Pflichtlektüre

Eine neue funktional-pragmatische Grammatik stellt vor, was Lehrende und Lernende über Sprache wissen sollten

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich an die Lektüre der 592 Seiten füllenden „Deutschen Grammatik“ des Dortmunder Sprachwissenschaftlers Ludger Hoffmann macht, nimmt ein in vielerlei Hinsicht gewichtiges Buch in Augenschein. Dies lässt in Verbindung mit dem Untertitel „Grundlagen für Lehrerausbildung, Schule, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache“ an ein neues Standardwerk für Schule, Erwachsenenbildung und Sprachvermittlung denken. Als Ergebnis jahrzehntelanger Forschungs- und Praxiserfahrungen stellt der Verfasser grammatische Phänomene in ihrer funktionalen Sachlogik dar und präsentiert sie in einer didaktischen Progression. Dadurch soll den Prinzipien der Anwendungs- und Lernerorientierung entsprochen werden, die sich bereits im Untertitel andeuten.

Wer eine konventionell aufgebaute Grammatik, die der klassischen Ordnung von Wort, Wortarten, Satz, Satztypen, Äußerungsmodus und so weiter folgt, erwartet, wird irritiert sein, dass Hoffmann die kommunikative Funktion zum Leitaspekt des methodischen Vorgehens und sprachlichen Ordnungsprinzips erhebt. Aus pragmatischer Sicht besitzt jede Sprache zwei große Quellen, aus denen sie ihre kommunikative Gestaltungsvielfalt schöpft: den Wortschatz und die Grammatik. Beide Bereiche spielen im menschlichen Spracherwerb eine große Rolle und werden von Hoffmann explizit verknüpft, indem er an vielen Stellen auch kontrastiv arbeitet. Die größte Minderheitssprache in Deutschland, das Türkische, dient als Referenzpunkt vieler Ausführungen und erhöht den Gebrauchswert dieser Grammatik für die Arbeit im Kontext von Deutsch als Fremd- beziehungsweise Zweitsprache.

Dazu ist der voluminöse Band in neun umfangreiche Kapitel gegliedert, die jeweils eine stringente Binnengliederung aufweisen. Im knappen Einleitungskapitel referiert er die funktionalen und didaktischen Prinzipien seiner Darstellung. Ausgangsgehend von der Beobachtung, dass der momentane (schulische wie universitäre) Grammatikunterricht in der Krise steckt, intendiert er sowohl eine Renaissance von grammatischem Handlungswissen als auch von didaktischer Vermittlungskompetenz. Innovativ wirkt sein Ansatz, statt eines neuen methodischen Paradigmas für didaktische Pfade als Strukturprinzip zu plädieren: „Prinzip ist immer, von funktional eigenständigen Formen auszugehen und ihre Funktionsweise zu erklären. […] Dann folgt das Ausgliedern der für den Aufbau der Einheit wichtigen Formen. […] Vom funktionalen Ausgang führt der Weg in die Bestimmung der Formen, in denen sich die Funktionen manifestieren.“

In den folgenden Kapiteln lässt der Autor an keiner Stelle den Fokus auf die schulische Situation aus den Augen. Dies ist sicherlich die große Stärke der neuen Grammatik, die mit einer Vielzahl an Beispielen und Zusammenhängen operiert. Bereits das Kapitel „Grundbegriffe der grammatischen Untersuchung: Funktionen und Formen“ legt die Basis für das weitere Beschreiten des grammatischen Pfades: Grundlegende Beschreibungskonzepte, wie beispielsweise die Differenzierung von Handlung, Äußerung und Äußerungsmodus oder die differenzierte Betrachtung von Wort, Wortgruppe und Satz, stehen im Zentrum der Darstellung.

Das dritte Kapitel der „Deutschen Grammatik“ beleuchtet unter der Überschrift „Redegegenstände formulieren“, wie im Deutschen Redegegenstände eingeführt, präsentiert, thematisch fortgeführt und durch Zusatzinformationen ergänzt werden.

Im folgenden Kapitel „Gedanken formulieren“ zeigt Hoffmann sehr differenziert die sprachlichen Kategorien Verb, Modalverb, Verbkomplex, Verbgruppe, Tempus, Modus, Genus sowie Prädikativ, Objekt, Adverbial und Valenz auf. Im Zentrum steht das Leistungsspektrum des Verbs. Dabei geht es um „Formen, in denen wir Ereignisse und Zustände charakterisieren und Redegegenstände einbeziehen.“

Das fünfte Kapitel ist konsequenterweise dem „Ausbau von Gedanken“ gewidmet. Darunter subsumiert der Sprachwissenschaftler deiktische, operative und symbolische Perspektiven, die „Gedanken mit Adverbialen, Adverbialsätzen und Präpositionalgruppen“ spezifizieren. Überzeugend ist Hoffmanns didaktische Differenzierung zwischen dem elementaren Spracherwerbsprozess in der Grundschule und der komplexeren Betrachtungsweise in der Sekundarstufe, besonders im Umgang mit Partikeln und Präpositionen.

„Gedanken verknüpfen und erweitern“ durch den funktionalen Gebrauch von Konjunktoren und die diversen Mittel der Koordination thematisiert das sechste Kapitel. Explizit in diesem Rahmen zeigt der Autor den besonderen Fokus dieser Grammatik, wenn er betont: „Für das Leseverstehen und Deutsch als Zweit- und Fremdsprache sind Verknüpfungsmittel und ihre Bedeutung ein erstrangiges Thema, denn es sollen ja Zugänge zu Fachtexten angebahnt werden.“

Operative, lenkende und symbolische Prozeduren werden im Kapitel „Abfolge und Kommunikative Gewichtung“ behandelt, wichtigen Mitteln für die Wissensverarbeitung, damit der Kommunikationspartner das Wesentliche der Nachricht erkennen kann. Wortstellung, Wortakzent beziehungsweise die Abfolge in der Nominalgruppe sowie im Satz werden differenziert und beispielgestützt analysiert.

Mit den sprachlichen Handlungen und Handlungsmustern sowie Illokutionen befasst sich das achte Kapitel „Zweckbereiche des Handelns und Äußerungsmodi“. Es beruht in seinen theoretischen Prämissen im Wesentlichen auf der Sprechakttheorie von Searle sowie der funktionalen Pragmatik von Rehbein und Ehlich. Zentral ist der Zusammenhang von sprachlichen Mitteln und sprachlichen Handlungen, welche eine Zweckorientierung in konkreten Gesprächen und Texten unterstellt. Die Adressatengruppe der Lehrkräfte wird in diesem Kapitel durch schulisch relevante Handlungsmuster wie zum Beispiel Erzählen, Beschreiben und Erklären berücksichtigt.

Abgerundet wird der Band durch einen umfangreichen Serviceteil, der einerseits den didaktischen Mehrwert erhöht, indem die verschiedenen sprachwissenschaftlichen Proben und Tests zusammenhängend und durchaus kritisch expliziert werden. Andererseits enthält dieser Abschnitt fundamentale Informationen zum Türkischen sowie die Analyse von möglichen Problemfeldern, die sich aus den sprachlichen Differenzen im Rahmen der Spracherlernung ergeben.

Insgesamt hat der Dortmunder Sprachwissenschaftler eine beachtliche pragmatisch-funktionale Grammatik vorgelegt, die nicht zuletzt wegen ihres erschwinglichen Preises und der profunden Sachkenntnis des Verfassers das Potenzial zum Standardwerk hat. Durch den klaren und übersichtlichen Aufbau, das ansprechende und leserfreundliche Layout sowie den souveränen Umgang mit dem komplexen Sprachmaterial wird der Band sowohl für Germanistik- und DaF-/DaZ-Studierende als auch für Lehrkräfte in den kommenden Jahren zur Pflichtlektüre zählen.

Titelbild

Ludger Hoffmann: Deutsche Grammatik. Grundlagen für Lehrerausbildung, Schule, Deutsch als Zweitsprache und Deutsch als Fremdsprache.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2012.
592 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783503137343

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