚üblicher‘ Provenienz hinausweist, in denen zumeist über den Anlass der Tagung informiert und einzelne thematische Schwerpunkte aufgezählt werden. Hier liegt der Fall insofern anders, als Walter Pohl den einzelnen spezifizierenden Beiträgen einen gewissermaßen eigenständigen Grundlagentext voranstellt, in dem differenziert Forschungs-Schwerpunkte aufgezeigt werden, und der auch als eigenständiger Aufsatz außerhalb dieses Sammelbandes stehen könnte.

Einen weiteren wesentlichen und grundlegenden Beitrag stellt der von Wolfgang Haubrichs beigesteuerte Text zur „Differenz und Identität“ dar, der in größerem Rahmen Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede der germanischen Gentes der Völkerwanderungszeit thematisiert. Anhand der idiomatischen Großgruppen der Germania, die sich von den niederrheinischen Franken bis hin zu den italischen Langobarden erstreckt, werden sowohl binnen- wie butengermanische Aspekte angseprochen.

In ähnlicher Tendenz liegt der Beitrag Herwig Wolframs „Sprache und Identität im Frühmittelalter mit Grenzüberschreitungen“. Hier wird sowohl das Verbindende als auch das Trennende einiger germanischer Sprachen deutlich gemacht und damit – anhand etwa der nicht immer vorhandenen Kongruenz von Sprache und jeweiligem germanischem Volk – auch die Frage der Eigen- und Fremdsicht in den Blick genommen. Ein interessantes Unterkapitel, das dann auch die Frage des Identitätenwechsels berührt, ist der Frage nach „Mehrsprachigkeit und Sprachenwechsel“ gewidmet.

Der Frage nach Identitätsfindung und -stiftung durch Sprache geht Werner Goetz in seinem Beitrag „Lingua. Indizien und Grenzen einer Identität durch Sprache im frühen Mittelalter“ nach. Anhand entsprechender korrespondierender Phänomene im Frühmittelalter beziehungsweise auch bereits der Völkerwanderungszeit vermag Goetz deutlich zu machen, dass es die in der älteren Forschung seit Grimm oft postulierte durch die Sprache geprägte Eindeutigkeit einer Identität und es daraus folgenden Selbst- wie Fremdbildes so absolut nicht gegeben hat, wenngleich natürlich auch Sprache ein Merkmal eben dieser Identitäten gewesen war.

Waren die eben erwähnten Aufsätze eher grundlegenden Phänomenen gewidmet, ist die Mehrheit der weiteren Beiträge dieses Tagungsbandes deutlich spezieller ausgerichtet – und damit womöglich für einen breiteren, eher an grundsätzlichen Fragen zum Thema interessierten Kreis nicht immer so interessant. Aus der Feingliederung ‚Spezialthemen‘ fallen allerdings der Beitrag des Wiener Germanisten und Keltologen Helmut Birkhan, der sich mit der auch heute noch – sogar oder womöglich besonders in allgemein interessierten Kreisen der ‚Fans‘ von Mittelalter und Kelten – interessanten Frage nach mittelalterlichen und frühneuzeitlichen „Theorien zur Ausgliederung der Kelten und ihrer Sprachen auf den Britischen Inseln nebst einem Ausblick auf die Neue Welt“ beschäftigt sowie „Sprache und Identität“ von Uta Goerlitz sowie – gewissermaßen als abschließender Klammer zu verstehen – Daniela Frusciones Beitrag „Zur Frage der germanischen Identität und Sprache“, der sich vor allen Dingen auf mittelalterliche (Geschichts-)Quellen bezieht und somit einen gewissermaßen ‚zeitgenössischen‘ Blick auf das Generalthema „Sprache und Identität im Frühen Mittelalter“ ermöglichen hilft.

Die anderen Beiträge sind mehr oder minder spezifischen Themenbereichen vorbehalten. So behandelt Patrick J. Geary unter dem ein wenig extravaganten Titel „Huz, Huz: Did the devil speak German?“ unter anderem Fragen der Übersetzungspraxis in den Biografien des frühen Mittelalters. Übrigens beantwortet – das ist vom Spannungsaufbau her gesehen sicherlich nicht so ganz geschickt – Geary seine Untertitel-Frage gleich im ersten Satz mit einem kategorischen ‚nein‘. Weniger spekulativ – zumindest vom Titel her gesehen – thematisiert Ian. N. Wood „Ethnicity and Language in medieval and modern versions of the Attalus-saga“. Der Frage „Wer waren die Langobarden im Edictus Rothari?“ geht Jörg Jarnut nach, während sich Roger Wright den „Linguistic and Ethnic Identities in the Iberian Peninsula (400-1000 A. D.) widmet. Wir sind hier ebenso mit einem eher zeitlich-geografischen spezialisierten Ansatz konfrontiert, wie das auch für das von Michel Banniard thematisierte Feld der Hochsprache und kulturellen Identität im karolingischen Frankenreich (Acrolecte et identité culturelle en Francia carolinigenne) gilt.

Dem eher gelehrten Kreis kulturell hochstehender Exponenten der frühmittelalterlichen Gesellschaften widmet sich eine weitere Gruppe von Teilnehmenden. Einen höchst interessanten Blick auf die Praxis und damit verbundene Verschriftlichung vor allem von ‚Randsprachen‘ wirft der leider inzwischen verstorbene Michael Richter, indem grundsätzlich die klassischen Alphabetsysteme (unter Einbeziehung des Kyrillischen) mit anderen Systemen (etwa Runen oder Ogam-Schrift) vergliechen werden sollten. Im vorliegenden Aufsatz („Die Zwangsjacke des lateinischen Alphabets“) wird dies allerdings nur kurz angerissen, konkret setzt Richter auf interessante Weise das lateinische ABC mit der slavischen Glagolica in Beziehung. In diesem Unteraspekt sind die Beiträge von Anton Scharer – „Die Bedeutung der Sprache in Bedas Historia ecclesiastica gentis Anglorum“ – sowie Kurt Smolak – „‚Hisperische Wörter‘: Die einer Gelehrtengesellschaft im Frühmittelalter“ – konkret den Fragen einer ‚akademischen‘, frühmittelalterlichen Kultur gewidmet.

In den direkter auf einzelne Ethnien konzentrierten Bereich fällt der bereits erwähnte Beitrag Helmut Birkhans, aber selbstverständlich werden auch andere frühmittelalterliche Völker thematisiert. Einer höchst interessante Frage, der nach einer völkerwanderungszeitlich-frühmittelalterlichen alemannischen Identität, geht Dieter Geuenich in seinem Beitrag („Die Sprache und die Namen der frühen Alemannen als Indizien eines alemannischen Gemeinschaftsbewußtseins“) nach, wobei er zu einem eher ernüchternden Ergebnis gelangt. Peter Štih befasst sich in seinem Aufsatz „Slowenisch, Alpenslawisch oder Slawisch zwischen Donau und Adria im Frühmittelalter“ mit den Fragen der slavischen Einwanderung und Ethnogenese in Südosteuropa. Geografisch in ähnliche Richtung weist Giuseppe Albertoni („Tam Teutisci quam et Langobardi:Sprache und Identität im frühmittelalterlichen Alpenraum am Beispiel von Trient“), während Fritz Lošek die Definition „Freunde, Feinde, Fremde“ anhand der Angaben in der ‚Vita Severini‘ angeht.

Ein prominentes Beispiel zur eigenen und Fremdsicht wird von Christian Rohr herangezogen. Unter dem Titel „Wie aus Barbaren Römer gemacht werden – das Beispiel Theoderich. Zur politischen Funktion der lateinischen Hochsprache bei Ennodius und Cassiodaor“ werden sprachliche beziehungsweise historisch-politische Tendenzen im italischen Kontext der Völkerwanderungszei thematisiert. In den Bereich des ausgehenden frühen Mittelalters weist Corinna Bottiglieri mit ihren Beobachtungen zu Ethnonym und Identität der Normannen („Etnonimi e senso di identità nella ‚Storia die Normanni‘ di Amato di Montecassino alcune osservazioni“)

Der vorliegende Band 20 der „Forschungen zur Geschichte des Mittelalters“ ist also höchst abwechslungsreich und – im wissenschaftlich-seriösen Sinne – unterhaltsam. Vermutlich werden die eher grundsätzlich gehaltenen Beiträge als erste ihr Zielpublikum – gerade im Bereich der Studierenden – finden, da sich von diesen aus doch eher Brücken und Verbindungswege schlagen beziehungsweise finden lassen, als das bei den meisten der spezialisierten Betrachtungen der Fall ist. Aber auch diese sollen potentiellen Leserinnen und Lesern ans Herz gelegt sein. Mit jedem erneuten Zur-Hand-Nehmen ergeben sich Möglichkeiten und Verknüpfungen, die womöglich beim ersten Lesen gar nicht aufgefallen sind, und die es ermöglichen, eigen Fragestellungen zu verknüpfen und zu verfolgen. Auch der über dreißig Seiten umfassende bibliografische Anhang soll an dieser Stelle lobend hervorgehoben werden. Mit dieser Bibliografie ist durchaus eine gewisse ‚Grundversorgung‘ an wissenschaftlicher Literatur gewährleistet, die den entsprechenden Ambitionen nur förderlich sein kann.

Titelbild

Walter Pohl / Bernhard Zeller (Hg.): Sprache und Identität im Frühen Mittelalter.
Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2012.
302 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783700170068

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