Von der Kulturalität des Auges

Eine Einführung in ein komplexes Forschungsfeld von Marius Rimmele und Bernd Stiegler

Von Barbara MariacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Mariacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die oft zitierte Omnipräsenz des Bildes in der gegenwärtigen Kultur spiegelt sich in einem breiten Spektrum theoretischer Auseinandersetzungen unterschiedlicher Disziplinen, dessen Beschreibung sich die von Bernd Stiegler und Marius Rimmele im Junius-Verlag vorliegende Einführung zum Ziel gesetzt hat. Es ist ein handliches Buch, das jedem kulturwissenschaftlich interessierten Leser zu empfehlen ist: Zum einen, weil es die Vielzahl an theoretischen Fragestellungen und Zugängen zum Thema in einen organischen Überblick zu bringen vermag; zum anderen, weil es zu neuen Fragen und Antworten inspiriert. Beide Autoren sind Wissenschaftler der Universität Konstanz und bereits mit zahlreichen Publikationen zum Thema hervorgetreten. Marius Rimmele arbeitet als Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg der Konstanzer Universität, Bernd Stiegler ist dort Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert im medialen Kontext.

Der im Titel des Buches verwendete Plural für die deutschsprachige Übersetzung des Begriffs Visual Culture ist symptomatisch: er verweist auf die kulturelle Konstruktion unserer visuellen Wahrnehmung. Die Verfasser stützen sich auf eine These Walter Benjamins, die dieser 1935 in seinem Essay über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ formuliert hat, – ein Aufsatz, der heute als Grundlagentext der Medienwissenschaften gilt. Benjamin zufolge – so die Autoren – ist Wahrnehmung kein „biologisches Faktum, sondern eine kulturelle Variable“, auf die der mediale Wandel seine mittelbaren und unmittelbaren Auswirkungen hat.

In neun Abschnitten werden unterschiedliche „Kulturen des Auges“ vorgestellt, wobei die Bandbreite vom historischen, dem postkolonialen über das konsumierende Auge bis hin zum wissenschaftlichen Auge reicht. Für Rimmele/Stiegler ist dabei die Darstellung der „Dynamiken, die dazu führen, dass Visuelles kulturell wird“, von besonderem Interesse. Zu diesen Dynamiken gehören „mediale, soziale, symbolische, erkenntnisstiftende und nicht zuletzt psychische Faktoren“, womit deutlich wird, dass der Visualitätsbegriff mehr umfasst als lediglich den Bereich der Bilder.

Auf subtile und häufig unbemerkte Weise ist Visualität mit Ideologien und mit Machtverhältnissen verknüpft. Diese ideologischen Dimensionen einer Kultur sind umso leichter zu erkennen, je größer die historische Distanz dazu ist, und umso schwerer, je mehr man selbst darin verwoben ist. Dies zeigt sich beispielsweise in Zusammenhang mit religiösen Ritualen, bei denen es vor allem darum geht, „mithilfe eines äußeren Sehens die ‚inneren Augen‘ der Seele richtig zu justieren“ zum Beispiel „auf Gott“.

Für unsere gegenwärtige Kultur scheinen vor allem jene Phänomene signifikant, die die Autoren unter der Überschrift des „beobachtenden Auges“ subsumieren. Dazu zählt das sogenannte CCTV, d. i. Close Circuit Television“, das – ursprünglich aus der Kriegstechnologie stammend als allgegenwärtiges Beobachtungsinstrument eingesetzt wird. Nicht nur George Orwells Vision eines Überwachungsstaates scheint damit in die Realität umgesetzt. Dem komplexen Verhältnis zwischen der Kamera als potentiellen Beobachter und dem Beobachteten eignet auch eine gesellschaftliche Selbstregulierungstendenz. Ziel ist es, die „Internalisierung der Machtverhältnisse, d. h. die Etablierung einer Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle als Habitus“ zu befördern.

Im „kritischen Hinterfragen von Machtverhältnissen und in dem damit verbundenen Anstoß zur Veränderung gesellschaftlicher Missstände“ sehen Rimmele und Stiegler den wesentlichen Unterschied zwischen den Visual Culture Studies im angloamerikanischen Raum und den Bildwissenschaften im deutschsprachigen Raum. Die so vorgenommene Unterscheidung scheint streckenweise etwas plakativ, zumal das kritische Hinterfragen von Machtverhältnissen sicher auch Bestandteil der deutschsprachigen Auseinandersetzung mit visuellen Kulturen ist, mit welchem Etikett auch immer sie verbunden wird.

Im Abschnitt über das mediale Auge werden die Unterschiede der Disziplin innerhalb der beiden Sprachräume am Beispiel zweier Vertreter der Bildtheorie weiter konkretisiert. Es handelt sich um den in Chicago wirkenden Kunsthistoriker und Anglisten W. J. T. Mitchell, der 1992 den Begriff des pictorial turn geprägt hat und um den in Basel lehrenden Kunsthistoriker und Philosophen Gottfried Böhm, von dem der Begriff des iconic turn (1994) stammt. Obwohl die beiden Bezeichnungen ähnlich anmuten, verbergen sich dahinter zwei entgegengesetzte Ausgangspunkte.

So versuchte W. T. J. Mitchell mit dem pictorial turn jene „theoretischen wie praktischen Hinwendungen (wie auch Abwendungen) zur Bildwelt […]“ zu erfassen, die es im Laufe der Geschichte immer wieder gegeben habe, wobei für ihn vor allem deren gesellschaftliche Funktion interessant ist. Text und Bild sind für Mitchell darüber hinaus keine klar voneinander abgrenzbaren Bereiche, sondern ineinander verschränkt. Gottfried Böhm hingegen geht bezüglich der Text-Bild Relation von zwei deutlich voneinander getrennten Welten aus und konstatiert für das Bild einen „‚genuin ikonischen Sinn‘, der nicht auf Sprache zurückzuführen ist, ja mit der Ordnung der Sprache inkommensurabel ist“.

Das Buch schließt mit einem interessanten Ausblick auf das Forschungsfeld der Visual Culture als wissenschaftliche Disziplin, in welchem unter anderem die Frage aufgeworfen wird, „warum das Fach in der deutschsprachigen akademischen Landschaft kaum institutionalisiert ist“. Mögliche Antworten sehen die Autoren zum einen darin, dass die seit knapp zwei Jahrzehnten existierenden Bildwissenschaften transdisziplinäre Fragen und Kooperationen stimulieren. Zum anderen fungiere die Medienwissenschaft in Deutschland als eine Art „Metadisziplin“, die die unterschiedlichsten Zugänge, begonnen bei der empirischen Medienforschung über Kommunikationswissenschaft und Technikgeschichte bis hin zu Fragen der Medienästhetik in sich vereine, wodurch es eines ähnlich eingerichteten institutionalisierten Fachs wie Visual Culture nicht bedürfe. Eine Auffassung, die vermutlich nicht unwidersprochen bleiben wird.

Titelbild

Bernd Stiegler / Marius Rimmele: Visuelle Kulturen. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2012.
186 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783885060604

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