Aufklärerischer Antimodernismus

Gilbert Keith Chestertons „Orthodoxie“ erfrischt und erfreut unorthodoxe Gemüter

Von Ursula SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren ist in den Feuilletons von einer Chesterton-Renaissance die Rede. Hans Magnus Enzensberger hatte den Anstoß gegeben, indem er in seiner „Anderen Bibliothek“ zunächst „Ketzer“ und kurz danach, 2000, „Orthodoxie“ in einer Neuübersetzung herausgab. Dieses Buch bringt nun der Fe-Medienverlag, der üblicherweise ein traditionalistisch-katholisches Publikum bedient, als Nachdruck wieder auf den Markt. Martin Mosebachs Einleitung von damals ist auch mit abgedruckt.

Der Engländer Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) war eben nicht nur der Autor von Kriminalgeschichten („Pater Brown“), sondern auch ein hochaufgeklärter Geist, der in der Umbruchszeit „um 1900“ journalistisch und essayistisch seine kritisch-rebellische Stimme erhob. 1922, vierzehn Jahre nach Erscheinen von „Orthodoxie“, wandte sich der Anglikaner Chesterton, der aus unitarischem Elternhaus stammte und als junger Mann Agnostiker war, formell der katholischen Kirche zu.

Was ist Sinn und Zweck von Chestertons „Orthodoxie“? Er selbst führt an, sich von der Kritik an seinem Buch „Ketzer“ (1905) dazu gedrängt gefühlt zu haben, seine religiöse Position offenzulegen. Dennoch wehrt sich Chesterton dagegen, die hier zu besprechende Schrift als eine klassische Apologie verstanden zu wissen; schließlich war Chesterton kein Theologe, sondern ein – dies allerdings brillant – schriftstellernder Laie. So gesehen, schwingt wohl auch ein wenig ironisches Understatement mit, wenn er sein Werk als eine „Art nachlässig hingeworfene Autobiographie“ apostrophiert. „Ich strebte danach“, schreibt er, „eine Ketzerei zu finden, die mir paßt, und kaum hatte ich ihr den letzten Schliff gegeben, mußte ich feststellen, daß es die Orthodoxie war.“

Wenn Chesterton die alte Rechtgläubigkeit verteidigt, so tut er das weniger im Modus dogmatischer Rechthaberei als vielmehr in einer ideologiekritisch-satirischen Manier, welche die Widersprüche der modernistischen Dogmen seiner Zeit (Evolutionismus, Liberalismus, Materialismus, Rationalismus und Wissenschaftsgläubigkeit) auf ihre geistige Substanz hin befragt und befindet, dass sie ihren eigenen, damals weitgehend widerspruchsfrei postulierten Ansprüchen und Versprechungen von Freiheit, Gleichheit und Fortschritt, bei aufklärerischem Lichte besehen, nicht genügen. „Die ganze moderne Welt führt Krieg gegen den Verstand“, bemerkt er.

Chesterton verficht die Ansicht – und darin ist er sich mit beispielsweise Karl Marx einig –, dass die bürgerlichen Hauptideologeme im Widerspruch stehen zur wirklichen Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft. Dem, was die Propaganda des Liberalismus als „Freiheit“ verkaufen will, korrespondiert in der Wirklichkeit Unterdrückung und Unfreiheit. Der Materialismus hält sich für aufgeklärt, sieht aber nicht, dass er selbst eine – erkenntnistheoretisch – ungeklärte Ontologie instituiert, die mindestens so metaphysisch grundiert ist wie der ihm opponierende Spiritualismus.

Ein wesentliches Argumentationsmoment Chestertons betrifft die seinerzeit virulente Forderung nach Demokratie. Gerade wer, so wirft er ein, demokratisch, also unhierarchisch in puncto Glaubens- und Wahrheitskompetenz denkt, wird dem Oktroi der Eliten nicht gehorchen, die den Wissensbestand von Generationen für obsolet erklären möchten. So ist es für ihn als eingefleischten Radikaldemokraten nichts als eine Selbstverständlichkeit, ebenso wie die „abergläubischen“ Vorfahren und das „einfache Volk“ an Wunder glauben und den Universalitätsanspruch des herrschenden Rationalismus bestreiten zu dürfen. Freiheit muss auch die Freiheit sein, sich (an die „rechtgläubige“ Tradition) binden zu können. Und so kann er sagen: „Erst seit ich weiß, was Orthodoxie ist, weiß ich, was geistige Befreiung ist.“

War Chesterton ein religiöser Fundamentalist? Mit Sicherheit nicht. Er sah und bekannte mit seinem Blick auf Christus am Kreuz und auf dessen einsame Verzweiflung, dass das Christentum die einzige Religion ist, „in der Gott eine Sekunde lang Atheist zu sein schien“. In dieser Verzweiflung des Gottes- und Menschensohnes erkennt Chesterton eine subversive Kraft, die tiefer gegründet ist als konkurrierende Empörungsimpulse. Das „Hauptverdienst“ der Orthodoxie liegt für Chesterton darin, „daß sie den natürlichen Springquell von Revolution und Reform bildet“.

Und während sämtliche in der Moderne generierten und die Moderne generierenden Ideen auf normierende Glättung von Widersprüchen aus sind, insistiert Chesterton auf die Sprengkraft der christlichen Tradition, in deren Schutzmauern er die Freiheit lebendig florieren sieht, welche vom atheistischen Materialismus wohl lauthals propagiert, jedoch tatsächlich in den Kerker des erbarmungslosen Determinismus gesperrt wird. Also preist er die anthropologische Offenheit, will sagen: die einsichtige Duldsamkeit des alten christlichen Dogmas, das die Tatsache der unaufhebbaren Widersprüchlichkeiten der Conditio humana und der ererbten Gebrechlichkeit des Menschen längst mit beispielloser Liberalität in sich aufgenommen hat. Dass, wer die Ideale der Modernität ehren möchte, das Aufklärungs- und Befreiungspotential der Tradition konservieren sollte, ist eines der Paradoxe, wenn nicht das Kardinalparadox Chestertons.

Chesterton war jemand, der gern lachte, erst recht über seine eigenen Witze. Kafka meinte: „Er ist so lustig, daß man fast glauben möchte, er habe Gott gefunden.“ Mit Freude kreuzte der Autor von „Orthodoxie“ mit seinen Gegnern auf offener Bühne die Klinge und füllte mit solchen intellektuellen Schaukämpfen große Säle. Einer seiner Lieblingsgegner war sein Freund George Bernard Shaw, den er, wie auch die anderen Zielscheiben seiner Attackierlust, nach der Veranstaltung gern zu einer spirituellen und spirituosenreichen Nachsitzung ins nächste Lokal einlud. Chesterton war ein notorischer Raucher; wie übrigens auch Hannah Arendt, die ihn einmal „einen der klügsten Geister Europas“ nannte.

Titelbild

Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen.
Fe-Medienverlag, Kißlegg 2011.
304 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783863570187

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