Eine Verdoppelung des Blicks

Über Carsten Morschs Studie „Blickwendungen. Virtuelle Räume und Wahrnehmungserfahrungen in höfischen Erzählungen um 1200“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ungebrochene Interesse am Mittelalter und insbesondere auch mittelalterlicher Dichtung ist sicherlich ein Phänomen, das eher ‚populär‘ und weniger wissenschaftlich orientiert ist, gleichwohl wirkt dieses Interesse wohl durchaus auch in die akademische Sphäre zurück – und sei es nur, dass Klar- und Richtigstellungen gegenüber populären Sichtweisen provoziert werden.

Unter anderem in diesem Sinne sind Carsten Morschs ‚Blickwendungen‘ von Interesse, und wer hätte noch in den achtziger Jahren ‚virtuelle Räume‘ in der Altgermanistik thematisiert oder zumindest so benannt? Demgemäß erweitert sich auch der Blick der germanistisch orientierten Leserin und des Lesers in deutlicher Weise in Richtung einer allgemein historischen respektive spezifisch mentalitätsgeschichtlichen Sichtweise.

Das Ziel der Überlegungen liegt in der Beschreibung von Aspekten – dies ist wohl ein wesentlicher Aspekt der ‚Blickwendungen‘ – mittelalterlicher Texte hinsichtlich ihrer Konstituivität und ihrer Vermittlungsfunktion entsprechender gesellschaftlicher Binnen- wie Außenstrukturen (die man, um im sprachlichen Kontext zu bleiben, eigentlich als Butenstrukturen hätte benennen müssen). So heißt es bereits auf dem Umschlag unger anderem: „Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist zum einen der philologische Befund eines reichen Vokabulars des Sehens und Schauens, der Vielzahl von ‚Schaustücken‘ in den volkssprachlichen Texten um 1200.“ Daneben allerdings soll die ‚Blickwendung‘ der Leserin bzw. des Lesers hinsichtlich der Brechung einer medial vermittelten Sichtbarkeit geschärft werden; eine „Verdoppelung des Blicks“ gewissermaßen erleichtert sein.

Die eröffneten Räume und Sichtachsen sind insofern ‚virtuell‘, als sie den Text von der primären Verständnisebene in eine Art Wechselwirkungssystem hinein erweitern helfen. Spannend ist dementsprechend die Wendung weg vom ‚reinen‘ Text hin zu seinen Verfassern beziehungsweise deren Lebenssituationen und damit auch zum Kreis der Rezipienten, also denjenigen, an die sich die Dichtungen – seien diese nun vorgetragen oder eventuell auch gelesen worden – gerichtet haben. Und überdies – teilweise informell mitgeteilt – werden diese Aspekte auch durch die Zeit transportiert, dann nämlich, wenn auch der zeitgenössischen Leserinnen- und Leserkreis in die ‚Blickwendungen‘ mit einbezogen wird.

Für einen raschen Zugang ist die klare Strukturierung des Buches hilfreich. In drei großen Blöcken, der ‚Lektüre als teilnehmende Beobachtung‘, der ‚Poetik des Irrationalen‘ (diese gehören zur so betitelten ‚Methodisch-theoretischen Problementfaltung) sowie den ‚Virtuellen Wahrnehmungsräumen: Betten und Frauenzimmer‘ (diese werden unter dem Hinführungsbegriff ‚Exemplarische Beschreibungen‘ subsumiert) baut der Autor ein, anregendes und in sich stimmiges Laboratorium von ‚Blickwendungen‘ auf.

Die herangezogenen Texte haben eine gewisse Prominenz – und auch Divergenz; die Spannbreite reicht von ‚Herzog Ernst‘ über den ‚Armen Heinrich‘ anhand derer die ‚teilnehmende Beobachtung exemplifiziert wird, Wolframs ‚Parzival‘, wo jedoch – vielleicht etwas überraschend – nicht der Titelheld als Sinnbild einer ‚Poetik der Irritationen‘ thematisiert ist, sondern dessen ‚Gegenpart‘ Gawan sowie die für den Kern der Parzival-Handlung eigentlich eher randfigürlich angelegte Person Keies für diese Aufgabe herangezogen sind. Bemerkenswert ist, in welchem Maße Carsten Morsch auf die Breite der Textgrundlagen für seine Perspektivwechsel abhebt, hätten sich doch prinzipiell für seine ‚Frauenzimmer‘ (in denen nun tatsächlich Zimmer von Frauen und nicht die altertümelnd-desavouierende Bezeichnung für Frauen gemeint sind) genügend Beispiele aus der Artus-Epik aufbieten lassen. Stattdessen werden der ‚Alexanderroman‘ sowie ‚Moritz (bzw. Mauritius) von Craûn‘ aufgeboten, um diese indiskreten Blicke – die freilich in den entsprechenden Dichtungen durch ‚tugendlich reine site‘ gesellschaftskonform gehalten sind – zu illustrieren.

Dabei – und das ist einerseits auch ein Aspekt ästhetischen Lesegenusses, andererseits vielleicht gerade hinsichtlich eines studentischen Zielkreises auch nicht ganz unproblematisch – bedient sich Carsten Morsch gelegentlich eines doch sehr elaborierten respektive ‚abgehobenen‘ Sprachduktus. So können wir etwa auf der Seite 260 im Kapitel ‚Frauenturm und Wunderbett‘ lesen: „Im Zusammenspiel von ekphrastischer Einrichtung und kinästhetischer Erschließung erscheint Tydomies Waldschlafzimmer so als virtuelles Trainingslager im Text – es wird ausgebaut zum Gedächtnisraum und ist als solcher in mehrfacher Hinsicht Navigationshilfe, nachdem es als Eingangsportal und starting site der eigentlichen Handlung gedient hat“. Hier ist leicht abzusehen, daß sich zumindest Studierende der ersten Semester ob dieser Navigationshilfe doch eher verfahren werden.

Zugegebenermaßen birgt gerade die an indirekten wie direkten Beispielen einleuchtend und äußerst nachvollziehbar aufgebaute Themenführung die Gefahr, dass womöglich Studierende zumindest in überfüllten Proseminaren entsprechende Leistungsnachweise – seien es Referate oder vielleicht auch Hausarbeiten – ausschließlich auf das vorliegende Buch Carsten Morschs stützen, ohne sich allzu tief mit den jeweiligen Primärtexten zu befassen – das allerdings kann dem Wert des vorliegenden Buches keinen Abbruch tun. Denn obgleich wohl aufbereitet, ist, und sei es ‚nur‘‚ um eigene ‚Blickwendungen‘ zu ermöglichen, die Beschäftigung mit den angeführten Werken zum tieferen Verständnis unerlässlich. Und das gilt natürlich erst recht, wenn es darum geht, diesen Ansatz auf andere als die von Carsten Morsch herangezogenen Texte anzuwenden. ‚instant-reading-tauglich‘ bietet dafür andererseits eben auch Zugangswege, die ansonsten eher ungewohnt sind und gerade auch durch die Notwendigkeit einer gewissen Anstrengung einen Lese-Gewinn versprechen. ‚Last but not least‘: Hervorzuheben ist der übersichtlich gestaltete bibliografische Anhang, der sicherlich als Ausgangspunkt für eigene ‚Blickwendungen‘ dienen wird. So werden diejenige, die sich auf das Buch ‚einlassen‘ und geduldig genug sind, der einen oder anderen sehr elaborierten Wendung zu folgen, sicherlich immer wieder aufs Neue positiv überrascht werden und das Werk als Schatzkästlein zu würdigen wissen.

Titelbild

Carsten Morsch: Blickwendungen. Virtuelle Räume und Wahrnehmungserfahrungen in höfischen Erzählungen um 1200.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011.
303 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783503122721

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