Kraft und Rache der Frauen

In seiner Studie „Um Leib und Leben“ untersucht Tilo Renz Geschlechter- und Rechtsverhältnisse im „Nibelungenlied“

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die Druckfassung einer Dissertation an der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach Ältere deutsche Literatur von 2010. Die Arbeit rangierte im darauffolgenden Jahr auf Rang zwei des Tiburtius-Preises der Berliner Hochschulen für Dissertationen und ist aus der Teilnahme des Autors am DFG-Graduiertenkolleg „Codierung von Gewalt im medialen Wandel“ entstanden, in dem Werner Röcke, Renz’ Doktorvater, als Mitglied engagiert war. Röcke ist Mitherausgeber der Reihe „Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte“, in der die vorliegende Studie aufgenommen worden ist.

Wer im Untertitel: „Das Wissen von Geschlecht, Körper und Recht…“, einen Hinweis auf methodologische Nähe zu Michel Foucault vermutet, irrt nicht. „Der Foucault’sche Wissensbegriff“, so Renz, „ermöglicht eine Öffnung auf die Untersuchung der unterschiedlichsten Themenbereiche und Erscheinungsformen dessen, was in einer bestimmten Zeit gewusst werden kann.“ Was im konkreten das „Nibelungenlied“ anlangt, so schließt Renz an Jan-Dirk Müllers „Spielregeln für den Untergang“ (1998) an und möchte dessen Forschungsprogramm „in wissenshistorischer Perspektive“ weiterführen. Zum interpretatorischen Vorgehen erklärt der Autor: „Das nibelungische Wissen wird zunächst anhand von Textanalysen rekonstruiert, um es in seiner Spezifik erfassen zu können. Daran anschließend werden Korrespondenzen mit außerliterarischen Konfigurationen von Wissen aufgewiesen. Dies geschieht so textnah wie möglich, um die Übereinstimmungen, aber auch die Differenzen des nibelungischen Wissens und des Wissens der sachbezogenen Texte erfassen zu können.“

Brünhild und Kriemhild sind die beiden weiblichen Hauptfiguren des „Nibelungenlieds“, und Tilo Renz baut sein Werk demgemäß aus zwei Hauptkapiteln auf. Im ersten geht es um „Brünhilds Kraft“, genauer um die „Relationierung körperlicher Eigenschaften der Geschlechter im Nibelungenlied und in medizinischen Texten“; das zweite behandelt „Kriemhilds Rache“ unter dem Gesichtspunkt „Nibelungische Rechtspraktiken und zeitgenössische normative Rechtstexte“. Vielleicht ist zum besseren Verständnis insbesondere des Teils über „Brünhilds Kraft“ die Information nicht deplaziert, dass sich Renz auch auf dem Gebiet des „illegitimen Vergleichens in den Kulturwissenschaften“ einen Namen gemacht hat: Zusammen mit Helga Lutz und Jan-Friedrich Mißfelder gab er 2006 einen Sammelband mit dem Titel „Äpfel und Birnen“ heraus, der sich um Elisabeth Bronfens cross-mapping-Konzept rankte. Grob gesagt ging es Bronfen um die Rehabilitation solcher „Vergleiche“, die konventionell als unstatthaft verworfen werden. Wenn man Äpfel mit Birnen vergleicht, kann auch Erkenntnis resultieren, wenngleich das klassische tertium, das den Vergleich legitimierende „Dritte“, nicht unmittelbar gegeben ist.

Obschon Bronfen in Renz` umfangreiche Liste der Forschungsliteratur nicht aufgenommen ist, scheint das Prinzip des Zueinanderfügens prima facie nicht zueinander passender Sachen ein Grundsatz des Erkenntnisgewinnungsverfahrens im vorliegenden Band zu sein. Wie anders wäre es zu rechtfertigen, den Brautwerbungswettkampf zwischen der scheinbar unbezwingbaren Brünhild und Gunther/Siegfried in Isenstein in „Juxtapposition“ (recte: Juxtaposition?) zu bringen mit antiken und hochmittelalterlichen medizinischen Abhandlungen über Zeugungs- und Vererbungsvorgänge unter spezieller Berücksichtigung von Theorien über den „weiblichen Samen“? Ein Analyseprodukt formuliert Renz folgendermaßen: „Sowohl die Thematisierung von Brünhilds Stärke im Nibelungenlied als auch die Zwei-Samen-Lehre in antiken und mittelalterlichen medizinischen und naturphilosophischen Texten zeigen eine Bewegung der Argumentation von der These der Ähnlichkeit männlicher und weiblicher Körper zur Bestimmung eines hierarchischen Verhältnisses der Geschlechter in Bezug auf körperliche Eigenschaften sowie zur Darstellung männlicher Dominanz.“

Diese und auch manch andere Deutung der vorliegenden Publikation scheint doch einigermaßen blutarm und konstruiert zu sein. Überhaupt erweckt die Studie Renz’ den Verdacht, als hätte die vorab gewählte Methode die Lektüre des literarischen Textes in erheblichem Maße prädeterminiert. Denn der Blick auf Formationen des „Wissens“ verleitet mitunter zur Vernachlässigung derjenigen Momente des „Nibelungenliedes“, welche für diese Dichtung als Dichtung essenziell sind. Zu denken ist hier an Elemente, die ihr Dasein der Nötigung durch die poetische Form verdanken; gewiss ist man etwa in Fällen, in denen der Reimzwang sichtlich auf die Lexik einwirkt, gut beraten, in semantischer Hinsicht Vorsicht walten zu lassen.

Wenn beispielsweise Kriemhild über den Mörder ihres Mannes Siegfried spricht: „‚Hey sold ich den bekennen‘, sprach daz vil edel wîp, / ‚holt wurde im nimmer mîn herze unt ouch mîn lîp‘“, mag es noch statthaft sein, das Wort lîp als Verweis auf Kriemhilds „Körper“ zu interpretieren, wie Renz es tut, indem er kommentiert: „Das dauerhafte Verhältnis ausbleibender Freundschaft geht ebenso von Kriemhilds herze aus wie von ihrem Körper.“ Problematisch wird es allerdings, wenn Renz die erste Liebesvereinigung Kriemhilds mit Siegfried modernistisch als eine „sexuelle Handlung“ ansieht, in der sich eine „Verbindung der Körper“ ereigne. Im „Nibelungenlied“ steht indes: „Dô der herre Sîfrit bî Kriemhilde lac, / unt er sô minneclîche der juncvrouwen pflac / mit sînen edelen minnen, si wart im sô sîn lîp. / er naeme für si eine niht tûsent ándériu wîp.“ Zu einer Fehldeutung führt der Hang zur Semantisierung von lîp als „Körper“, wenn der Dichter über Siegfried sagt: „er truoc si ime herzen, si was im sô der lîp“, und Renz die ins Metaphysische hineinreichende Poesie dieser Stelle entwertet, wobei er einen „Vergleich Kriemhilds mit Siegfrieds Körper“ vorfinden möchte. Von einer Arbeit, die „Wissen“ im Untertitel führt, wird man aber doch das mediävistische Basiswissen voraussetzen dürfen, demzufolge der mittelhochdeutsche lîp lediglich unter umsichtiger Zurkenntnisnahme des jeweiligen Kontextes als neuhochdeutscher „Körper“ aufgefasst werden darf. Im Zweifel tut der Übersetzer nicht schlecht daran, mîn lîp einfach mit dem Personalpronomen („ich“) wiederzugeben.

Weiterhin entsteht der Eindruck, als sei die Wahrnehmung des Humoristischen in literarischen Hervorbringungen nicht die Hauptabsicht wissenshistorischer Untersuchungen. Brünhild ist so unglaublich kräftig, dass sie einen Trumm von Stein, den zwölf Mann gerade eben herbeischleppen können, zwanzig Meter weit wirft. Das mittelalterliche Publikum wird über diese Münchhausiade gelacht, zumindest geschmunzelt haben; Renz aber rechnet trocken und pedantisch nach: „Daher könnte Brünhilds Stärke im mindesten Fall geringer sein als die Kraft von dreizehn Männern. Außerdem ist offen, wie sich Siegfrieds Stärke auch ohne das Hilfsmittel der Tarnkappe zu der anderer Männer verhält. Möglicherweise übertrifft seine Kraft die Maßeinheit einer Männerstärke, auf die der Text wiederholt rekurriert. Entsprechend größer wäre dann Brünhilds Kraft anzusetzen. Sie bewegt sich zwischen einem Mindestmaß der Stärke von zwölf Männern und einem maximalen Wert, der geringer ist als die Summe aus zwölf Männerstärken und Siegfrieds Stärke zusammen.“

Mit stabiler Komikresistenz begegnet Renz auch der Hochzeitsnacht, in der Brünhild den armen Gunther kurzerhand an einen Nagel in der Wand hängt, um unbehelligt und friedlich durchzuschlafen. Renz meint, unter anderem bezeuge die schwankhafte Szene, „dass Gunther seinem Anspruch auf eine Vorrangstellung in der Ehe nicht gerecht wird“. Derart trist und trübe darf man eventuell an Henrik Ibsens Emanzipationsdramen, nicht aber an eine deftige Bettklamotte wie diese herangehen.

In seinem zweiten Hauptteil verhandelt Renz rechtsgeschichtliche Fragen. Hier geht es – neben den immer mitbedachten genderspezifischen Angelegenheiten – darum, ob und wie sich normative juristische Texte des hohen Mittelalters (beispielsweise die „Landfrieden“) im zweiten Teil des „Nibelungenliedes“ reflektieren, der an Etzels Hof spielt und den Untergang der Burgunden schildert. Wie wird das Rechtsinstitut der Fehde/Rache fiktionalisiert? Wie werden Schuld und Sühne zugeteilt und bemessen? Können mildernde Umstände geltend gemacht werden? Wie wird der Sachverhalt des Mordes an Siegfried ermittelt? Welche Strategien werden verfolgt, um den Täter als den Täter zu bestimmen? Welche Mittel zur Reglementierung von physischer Gewalt standen bereit? Und nicht zuletzt: Warum ruft das Personal der Erzählung nicht einen unabhängigen Richter an, um einen vernünftigen Ausgleich zwischen der Schwere der Mordtat und ihrer Vergeltung anzustreben?

Auf diesem Feld ist Tilo Renz erkennbar zu Hause, und was er an gründlicher und transparenter Rekonstruktion der einschlägigen alten Quellen vorlegt, ist fraglos preiswürdig.

Sein Vergleich zwischen diesen Texten und dem „Nibelungenlied“ ergibt sowohl Übereinstimmungen als auch Differenzen. Bezüglich des „Zusammenhangs des juristischen Wissens mit den Geschlechterverhältnissen des Nibelungenlieds gelangt Renz zu der folgenden Konklusion: „Die Rechtsprobleme, die das Nibelungenlied im Zuge der Schilderung von Kriemhilds Rache thematisiert, werden anhand männlicher oder anhand weiblicher Figuren vorgeführt. Diese Art und Weise der Darstellung geht über die Regelungen der juristisch normativen Texte hinaus. Die Behandlung von Rechtsfragen konzentriert sich im Nibelungenlied nicht auf männliche Akteure. Auch die im Erzählzusammenhang stets präsenten Protagonistinnen werden in die Darstellung der Rechtsprobleme einbezogen. Auf diese Weise lässt der Text auch hier geschlechterspezifische Unterschiede erkennen.“

Der Rezensent kann sich nicht erinnern, jemals einen Text gelesen zu haben, in dem Frauen und Männer vorkommen, der keine „geschlechterspezifischen Unterschiede“ mitliefert, möchte aber noch erwähnen, dass ihm bei der Lektüre des Buches eine – wahrscheinlich nicht ganz unwichtige – Frage entstanden ist; die nämlich nach der wissens- und rechtshistorischen Relevanz der Tatsache, dass zwei Zeitschichten in den Erzählungen des „Nibelungenlieds“ ineinanderfließen: die staufische Zeit und eine frühere, archaisch-heroische Zeit, die wohl irgendwo in den dunklen Gefilden der Epoche der Völkerwanderung zu situieren ist.

Nun zieht Renz jedoch ausschließlich Rechtstexte der Stauferzeit heran, der Zeit also, in der das „Nibelungenlied“ verfasst worden ist, ohne auf solche juristischen Quellen zurückzugreifen, welche die Rechtswirklichkeit beziehungsweise das rechtliche „Wissen“ von ein paar Jahrhunderten zuvor dokumentieren. Wie heikel das ist, führen seine Bemerkungen zur „Bahrprobe“ vor Augen. Hierbei handelt es sich um eine Art Gottesurteil, welches im „Nibelungenlied“ Hagen als Mörder Siegfrieds schuldig spricht.

Renz kann nachweisen, dass diese Prozedur der Überführung eines Mörders hochmittelalterlich bereits „stark umstritten ist“, hätte aber diskutieren sollen, was es zu bedeuten hat, wenn der stauferzeitliche Erzähler Bahrproben für „michel wunder“, also für höchst wundersam hält. Dennoch, so der Erzähler, komme es auch heute noch vor, dass die Wunden des Leichnams wieder bluten, wenn der Mörder zugegen ist. Handelt es sich nun, wenn im Wormser Münster das Gottesurteil gegen Hagen aussagt, um die Rechtsauffassung der Zeit des Erzählers, oder berichtet der Erzähler von alten Zeiten, in denen juristische Irrationalismen gang und gäbe waren, die aber wundersamerweise in der Gegenwart – als Archaismen – noch beobachtbar sind? Mit dieser Frage ist natürlich die der chronologischen Verhältnisse im „Nibelungenlied“ angesprochen, die meines Wissens noch der Erhellung harrt.

Titelbild

Tilo Renz: Um Leib und Leben. Das Wissen von Geschlecht, Körper und Recht im Nibelungenlied.
De Gruyter, Berlin 2012.
375 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110252743

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