Ich wünschte, du wärst ein Junge!

Die Autobiografie der Gründerin des US-amerikanischen Feminismus Elizabeth Cady Stanton liegt nach über 100 Jahren endlich auch auf Deutsch vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nature or nurture? Die Frage danach, ob die Biologie oder die genossene Erziehung einen Menschen prägen, ist ein alter Streitpunkt nicht nur zwischen der Soziobiologie und der Erziehungswissenschaft. Dass sich eine Autorin bereits im 19. Jahrhundert mit ihr befasste, mag da vielleicht nicht so sehr überraschen. Etwas mehr wohl schon, dass sie sich eindeutig auf Seiten letzterer schlug; vor allem aber, dass ihr zufolge selbst die biologische Entwicklung eines Kindes, genauer gesagt sein „körperliches Wachstum“, nicht nur von der Erziehung, sondern sogar von „Eindrücken, die sich durch flüchtige Ereignisse seinem Geist einprägen“, beeinflusst wird.

Elizabeth Cady Stanton (1815-1902), eine der bekanntesten amerikanischen Frauenrechtlerinnen des 19. Jahrhunderts, leitet ihre Autobiografie mit dieser Überlegung ein. Nun, weit mehr als 100 Jahre nach ihrem Tod, liegt der Text endlich auch auf Deutsch vor. Dies ist umso erfreulicher, als es zugleich ein – wenn auch recht subjektiver – Abriss der Entstehung und frühen Entwicklung der amerikanischen Frauenbewegung ist, mit der Stantons Leben stets aufs engste verknüpft war, gilt sie doch zu Recht als eine ihrer Gründerinnen und wichtigsten Persönlichkeiten der ersten Jahrzehnte. Denn sie war es, die 1848 das berühmte Gründungsdokument des amerikanischen Feminismus, die „Declaration of Sentiments“, verfasste und die Women’s Rights Convention in Seneca Falls organisierte, womit sie den Namen ihres bis dahin unbekannten Heimatstädtchens klangvoll machte und bis heute mit der Geburtsstunde der amerikanischen Feminismus verband. Sie selbst wurde zu einer der aktivsten und prominentesten Vertreterinnen der ersten Generation amerikanischer Frauenrechtlerinnen. Die Realisierung ihrer vielleicht wichtigsten Forderung, die bundesweite Einführung des Frauenwahlrechtes, sollte sie allerdings trotz des hohen Alters, das sie erreichte, nicht mehr erleben. Erst die kämpferischen Frauen um Alica Paul und Lucy Burns sollten es sich 1920 erobern.

Wie so viele AutobiografInnen beginnt auch Stanton ihre Lebensgeschichte mit der Schilderung ihrer Kindheit. Versteht sich dieser Beginn für die meisten von selbst, begründet Stanton die ausführliche Darstellung ihrer „Kindheitstage“ und erklärt, mit ihr dazu beitragen zu wollen, dass „Erwachsene Kinder besser verstehen und mehr für ihr Glück und ihre Entwicklung tun können“. Ein Anliegen, das auch in mancher Anekdote deutlich wird, mit der die Autorin nicht nur ihre Kinderzeit, sondern die gesamte Geschichte ihres Lebens gerne schmückt. Das macht die Lektüre zweifellos angenehmer und oft auch unterhaltsamer, doch tritt ihnen gegenüber die zeitgeschichtliche Entwicklung manchmal allzu sehr in den Hintergrund. Gerade die Schilderungen ihrer späteren Reisen in Sachen Frauenwahlrecht, die Stanton nicht nur quer durch die USA und den damals tatsächlich noch ziemlich wilden Westen, sondern auch in diverse europäische Länder führte, erweisen sich oft als allzu detailverliebt, wenn es darum geht, Erlebnisse und Fährnisse etwa von unbequemen Zug- und holprigen Kutschenfahrten zu beschreiben.

Elizabeth Cady Stanton wuchs als einziges Mädchen zwischen einer ganzen Anzahl von Brüdern auf und litt als Kind sehr unter der Entdeckung, „dass ein Mädchen weniger auf der Waagschale des Lebens wog als ein Junge“. Denn für ihren Vater, einem Rechtsanwalt, zählten nur ihre Brüder, mochte sie sich auch noch so sehr um seine Anerkennung bemühen. Statt nach einem ihrer Erfolge die ersehnten Worte „Nun, ein Mädchen ist doch wohl ebenso gut wie ein Junge“ vernehmen zu dürfen, bekam sie ein ums andere Mal zu hören: „Ich wünschte, du wärst ein Junge“. Eine Art der Anerkennung, die sie nur umso tiefer verletzte.

In ihrer Kindheit wurde denn auch bereits der Keim für ihr späteres feministisches Engagement gepflanzt. Nicht nur aufgrund dieser Erfahrung, sondern auch durch „die Tränen und den Kummer“ all der Ehefrauen, die ihren Vater wegen rechtlicher Beratung in einem Scheidungsverfahren konsultierten. So erfuhr sie schon als Kind so manches über „die Ungerechtigkeit und Grausamkeit der Gesetze“ und wurde im Laufe der Jahre immer stärker „von der Notwendigkeit überzeugt, aktive Maßnahmen gegen jene ungerechten Bestimmungen zu ergreifen“, die es etwa erlaubten, dass selbst zwölfjährige Mädchen verheiratet wurden. Mit noch heute spürbarem und nachvollziehbarem Zorn legt sie dar, dass ein Mann, der in den US-amerikanischen Staaten um die Mitte des 19. Jahrhunderts heiratet, nichts von alldem, was er besitzt, aufgeben muss, „doch die rechtliche Existenz der Frau wird während der Ehe außer Kraft gesetzt, und fortan kennt man sie nur noch in und durch ihren Ehemann. Sie ist ohne Namen, ohne Geld, ohne Kinder – obwohl sie eine Frau, eine Erbin und eine Mutter ist.“ Die Entmündigung geht damals sogar soweit, dass „man eine Ehefrau nicht für einen Diebstahl bestrafen kann, den sie in Gegenwart ihres Ehemannes begeht“. Stantons Forderung lautete denn auch, „die Scheidung ehrbar zu machen“.

Elizabeth Cady selbst heiratete 1840 den zehn Jahre älteren Henry B. Stanton, einen nicht ganz unbekannten Gegner der Sklaverei. Im Laufe der Ehe gebar sie sieben Mädchen und Jungen. Ihre Klage über das „Martyrium der Geburt eines Kindes“ basiert also auf reichlicher Erfahrung. Sind die Kinder aber erst einmal da, gilt ihr deren Erziehung als „eine der wichtigsten Beschäftigungen“, die „mehr Wissen als jedes andere Gebiet menschlicher Angelegenheit“ verlangt. Zugleich aber erhebt sie vehement Einspruch gegen die Mär vom Mutterinstinkt. Als eines ihrer Kinder im Säuglingsalter Bandagen tragen musste, um der Gefahr vorzubeugen, dass es „ein hilfloser Krüppel“ wird, litt es so sehr unter dem Druck der von zwei Ärzten angelegten Verbände, dass Stanton sie wieder löste und auf andere Weise neu anlegte. Worauf sich das schreiende Kind beruhigte. „Nun, schließlich ist der Instinkt einer Mutter besser als die Vernunft eines Mannes“, konstatierte einer der beiden mit einem sich und den Kollegen exkulpierenden Lächeln. Worauf die Mutter mit der Zurechtweisung reagierte: „Danke, Gentlemen, das hat nichts mit Instinkt zu tun. Ich dachte intensiv nach, bevor ich herausfand, wie ich Druck auf die Schultern mindern konnte, ohne die Blutzirkulation zu behindern“.

Umso verwunderter nimmt man angesichts dessen ihr Lob des Hausfrauendaseins zur Kenntnis. Eine Frau, schreibt Stanton, die einen Haushalt führt, stehe „als Herrin einem Unternehmen vor“ und erfülle ein Aufgabe, die sie mit „Stolz“ und „Befriedigung“ erfüllt. Man fühlt sich da doch recht unangenehm an eine gewisse antiemanzipatorische Werbung des 21. Jahrhunderts erinnert. Doch zeigt sich, dass dies nur der erste Eindruck einer noch unerfahrenen Haus- und Ehefrau war. Denn bald schon klingt das ganz anders. Nachdem ihr „die Haushaltsführung nicht mehr neu“ war, erschien Stanton „vieles, was einst am täglichen Leben attraktiv war“, „nun lästig“ und sie beklagt lautstark all die Frauen, die „den Großteil ihres Lebens nur mit Dienstboten und Kindern Kontakt“ haben und sich daher nicht „bestmöglich entwickeln“ können.

Bevor sie jedoch Erfahrungen aus dem Alltag einer Ehefrau, Hausfrau und Mutter sammeln konnte, reiste sie erst einmal mit ihrem Mann in die Flitterwochen. Es wurde eine ausgedehnte Reise, die das Paar nach London zur ersten „World’s Anti-Slavery Convention“ führte, die just 1840, dem Hochzeitsjahr der Stanton, abgehalten wurde. Dort musste Elizabeth Cady Stanton ebenso wie all die anderen extra aus den USA angereisten Frauen erfahren, dass ihnen und ihren Geschlechtsgenossinnen untersagt war, auf der Tagung das Wort zu ergreifen. Heutzutage ein zweifellos für alle – und für die betroffenen Frauen schon damals – unbegreiflicher Vorgang. Später sollte sich „die Reihen der amerikanischen Sklavereigegner“ denn auch an der „Frauenfrage“ spalten. Für Stanton aber gab es schon 1840 keine Frage von solcher Wichtigkeit, wie die Befreiung der Frauen von den politischen, religiösen und sozialen Dogmen der Vergangenheit. Daher ist es für sie umso unverständlicher dass diejenigen, „die das Unrecht gegenüber dem Sklaven brennend empfanden, das gleiche Unrecht gegenüber ihren eigenen Müttern, Ehefrauen und Schwestern gar nicht bemerkten“.

Dies sollte sich allerdings auch in den nächsten Jahrzehnten nicht ändern. Während der sechs Jahre des amerikanischen Bürgerkriegs legten die Frauen „ihre eigenen Ansprüche auf Eis zugunsten jener der Sklaven im Süden“ und wurden dafür als „weise, loyal und scharfsinnig“ gepriesen. „Aber als die Sklaven befreit waren und diese Frauen darum baten, dass sie im Wiederaufbau als vor dem Gesetz gleichberechtigte Bürgerinnen der Republik anerkannt werden sollten, verschwanden all diese überragenden Tugenden wie Tau in der Morgensonne.“ So sei es stets, klagt Stanton, „solange die Frau sich abrackert, die Bemühungen des Mannes zu unterstützen und sein Geschlecht über das ihre zu erheben, sind ihre Tugenden unbestritten; aber wenn sie es wagt, Rechte und Privilegien für sich einzufordern, sind ihre Motive, ihr Betragen, ihre Kleidung, ihr Erscheinungsbild und ihr Wesen Gegenstand von Spott und Kritik.“

Neben den Frauenrechten gab es ein zweites Thema, mit dem Stanton sich Zeit ihres Lebens befasste: der „Aberglauben der christlichen Religion“. Verglichen mit dem Leiden, dass ihr die „theologischen Dogmen“, an die sie in ihrer Kindheit und Jugend „ernsthafte glaubte“, und der „Düsternis, die mit allem verbunden war, was mit dem Namen der Religion, der Kirche, des Pfarrhauses, des Friedhofs und dem ernsten Glockengeläut verknüpft ist“, nähmen sich „all die Sorgen und Nöte, die Schwierigkeiten und Enttäuschungen in meinem ganzen Leben“ recht „klein“ aus. Noch in hohem Alter trug sie mit anderen all jene Stellen der Bibel zusammen, die sich mit Frauen befassen. 1895, nur wenige Jahre vor ihrem Tod, gab sie schließlich „The Woman’s Bible“ heraus, in der sie die einschlägigen Passagen kommentierte.

In ihrer Autobiografie informiert Stanton über die Arbeit an dem Buch ebenso ausführlich wie über diejenige an der später von anderen zu einer sechsbändigen Ausgabe erweiterten „History of Woman Suffrage“, deren erste drei Bände sie zusammen mit Matilda Joslyn Gage und Susan B. Anthony verfasste.

Susan B. Anthony, der „engsten Freundin, die ich in den letzten 45 Jahren je hatte“, widmet Stanton in ihrer Autobiografie gleich zwei Kapitel, in denen sie eine „Lebensbeschreibung“ und „Charakterstudie“ dieses „aufrichtigsten, mutigsten, aufopferungsvollsten und großherzigsten Mensch[en], den ich jemals kannte“, unternimmt. Ihr Verhältnis zueinander beschreibt sie als das von „Ehemann und Ehefrau“. Wie diese schienen sie „für die Außenwelt“ stets einer Meinung gewesen zu sein und sich „gegenseitig zu spiegeln“. Unter vier Augen aber haben sie sich auch schon mal „heiß gestritten“ und einander „ungezwungen kritisiert“. Doch sind sie gleichwohl „so sehr eins“ gewesen, „dass bei all unseren Auftritten immer Seite an Seite auf der selben Bühne nicht einmal das Gefühl des Neides oder der Eifersucht unser beider Leben überschattet hat.“ Auch könne man ihre Vorträge „als das gemeinsame Produkt unserer beider Gedanken betrachten“.

Eine angesichts der Bedeutung Anthonys durchaus angemessene Würdigung, die allerdings nicht allen zeitgeschichtlichen Personen, mit denen Stanton zu tun hatte, zuteil wird. Über die erste US-amerikanische Präsidentschaftskandidatin Victoria Woodhull, der Stanton begeisterte Briefe schrieb, in denen sie sich etwa darüber freut, dass die Adressatin „die stärksten von uns mit neuer Hoffnung und Enthusiasmus erfüllt“ habe, ist etwa nicht viel mehr zu lesen, als dass sie „eine fromme Gläubige der christlichen Religion“ gewesen sei. Eine Beschreibung, welche die frühe Feministin nur äußerst unzureichend charakterisiert, die sich als Wunderheilerin und Kurtisane durchs Leben schlug, als höchst erfolgreiche Wallstreet-Brookerin reüssierte, ins Gefängnis geworfen wurde, eine eigene Partei sowie einen Verlag gründete – und noch einiges mehr auf die Beine stellte. Doch auch der Anmerkungsapparat des vorliegenden Buches, dem zu manchen der von Stanton erwähnten historischen Persönlichkeiten größeren und geringeren Gewichts etwas einfällt, zu anderen nicht, verzichtet auf jede Erläuterung zur Person Woodhulls. Dabei ist gerade diese überaus interessante Frau hierzulande noch immer viel zu unbekannt. Daran konnte auch Antje Schrupps lesenswerte Biografie „Das Aufsehen erregende Leben der Victoria Woodhull“ wenig ändern. Und „Marge Piercys“ unter dem Titel „Sex Wars“ erschienene literarische Verarbeitung von Woodhulls Lebens harrt noch immer der Übersetzung.

Was nun Stanton selbst betrifft, so hält sie durchaus nicht mit eigenen Unvollkommenheiten hinter dem Berg, kokettiert allerdings auch ein wenig mit ihnen, etwa, wenn sie bekennt einen „schwachen Punkt“ zu haben: „Ich liebe Schmeichelei.“ Von einer anderen Schwäche erfährt man hingegen eher unfreiwillig: Sie liebt auch Superlative. Und zwar so sehr, dass sie sich angesichts ihrer Häufung als bald relativieren. Ein Beispiel mag genügen: „Von der am lautesten verlachten und erbarmungslos verfolgten Frau ist Miss Anthony zur verehrtesten und geachtetsten der Nation geworden.“ Derlei Übertreibungen machen die Lektüre nicht gerade verdrießlich, beeinträchtigen die Freude an ihr auf die Dauer aber doch etwas.

Beklagenswerter jedoch ist, dass der Lesefluss gelegentlich durch die nicht immer flüssige Übersetzung gehemmt wird, die sich oft allzu eng an den englischen Satzbau anlehnt, etwa indem sie das Verb voranstellt. Auch lässt sie manch ironische Wendung Cady Stanton nicht recht zur Geltung kommen. Doch dessen ganz ungeachtet ist es ein großes Verdienst, dieses Standardwerk der amerikanischen Frauenbewegung endlich in deutscher Sprache vorgelegt zu haben.

Titelbild

Elizabeth Cady Stanton: Achtzig Jahre und mehr. Erinnerungen von Elizabeth Cady Stanton.
ein-FACH Verlag, Aachen 2012.
440 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783928089586

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