Osmantinische Aufklärung

Ein Dichter und sein Ort: Christoph Martin Wielands Weg zu seinem bedeutendsten Werk „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“

Von Jan Philipp ReemtsmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Philipp Reemtsma

„Der Gutskauf, wovon ich Ihnen zeither geschrieben habe, ist nun zu Stande gekommen; die Gemeinde von Oßmannstädt überläßt mir die von dem ehemaligen Stadthalter der hiesigen Fürstenthümer, dem weiland berühmten Grafen Heinrich von Bünau, mit Aufwand von mehr als 30.000 Thaler erbauten Schloßgebäude und die übrigen […] Grundstücke und Freiheiten um die runde Summe von 22.000 Thaler“.[1]

So schreibt Christoph Martin Wieland an seinen Verleger Georg Joachim Göschen, dem er schon zuvor von einigen anderen erwogenen und verworfenen Gutskaufplänen berichtet hatte. Und später fügt er hinzu: „Im ganzen Lande habe ich kein Gut finden können, das in allen Stücken wesentlich so ganz für mich getaugt hätte wie Oßmannstädt.“[2]

Das Geld zusammenzubringen, war übrigens schwierig genug, aber es gelang dann doch, und im Juli 1797 schrieb er wieder an Göschen, der seinerseits umgezogen ist: „Ihre Transmigration von Leipzig nach Grimma begleite ich mit meinen besten und herzlichsten Wünschen […] Möchten Sie in der neuen Lage, in welche Sie sich gesetzt haben, nach Lieb und Gemüth sich so wohl befinden, als ich mich in meiner Oßmannstädtischen retraite. Mir ist, als ob gar keine andere Art zu existieren für mich möglich sey, und die Weimarischen Profeten, die als etwas ganz unfehlbares voraussahen, daß ich mich gar jämmerlich auf dem Lande und vis à vis de moi-meme belangweilen würde, bestehen mit Schande. Auch sperren sie die Augen mächtig darüber auf, daß ich (wie sie gestehen, oder vielmehr ungefragt versichern) so heiter und vergnügt aussähe, und können sich dieses Phänomen gar nicht erklären. Ich hingegen begreife das Wunder sehr gut, und in der That ungleich besser, als wie ich die 24 Jahre, die ich in Weimar gelebt habe, noch so leidlich habe aushalten können. Landluft, unverkünstelte Natur, viel Gras und schöne Bäume, äußere Ruhe und freie Disposizion über mich selbst und meine Zeit, das alles zusammen ist, so zu sagen, mein Element, so gut wie die Luft des Vogels und das Wasser des Fisches Element ist, und es geht so ganz natürlich zu, daß ich darin gedeihe.“[3]

Und im Dezember: Ich befinde „mich ununterbrochen wohl und munter, arbeite an meinem Schreibtische mit Succeß, habe, ungeachtet ich wenig vor die Thür komme, guten Appetit, und schlafe weit besser als ehemals. Alles dies entscheidet, wenigstens was mich betrifft, den Vorzug des Landlebens vor dem Stadtleben; nichts von den negativen und passiven Vorzügen des erstern zu gedenken, welche die Landmaus beim Horaz gegen ihre Freundin, die Stadtmaus, geltend macht. Nebenher thut mir auch das Bewußtsein wohl, daß ich meinen großen Garten (der, wie Sie wissen, für sich allein schon ein kleines Landgut ist), in den 8 bis 9 Monaten, seit er mein ist, bereits in einen merklich bessern Stand gesetzt habe. Ich habe über 300 fruchtbare Bäume gepflanzt, von deren größerem Theile, sofern sie gut durch den Winter kommen, ich wenigstens die ersten Früchte zu erleben hoffen kann.“[4] Gleichwohl bleibt Wieland nur bis zum Frühjahr 1803 in Oßmannstedt. Dann verkauft er das Gut und zieht zurück nach Weimar.

Die Arbeit am Schreibtisch – wir wollen uns auf diese Früchte des osmantinischen[5] Ambientes konzentrieren – war zunächst die Arbeit an der seit 1894 im Verlag Göschens erscheinenden Ausgabe letzter Hand, der „Sämmtlichen Werke“. Diese Gesamtausgabe war das bislang ambitionierteste Verlagsunternehmen Deutschlands. Sie erschien gleichzeitig in vier Formaten: Quart, Großoktav, Oktav, Kleinoktav. Der Sinn dieser Vierfachausgabe war, für jeden Geldbeutel etwas zu bieten und damit den Raubdruckern zuvorzukommen, die sich an jedes erfolgreiche Publikationsvorhaben hängten und denen man, mangels grenzübergreifender rechtlicher Regelungen, juristisch nichts anhaben konnte, sondern versuchen musste, sie ökonomisch auszustechen.[6] In Deutschland gelang das, aber in Wien wurde bereits 1797 ein Raubdruck angekündigt, der die Ausgabe bis zu ihrem Abschluss begleitete.[7] Die Kleinoktavausgabe – auch die „wohlfeile“ genannt – war, was wir heute eine Taschenbuchausgabe nennen. Die Ausgabe im Quartformat, die sogenannte Fürstenausgabe, war ungewöhnlich teuer und in ihrer äußeren Gestalt an die Pariser Ausgaben der Werke Voltaires angelehnt. Sie enthielt ein Subskribentenverzeichnis, das Namen enthielt, die sich von selbst verstehen wie den des Weimarer Herzog Karl August und seiner Mutter Anna Amalia, sowie des „Herren Bürgermeister(s) und Rath der Stadt Biberach in Schwaben“, bis hin zu denen der Könige von England und Neapel, Prinz Ferdinand von Preußen, des Kurfürsten zu Köln und diverser anderer Fürsten, Grafen und Herzöge aus Deutschland und Österreich. Dazu kommen zahlreiche Bibliotheken und Privatleute aus ganz Europa – Basel, Bern, Zürich, Triest, Amsterdam, Haarlem, Kopenhagen, Prag, Warschau, Lemberg, Riga, Reval, St. Petersburg, London, Lissabon – kurz: diese Ausgabe, deren Zusammenstellung Wieland in Weimar begonnen, in Oßmannstedt fortgeführt hatte und in Weimar beendete, gedruckt in Leipzig, war ein literarisches Unternehmen von europäischer Bedeutung.

Wieland hatte ihr 1794 eine Vorrede beigegeben, die Aufsehen machte und Ärgernis gab: „Es sind nun vier und vierzig Jahre, seit der Verfasser der poetischen und prosaischen Werke, die in gegenwärtiger vollständiger Ausgabe von der letzten Hand gesammelt erscheinen, zum ersten Mahl im Kor der deutschen Dichter und Schriftsteller Deutschlands auftrat. Seine Laufbahn umfaßt also beynahe ein halbes Jahrhundert. Er begann sie, da eben die Morgenröthe unsrer Litteratur vor der aufgehenden Sonne zu schwinden anfing; und er beschließt sie – wie es scheint – mit ihrem Untergange.“[8]

Der heutige Leser wird verwundert sein: was soll das? Es gab doch wohl Literatur in Deutschland vor und nach Wieland? Der zeitgenössische Leser würde dem ersten Teil der Behauptung aber zweifellos zugestimmt und (jedenfalls mehrheitlich) nur den zweiten bestritten haben. Beschäftigen wir uns also zunächst mit dem ersten. Er führt uns auf eine Besonderheit der deutschen Literaturentwicklung, ihre Diskontinuität. Jene vollzieht sich im Medium von Abbrüchen, Vergessen, Wiederentdecken – das Schicksal von Wielands Werken ist selbst ein Exempel.

Die Literatur des Mittelalters war im 18. Jahrhundert alles andere als geläufig. Das Nibelungenlied wurde 1755 ediert und durchaus zögerlich rezipiert. Die Wiederentdeckung der gesamten mittelalterlichen Literatur zog sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Ähnliches galt für die Literatur des Barock. Sie galt als überholt, man las sie nicht mehr, sie diente nur als Anspielung, wenn etwas als unlesbar bezeichnet werden soll, und wurde erst im 20. Jahrhundert wieder wirklich ernstgenommen. Trotz sporadischer Wiederentdeckungen einzelner Autoren – Hans Sachs wäre hier etwa zu nennen – lebten Autoren wenigstens der ersten 60 Jahre des 18. Jahrhunderts in dem Gefühl, dass es etwas wie eine deutsche Literatur eigentlich gar nicht gebe und sie erst erfunden werden müsste. Das führt zu der merkwürdigen Situation, zu der es im übrigen Europa keine wirkliche Parallele gibt, dass es eine Reihe von Schriftstellern gab, die sich ganz bewusst dieser Aufgabe annahmen und nun begannen, Muster aufzustellen: so soll eine deutschsprachige Tragödie aussehen und so ein Epos. Daneben gab es eine Reihe von Theoretikern, die, in Anlehnung an die „Poetik“ des Aristoteles (oder in bewusster Abweichung von ihr) darüber schrieben, wie eine deutsche Tragödie oder ein Epos auszusehen habe, welche Sprachmittel erlaubt seien, welche nicht, ob der Gebrauch der Metapher anzuraten sei oder nicht, ob man reimen solle oder den reimlosen daktylischen Hexameter bevorzugen, welche Stoffe auf der Bühne abzuhandeln seien und welche nicht und so fort.

In diese Debatten, die von heute aus so sonderbar wirken, dass es schwerfällt, sich in die Verve einzufühlen, mit der sie ausgetragen wurden, war der junge Wieland verwickelt, und zwar in einer Weise, die dann später für ihn ganz untypisch wurde: als Eiferer. Ja, sogar als Denunziant: Er startete einen ausgesprochen unangenehmen Angriff auf Johann Peter Uz, den er als schlimmen Erotiker verunglimpfte. Kurios, denn gerade dies war ein Fach, in dem Wieland später selber brillierte – und sich entsprechende Anfeindungen zuzog, auf die er dann allerdings, seiner eigenen Jugendsünden eingedenk, mit großer Gelassenheit reagierte.[9] Andere Beiträge zu diesen Debatten bestanden in Erläuterungen darüber, was eine Metapher sei, wie fantastisch Literatur sein dürfe und vielem anderen mehr.

Wieland zog sich bald aus diesen Streitigkeiten zurück. Bei seiner eigenen Arbeit und für die Rolle, die er bald in der deutschen Literatur spielen sollte, kam ihm sein besonderes Naturell entgegen. Es ist zwar immer holzschnittartig, über Typen von Künstlern zu sprechen, aber eine grobe Vorsortierung sei erlaubt. Es gibt Autoren, die sind auf bestimmte Themen fixiert. Im Extremfall – Jean Paul ist ein solches Extrem – wirken ihre Werke wie ein riesiger, einem oder mehreren miteinander verbundenen Lebensthemen gewidmeter Monolog, in dem die Abstände der einzelnen Werke untereinander wie willkürliche Zäsuren wirken.

In weniger extremen Fällen gibt es Leitmotive, die so stark sind, dass sie bestimmte thematische Rahmungen immer wieder erzwingen. Es gibt Schriftsteller – Künstler, wir brauchen es nicht auf die Literatur einzuschränken –, denen es um eine bestimmte Formidee geht und um den Versuch, ihre Möglichkeiten zu ermessen und zu erweitern – James Joyce wäre hier zu nennen oder Arnold Schönberg.

Und es gibt Künstler, die ein Interesse am Experiment mit unterschiedlichen Formen haben, ihre Möglichkeiten und Grenzen erkunden – William Turner wäre hier zu nennen, Igor Strawinsky und eben Wieland. Die Stellung, die Christoph Martin Wieland in der Entwicklung der deutschen Literatur einnahm und auf die er in der Einleitung zu seinen „Sämmtlichen Werken“ zurückblickte, ist keiner anderen vergleichbar. Kein anderer Name ist mit der Modernisierung – so würden wir heute sagen – so vieler literarischer Felder verbunden: Roman, epische Poesie, literaturkritische, philosophische und politische Publizistik, Libretto, Märchen, Übersetzungen aus dem Englischen, Lateinischen und Griechischen, Aneignung antiker Kulturtraditionen. Nur in zwei Bereichen ist sein Name nicht vertreten – Lyrik und Theater. Zwar hat er auch für die Bühne Pionierarbeit geleistet, als er das erste Drama in Blankversen geschrieben hatte – später der deutsche Bühnenvers schlechthin –, aber für das Theater hatte er keine Hand. Und als Lyriker gibt es von ihm nur Gelegenheitsarbeiten: Sein Genre war die lange Verserzählung, die er zu einer nach ihm nicht wieder erreichten Virtuosität führte. So kam es aber, dass er in zwei Medien nicht präsent war, die für die Herausbildung des sogenannten (und meist fälschlich so genannten) Bildungsbürgertums entscheidend sind: das Schulbuch, wo alles, was länger ist als die Ballade, keinen Platz hat, und die Bühne. Man lernte keine Wieland-Gedichte auswendig und man traf sich nicht nach dem dritten Akt eines Wieland-Stückes im Foyer. Das war ein Grund, weshalb das 19. Jahrhundert Wieland kaum mehr las (mit Ausnahme des „Oberon“ – den aber las man der gleichnamigen Oper wegen). Auf den zweiten Grund werde ich weiter unten eingehen.

Wieland, geboren in Oberholzheim bei Biberach, aufgewachsen in Biberach als Sohn eines der Stadtpastoren, hatte sein Leben der Literatur gewidmet – Verse machte er schon als Knabe (deutsche und lateinische), sein Theologiestudium, für das ihn sein Vater zunächst bestimmt hatte, gab er auf und zog nach Zürich zu Johann Jakob Bodmer, einem der tonangebenden Streiter im damaligen Kampf um das Gesicht der deutschsprachigen Literatur. Von diesem Adoptiv-Vater, wenn man so will, emanzipierte er sich nach einiger Zeit, wurde Lehrer in Bern und zog dann in seine Vaterstadt Biberach zurück, wo er eine Stelle als höherer Beamter antrat. Schon in der Schweizer Zeit war Wielands Name in allen literaturinteressierten Kreisen bekannt, in der Biberacher Zeit wird er berühmt. Durch ihn lernt Deutschland Shakespeare kennen – als erster übersetzt er den größten Teil des dramatischen Werks, seine Inszenierung des „Sturm“ in Biberach ist die erste dieses Stückes in Deutschland. Durch seine „Geschichte des Agathon“ wird der Roman eine anerkannte Kunstgattung, und bis ins hohe Alter experimentiert er mit dieser Form. In seinen Verserzählungen zeigt er, dass die deutsche Sprache – woran zu zweifeln bisher mehr oder weniger Konsens gewesen war – es an Melodik mit den romanischen allemal aufnehmen konnte. Er experimentiert mit unterschiedlichen Versmaßen, zeigt, welche der deutschen Sprache erlauben, sich zwanglos zu binden.

1769 wird Wieland als Professor für Philosophie nach Erfurt berufen und von Erfurt geht er, dem Ruf Anna Amalias folgend, nach Weimar, um dort bis zum Regierungsantritt Carl Augusts als Erzieher des Prinzen tätig zu sein. Ab 1775 bezieht Wieland eine an seinen Aufenthalt im Herzogtum Weimar gebundene Pension und widmet sich ausschließlich seinen literarischen Tätigkeiten. Aber schon gleich nach seinem Umzug nach Weimar beginnt er damit, für diese Stadt ein kulturpolitisches Programm zu entwerfen. Er konzipiert die Form einer für kleine und nicht finanzstarke Fürstentümer (also die Regel in Deutschland) zugeschnittene Form der Oper – 1773 wird seine von Anton Schweitzer vertonte „Alceste“ uraufgeführt. Und er gründet eine Zeitschrift für Kultur und Politik, den dem berühmten französischen „Mercure de France“ programmatisch an die Seite gestellten „Teutschen Merkur“. Der wird die wichtigste literarisch-politische Zeitschrift Deutschlands, in ihr zeigt Wieland seine Fähigkeiten als Literaturkritiker, vor allem aber als politischer Journalist. Genauer als seine Zeitgenossen erkennt er die Bedeutung der revolutionären Ereignisse in Frankreich (ohne ihr Parteigänger zu sein) und dokumentiert und kommentiert sie ausführlich.

Als Goethe nach Weimar kommt, kommt er auch an einen Ort, der bereits durch Wieland zu einem für die literarische Öffentlichkeit in Deutschland zentralen Ort geworden ist. Gemeinsam holen sie Herder nach Weimar – ein Akt kulturpolitischer Personalpolitik. Es bedarf dann nur noch weniger Jahre, daß Weimar zu einem europaweit bekannten Ort wird. Als Wieland von Weimar nach Oßmannstedt zieht, wird auch dieses kleine Dorf eines, durch das auf einmal die Wege vieler gehen, weil sie bei Wieland Aufenthalt machen. Wieland empfing in den sechs Oßmannstedter Jahren etwa 110 Gäste, darunter Goethe, Johann Gottfried und Caroline Herder, Herzogin Anna Amalia, Sophie von La Roche, Sophie Brentano, Clemens Brentano, Karl Ludwig von Knebel, den Verleger Göschen, Jean Paul, Johann Gottfried Seume, Johannes Daniel Falk, Karl August Böttiger, der viele Anekdoten aus dem Weimarer Umkreis überliefert hat, die Herzogin Louise, den Bildhauer Johann Gottfried Schadow und den Maler Hans Veit Schnorr von Carolsfeld, sowie Heinrich von Kleist, der Anfang 1803 sechs Wochen bei ihm wohnte, und, so viel wir wissen, Wieland hier aus seinem unvollendeten Drama „Robert Guiskard“ vorgetragen hat. Die ausländischen Gäste kamen aus Holland, Dänemark, Schweden, Großbritannien, Frankreich, Portugal, Italien, Österreich und der Schweiz. So wurde Oßmannstedt ein Ort weltliterarischer Bedeutung.

Wielands Bedeutung, aber natürlich auch seine Prominenz, brachte es mit sich, dass er immer wieder zur Zielscheibe jüngerer Schriftstellergenerationen wurde. Der sogenannte „Göttinger Hain“, eine Gruppe von Klopstockverehrern, schmähte ihn als undeutsch, a-religiös und frivol und veranstaltete mit seinem „Idris“ die erste moderne Bücherverbrennung. Der „Sturm und Drang“, der junge Goethe eingeschlossen, stieß sich von ihm ab, und auch in den Goethe/Schiller’schen „Xenien“ zeigt sich in dem mit „Göschen an die teutschen Dichter“ überschriebenen Distichon einiger Neid: „Ist nur erst Wieland heraus, so kommts an euch übrigen alle, / Und nach der Lokation! Habt nur einstweilen Geduld!“[10] Für die Wieland-Rezeption des 19. Jahrhunderts war aber vor allem der Angriff der Schlegels im „Athenaeum“ bedeutsam. Mit ihm entstand das Bild des „negativen Classikers“, des überholten Dichters des Rokoko und der Aufklärung, des bloßen Wegbereiters der Weimarer Klassik.[11] Dieser Ansehensverlust Wielands vollzieht sich in den Oßmannstedter Jahren und zeigt sich materiell an der Werkausgabe. Nach 1802 wird sie nur noch in einer Ausgabe fortgeführt. Als Sophie Brentano, die Enkelin seiner Cousine und Jugendverlobten Sophie La Roche, Wieland in Oßmannstedt besuchen will, rät ihr der Bruder Clemens mit den Worten davon ab: „Aber wirklich, Liebe, Du mußt geblendet sein; denn was itzt ein Herz und eine Seele bedarf, das kann er nicht geben, denn er ist am Zeitbedürfnis gescheitert.“

Man könnte vor diesem Hintergrund meinen, in Oßmannstedt habe ein literarischer Pensionär gewohnt, der während der Endredaktion seiner gesammelten Werke das Verwelken seines Ruhmes mit angesehen habe. Das aber ist nur die eine Seite, die erwähnte Arbeit am Schreibtisch umfasst weit mehr: Es entsteht in Oßmannstedt ein Werkteil, der kaum zu überschätzen ist. In den „Gesprächen unter vier Augen“ (1798) reflektiert Wieland nicht nur die politischen Lehren der Französischen Revolution, sondern analysiert unter Überschriften wie „Über die Vorurtheile“ oder „Nähere Beleuchtung der angeblichen Vorzüge der repräsentativen Demokratie vor der monarchischen Regierungsform“ die politische Situation seiner Zeit. In den historischen Romanen „Agathodämon“ (1799) und „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ (1800-1802) analysiert er die historischen Wurzeln unserer Kultur. In letzterem, dem bedeutendsten und komplexesten Roman, den Wieland je geschrieben hat, hinterlässt er als Vermächtnis seinen Begriff von Aufklärung – und er tut es zu einer Zeit, in der er die anti-aufklärerischen Ressentiments wachsen sieht, sieht, wie die Ideale kosmopolitischer Orientierung zugunsten einer nationalen außer Kurs geraten, sieht, wie man wieder religiös wird, und vor allem: wie in der Literatur ein illiberaler Geist zusammen mit der Vorstellung einer privilegierten Verfügungsmacht über literarische und philosophische Wahrheiten sich Bahn bricht. Auf diese Tendenzen, besonders deutlich verkörpert in den Brüdern Schlegel, die – durchaus konsequent – Wieland zum Hauptfeind erklären, sind jene Worte aus der Einleitung zu den „Sämmtlichen Werken“ gemünzt, wo vom „Untergang“ der Sonne der deutschen Literatur die Rede ist.

Diese Diagnose war selbstredend falsch. Ältere Herren, die aus der Mode kommen, neigen dazu, die Welt untergehen zu sehen – Heinrich Heine sagte seinerseits über den alternden Schlegel dies: Er „sah die Sonne untergehn und blickte wehmütig nach der Stelle dieses Untergangs und klagte über das nächtliche Dunkel, das er heranziehen sah; und er merkte nicht, daß schon ein neues Morgenrot an der entgegengesetzten Stelle leuchtete.“[12]

So geht es nun mal. Aber Wielands Satz war doch mehr als nur der Ausdruck eines Verdrusses am Zeitgeist. Will man verstehen, was ihn am neuen Ton in Literatur und Philosophie abstieß, muss man sich vergegenwärtigen, dass Wieland eine bedeutsame Wandlung in seinem Leben vollzogen hatte. Ich meine nicht so sehr die vom religiösen Tugendschwärmer zum aufgeklärten Rationalisten, Freigeist und Erotiker, die immer hervorgehoben wird, obwohl auch die andere dazugehört. Ich meine die vom Eiferer für eine bestimmte Sorte Wahrheit zu einem, der seine Lebensmaxime einmal in die saloppe Formel gebracht hat, wir könnten nicht alle durch dasselbe Schlüsselloch in die Welt sehen.

Diese Haltung, die übrigens seinem persönlichen Temperament gar nicht entsprach – der Anekdoten sind viele, die Wieland als impulsiv, in seinen Urteilen oft voreilig schildern –, wurde ihm am Schreibtisch zur Natur. In einem seiner „Gespräche unter vier Augen“ geht es um den Begriff der öffentlichen Meinung, Wieland lässt einen Egbert und einen Sinibald miteinander sprechen, und dieser hatte eine vorläufige Definition der öffentlichen Meinung gegeben, der gemäß man von einem unausgesprochenen und sich langsam verfertigenden Konsens in den Fragen des politischen und sozialen Lebens ausgehen könnte, der schließlich gewichtig genug sein werde, um „in kurzer Zeit die größten Reiche umzukehren, und ganzen Welttheilen eine neue Gestalt zu geben“.

Darauf lässt Wieland seinen Egbert widersprechen und ein Resumée der französischen Ereignisse ziehen – und der Epoche der Aufklärung gleich mit: „Die Voltairen und Rousseaus, die Montesquieus und Mablys könnten Jahrhunderte lang schreiben, das Volk weiß nichts davon, kümmert sich nicht darum, und bleibt den Meinungen seiner Großmütter getreu. Kommt es aber jemahls, aus Ursachen, woran das Vok im Grunde ganz unschuldig ist, zu einem Aufruhr im Staate, so wirkt der erste beste hosenlose[13] Tollkopf, der auf einen Tisch steigt und mit donnernder Stentorstimme einem sich um ihn her drängenden Haufen Unsinn predigt, in zehn Minuten mehr, als die scharfsinnigsten und beredtesten Aufklärer, Weltverbesserer und Utopiendrechsler in der ganzen Welt in hundert Jahren. Denn er setzt fünf hundert Brauseköpfe seiner Art in Bewegung, die in eben so kurzer Zeit fünf tausend andere mit sich reißen. Der ungeheure Schneeball wird im Fortwälzen immer fürchterlicher; eine Myriade von Wahnsinnigen steckt die andere an; diejenigen, die es nicht sind, sind gezwungen, um des Lebens sicher zu seyn, es zu scheinen; und so steht, ehe man Zeit hat sich umzusehen, ein ganzes Reich in vollen Flammen, ruft eine ganze Nazion wie aus Einem Halse Freyheit und Gleichheit aus, ohne daß die öffentliche Meinung das geringste zu allem dem Unwesen beygetragen hat; da vielmehr im Gegentheil, sobald sich der erste Sturm legt, sogleich tausend verschiedene Meinungen zum Vorschein kommen, über welche man einander in die Haare geräth, und in deren Nahmen man nicht aufhört einander die Hälse zu brechen, bis sich endlich wieder eine Gewalt hervor thut, die den Leuten durch Bajonette, Flintenkolben und Guillotinen zu erkennen giebt, was sie meinen sollen. Dieß, lieber Sinibald, ist die wahre Geschichte der Volksmeinungen mit wenig Pinselstrichen nach dem Leben dargestellt! Wenigstens muß ich gestehen, daß mir in der Welt, so wie ich sie kenne, nichts aufgestoßen ist, das dem, was Sie sich unter der öffentlichen Meinung denken, ähnlich wäre.“

Nun lässt Wieland so replizieren: „Sinibald: Die Sache wäre also hiermit auf einmahl abgethan, und mir bliebe nichts übrig, als Ihnen meinen Beyfall zuzuklatschen und mich zu empfehlen. / Egbert: Verzeihen Sie! Ich habe Ihnen bloß meine Meinung von der Sache gesagt, und ich bin sehr bereit zu hören, was Sie mir dagegen einwenden wollen. Sinibald: Nein, lieber Freund! auf diesem Wege würden wir nicht weiter kommen, als daß am Ende jeder mit seiner Meinung davon ginge, und das können wir besser jetzt gleich thun, und uns den vergeblichen Wortwechsel und die verlorne Zeit ersparen. Wenn Sie, wie Tristram Shandy sagt, die Wahrheit als etwas, das wir noch nicht haben und einander suchen helfen wollen, betrachten können, so bin ich Ihr Mann; wo nicht –“[14]

Das Gespräch geht weiter – aber es endet nicht im Konsens, wie denn auch der Konsens nie das Ziel der von Wieland gestalteten Gespräche ist. Weder soll es, wir haben es gehört, darum gehen, dass einfach zwei Meinungen einander gegenüberstehen, noch darum, dass einer den anderen von seiner Meinung überzeugt. Ein ideales Gespräch findet dann statt, wenn beide sich in ihren Ansichten und Standpunkten verändern. Das Mittel dazu ist, immer mal wieder auf Zeit die Perspektive des Gegenübers einzunehmen und zu lernen, wie die Welt von einem Orte aussieht, der nicht der eigene ist. Man verwechsle das nicht mit Gleichgültigkeit, noch mit der Wieland immer wieder zugeschriebenen Haltung, die Wahrheit immer als Mitte zwischen den Extremen zu bestimmen. Das wäre nicht nur außerordentlich langweilig, sondern auch töricht. Das Extreme, das zu meiden ist, liegt nicht im Inhalt einer so oder so beschaffenen Meinung, sondern in der Art, in der sie vorgetragen wird: unduldsam vielleicht oder im Unfehlbarkeitston und mit der Unterstellung versehen, wer sie nicht teile, sei dumm oder bösartig.

Diese Haltung zu bekämpfen ist für Wieland die Quintessenz aufklärerischen Bemühens. Das hat dann allerdings auch inhaltliche Konsequenzen. Wer diese Haltung meidet, wer immer in Rechnung stellt, dass er sich auch irren kann, dass er nicht alles weiß, was er wissen sollte, dass der eigene Blick notwendigerweise begrenzt ist, wird nicht zu Ansichten kommen, die in ihren praktischen Auswirkungen rücksichtslos über die Köpfe anderer hinweggehen, gar sie um jene bringen. Auf der anderen Seite führt das aber zu keiner Beliebigkeit. Wenn das Gespräch in Gang gehalten werden soll, wenn man am Ende gemeinsam weiter sein will, als man es zuvor allein gewesen war, dann muss das Für und Wider erörtert werden, dann muss es scharf umrissene Ansichten geben. Am Ende kann der Konsens stehen, muss aber, wie gesagt, nicht. Dass ein Streit dazu da sei, am Ende in eine Gemeinsamkeit zu münden, ist Unsinn. Am Ende des Streits kann ein neuer stehen – man ist gemeinsam weiter-, aber nicht an einem gemeinsamen Ort angekommen. Wichtig ist nur, dass am Ende nicht dasselbe dasteht, und man nicht am selben Orte stehengeblieben ist, an dem man am Anfang stand. Das ist das A und O der Aufklärung, und Wieland predigt es weniger, als dass er es in der Form seiner Texte gestaltet. Darum wird sein letzter großer Roman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“, ein Briefroman, ein einziges großes Gespräch sein, das im Grunde nie endet, sondern immer neue Partner hereinzieht und allen Beteiligten die Chance gibt, nicht dieselben zu bleiben, die sie am Anfang sind.

Aber vor dem „Aristipp“ schrieb Wieland den „Agathodämon“, in dem er eine Frage weiterführte, die ihn schon in dem noch in Weimar geschriebenen „Peregrinus Proteus“ beschäftigt hatte. Beide Romane spielen in der Spätantike, und sie befassen sich mit dem Aufstieg des Christentums. Im „Agathodämon“ lässt Wieland das Leben das pythagoräischen Philosophen und vermeintlichen Magiers Apollonius von Tyana, der im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebte, von diesem selbst erzählen, und eingestreut in diese abwechslungsreiche Lebensgeschichte, die nebenher die allzu fantastisch geratene überlieferte Biografie in Ansehung des Möglichen und Wahrscheinlichen rektifiziert, sind allerlei psychologische Betrachtungen eingefügt: über den Hang der Menschen, an Wunder und Übernatürliches schlechthin zu glauben und Religionen auszubilden, über die historischen Bedingungen, die bestimmten Religionstypen günstig sind, und über die Auswirkungen so oder so beschaffener Glaubensvorstellungen auf das soziale, politische und geistige Leben. Wieland historisiert das Christentum radikal. Wiewohl sein Sieg für ihn die größte Revolution der Weltgeschichte gewesen ist, so war seine Entstehung doch an eine Reihe von Zufällen gebunden und seine Durchsetzung an die Besonderheiten der Spätantike, in der die traditionellen kulturellen Bindungskräfte schwach wurden und im ganzen römischen Reich eine Suche nach neuen Sinnorientierungen begann. Im „Peregrinus Proteus“, wo das Leben eines jungen Mannes geschildert wird, der alles einmal mitmacht, was es damals an Sinn-Angeboten gab – Philosophien und Religionen aller Arten, sektenartig verfasst, unterschiedlich geschickt im Proselytenmachen –, betont Wieland noch das Moment des Konspirativen im Aufstieg des Christentums: heimliche Zusammenkünfte, wechselseitige Protektion beim Aufstieg im Beamtenapparat des Reiches und so weiter. Im „Agathodämon“ stehen die historischen Rahmenbedingungen im Vordergrund.

Der Roman selbst bietet ein instruktives Beispiel für den Fortschritt der Aufklärung in Deutschland, das heißt für das Unkräftigwerden des Deutungs- (in diesem Falle: Selbstdeutungs)-Monopols der christlichen Religion. Wieland lässt seinen Apollonius sagen, was er von dem zentralen Gründungsmythos des Christentums hält, der Auferstehung des hingerichteten Religionsstifters. Wieland vertritt übrigens, wie viele Religionshistoriker nach ihm, die Auffassung, Jesus von Nazareth habe keine neue Religion begründen wollen, sieht ihn aber auch nicht als einen der vielen, die eine Reformation des Judentums angestrebt hätten, vielmehr sieht er in den Predigten Jesu den Versuch, etwas zu schaffen wie einen Glauben jenseits aller Religionen – ein bestimmtes von Gebets- und Ritualformeln möglichst freies, individueller Ausgestaltung zugängliches ethisches Verhältnis zu seinen Mitmenschen und eine Art außerkirchlicher Frömmigkeit – also ungefähr das, was Lessing in seinem „Testament Johannis“ als Kernbotschaft des Christentums ausgibt: „Kindlein, liebet einander“. Jesus habe diese Lehre durchaus als göttlichen Auftrag und sich als den geweissagten Messias verstanden. Erst am Kreuz sei er an dieser Überzeugung irre geworden. Sein Gottvertrauen sei zwar nicht geschwunden, sein Selbstvertrauen aber doch. Wieland versteht das Kreuzeswort „tetelestai“ nicht im Sinne des „es ist vollbracht“, sondern der ebenfalls möglichen Übersetzung „es ist vorbei“.[15]

Was nun die Geschichte von der Auferstehung angeht, so nimmt Wielands Apollonius eine Ohmacht am Kreuze an, die fälschlicherweise für einen frühen Tod des durch die mit dieser Hinrichtungsart traditionellerweise verbundenen Quälereien geschwächten Körpers angesehen wird – die Testamente überliefern ja die Verwunderung über den frühen Tod, denn normalerweise dauerte die Todesqual der Gekreuzigten viele Stunden, zuweilen Tage. Man nimmt ihn ab, und zwar verdächtigt Apollonius den Joseph von Arimathia, die Angelegenheit inszeniert zu haben: „Ich gestehe, dieser wackere Mann ist mir ein wenig verdächtig, wiewohl mein Verdacht ihm bey mir zur größten Ehre gereicht. Wahrscheinlich kam es auch ihm nicht glaublich vor, daß sein unglücklicher Freund, aller Anscheinungen des Todes ungeachtet, wirklich todt sey. Daher seine Eile, ihn vom Kreuz abzunehmen und in das, zu gutem Glück, in seinem Garten bereit stehende Grab zu schaffen, aus Furcht, daß er etwa zu früh wieder zu sich kommen, und seine Bemühungen, ihn zu retten dadurch vereiteln möchte.“[16]

Die Grabwächer werden bestochen, der vermeintliche Leichnam wird aus dem Grab entfernt. – „Die Folgen dieses außerordentlichen Ereignisses waren nothwendig von der größten Wichtigkeit für ihn selbst und die Seinigen. Der erstorbene Glaube der letzteren an ihn lebte nicht nur, sobald sie sich überzeugt hatten, daß er lebe, auf einmahl wieder auf; er bekam nun eine Festigkeit und Stärke, die von keinem Zweifel mehr angefochten, von keinen Vernunftgründen geschwächt, von keiner Furcht, Verfolgung noch Marter überwältigt werden konnte. Nun erst waren sie gewiß, daß der, den Gott von den Todten erweckt hatte, wirklich der vorher verkündigte Messias und Gottes Sohn sey.“[17] Er hält nun noch einige Predigten und verschwindet dann.

Der Roman ist, wiewohl zu großen Teilen monologisch, immer auch wieder ein Zwiegespräch zwischen einem Ich und dem Auskunft gebenden und erzählenden Apollonius, und so heißt es denn: „Erlaube mir nur Eine Frage. Was wurde aus dem Auferstandenen, nachdem er von den Seinigen Abschied genommen hatte? / Apollonius. Das ist mehr als ich beantworten kann. Die gemeine Meinung der Christianer ist, er sey vor ihren Augen auf einer Wolke gen Himmel gefahren. / Ich. In einer Ode laß’ ich das gelten; aber prosaisch von der Sache zu reden, – / Apollonius. Gieb dich zufrieden, daß ich nicht mehr davon weiß, als zwey Evangelienschreiber, die bey seinem Abschied zugegen waren, und weder dieser, noch irgend einer andern Art, wie er sich den Augen der Seinigen entzogen habe, mit einem Wort erwähnen. / Ich. Verzeih! Ich fühle daß meine Frage nicht zur Sache gehört. Weiß doch die Welt auch nicht, was aus Dir geworden sey, und trägt sich darüber mit den seltsamsten Sagen.“[18] Das Romangespräch findet übrigens in einem abgelegen kretischen Tal statt, in das sich Apollonius zurückgezogen hat.

Es ist nun anzuempfehlen, sich des Umstands bewusst zu sein, dass zwanzig Jahre zuvor Gotthold Ephraim Lessing die Gedanken des verstorbenen Hamburger Theologen und Philosophen Reimarus, die ihm dessen Witwe übergeben hatte, unter dem Titel „Fragmente eines Ungenannten“ als Fundstücke aus den Archiven der Wolfenbütteler Bibliothek veröffentlicht hatte. Es handelte sich unter anderem um eine Analyse der Auferstehungsgeschichte im Textvergleich der vier kanonischen Evangelien. Reimarus war zu dem Schluss gekommen, die Berichte seien widersprüchlich und unglaubwürdig. Er kam zu dem Schluss, die Jünger hätten den Leichnam entwendet. Die Veröffentlichung erregte einen Skandal, in dessen Zentrum die polemische Auseinandersetzung Lessings mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze stand. Goeze warf Lessing vor, das Christentum anzugreifen, Lessing versuchte, sich gegen diesen Vorwurf zu verteidigen – stilistisch virtuos, in der Sache im Grunde nicht überzeugend.

Was Lessing am Ende vorzuweisen hatte, nämlich ein keiner historischen Zeugnisse mehr bedürfendes Christentum, das auf das bereits zitierte Liebesgebot zusammenschrumpft, mag man sympathisch finden, nur eine Religion ist das nicht mehr, wie Wieland, der Jesus von Nazareth die Lessing’schen Intentionen zuschreibt, sehr wohl notiert: „Seine Lehre zweckt augenscheinlich dahin ab, alle unter den Menschen bestehenden Religionen zwar nicht geradezu zu bekämpfen oder abzuschaffen, aber doch so unnöthig und überflüssig zu machen, daß sie von selbst aufhören und aus der Welt verschwinden müssen.“[19]

Ein Ziel, dem Wieland seine Billigung nicht versagt. Für Lessing endete der Streit mit einem Publikationsverbot in dieser Angelegenheit. Zwanzig Jahre später wurde Wielands Roman in keiner Hinsicht mehr für skandalös gehalten. Zwanzig Jahre: Man sieht, wie sich die Emanzipation von der Verbindlichkeit religiöser Weltdeutung gegen Ende des 18. Jahrhunderts beschleunigt.

Dass Wieland versucht, die Karriere des Christentums aus den historischen Umständen der Krise des römischen Reichs in der Spätantike sowie im Medium der Biografie eines mystischen Philosophen und Magiers, dessen überlieferte Biografie allerdings von allem Fantastischen ebenso befreit wird wie die Evangelien von ihren Wundergeschichten, zu verstehen, entspricht der heutigen religionshistorischen Sicht. Ein im Jahre 2004 erschienenes Buch über „Die antike Welt und das Christentum“ weist anhand vieler textlicher und anekdotischer Parallelen auf die Einbettung der Evangelien-Erzählungen in die Flut spätantiker Wunder- und Gespenstergeschichten hin sowie auf die Parallelen zwischen den Evangelien und der Biografie des – Apollonius von Tyana.[20]

Wieland lässt seinen Apollonius den Propheten spielen und die weitere Geschichte des Christentums voraussehen. Sie wird in den düstersten Farben gemalt. „Statt des Lichts, das über die Welt aufgehen sollte, wird sich eine fast allgemeine langwierige Finsterniß über sie verbreiten, und statt der Humanität […] werden sie in eine noch größere Barbarey und Verwilderung zurück fallen.“[21] – „Das schlimmste ist, daß sie […] jeden Irrthum in Glaubenssachen für verdammlich, und die Beharrlichkeit bey einer Überzeugung, die ihnen irrig scheint, für ein sakrilegisches Verbrechen erklären, welches sie, sobald sie die Macht dazu haben, aufs strengste zu bestrafen nicht ermangeln werden. Das Unheil, das durch diese schwerlich jemahls beyzulegenden Fehden zwischen Rechtgläubigkeit und Irrgläubigkeit dereinst über die christliche Welt kommen wird, ist unübersehbar. Je größer die Autorität ihrer Aufseher und Lehrer alsdann seyn wird, desto schrecklicher wird diese bisher nie gekannte Pest wüthen.“[22]

„Wenn ich mich nun vollends in die Folgen, die das alles für die Moralität der künftigen Christianer haben wird, einlassen wollte, welche traurige Gemählde hätte ich dir noch aufzustellen! welche Verdunklung der klärsten Begriffe des allgemeinen Menschenverstandes! welche Zerrüttung des moralischen Sinnes! welche Vermengung des Heiligen mit dem Profanen! Du würdest Wahrheit als Irrthum und Verbrechen bestraft, verderbliche Grundirrthümer zu unzweifelhaften Wahrheiten, die Vernunft unter die Füße des blinden Glaubens, Laster zu Tugend, Verbrechen zu verdienstlichen Handlungen, Wahnsinn und Aberwitz zu Gegenständen der öffentlichen Verehrung gestempelt sehen, und deine Augen mit Ekel und Unwillen von dem häßlichen Anblick wegwenden. Aber es mag zu diesem Wenigen genug seyn.“[23] Auch das Ende dieser Zeiten und eine, sich auch über das Christentum erstreckende Aufklärung wird vorausgesagt, und damit – der Roman ist in der Zeit seiner Abfassung angekommen – schließt er auch.

Wieland liefert hier einmal den historischen Hintergrund für die Emphase, mit der er auf der zivilisatorischen Errungenschaft besteht, die Papst Benedikt der XVI. jüngst die „Diktatur des Relativismus“ genannt hat – einer Gesellschaft, die die Idee eines privilegierten Zugangs zur Wahrheit verwirft. Auch der Briefroman „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ kreist um diese Thematik, aber im Rahmen der Thematisierung einer anderen Epoche. Es ist das klassische Griechenland der Sokrates-Zeit. Der junge Aristippos aus dem nordafrikanischen Kyrene – eine historische Gestalt – macht eine Bildungsreise durch Griechenland und bleibt eine Weile in Athen, wo er sich im Kreis derjenigen jungen und nicht mehr ganz so jungen Leute aufhält, die um Sokrates sind.

Die Nachricht vom Prozess und der Hinrichtung des Sokrates erhält er während eines Aufenthaltes im sizilischen Syrakus. Weitere Reisen führen ihn nach Kleinasien, Nordgriechenland und wieder zurück nach Kyrene. Der Roman hat vier Bände, angelegt war er auf fünf, und der fünfte hätte unter anderem den Aufenthalt von Aristipp und Platon am Hofe des Dionys von Syrakus behandelt – gerade von ihm und vom unterschiedlichen Verhalten der beiden sind eine Reihe von Anekdoten überliefert. Vorbereitet hatte Wieland diesen ungeschriebenen Abschlussband mit einer umfänglichen Rezension der platonischen „Politeia“, die Wieland seinen Aristipp für einen Bekannten anfertigen lässt. Man muss hierbei berücksichtigen, dass in jenen Jahren Platon auf deutsch noch nicht vorlag, die Schleiermacher’schen Übersetzungen beginnen erst nach Abschluss des „Aristipp“. Wielands Roman hatte mithin auch einen philosophiehistorischen Bildungsauftrag: Es wird nicht nur über die „Politeia“ gesprochen bzw. korrespondiert, sondern auch über andere Dialoge Platons sowie über den Sokrates, den ein anderer seiner Schüler, der spätere Söldnerführer Xenophon, überliefert, und auch über die Sokrates-Karikatur, die wir in Aristophanes’ „Wolken“ finden. Wieland tritt hier auch als Altphilologe und Althistoriker auf – in dieser Rolle wird er seine schriftstellerische Laufbahn in Weimar beenden: mit der Übersetzung und ausführlichen Kommentierung der Briefe Ciceros in zeitlicher Reihenfolge. Und bereits in Oßmannstedt hatte er sich der Vermittlung griechischer Literatur zugewandt: In seinem eigens dafür gegründeten Periodikum „Attisches Museum“ veröffentlicht er Übersetzungen von Aristophanes und Euripides, Xenophons „Gastmahl“ und Teile von dessen „Erinnerungen an Sokrates“.

Das ist aber keineswegs bloße Bildungsvermittlung. Xenophons „Gastmahl“ soll das Bild einer Gesprächskultur zeigen, die dem entspricht, was Wieland unter Aufklärung verstand. Eine Kultur, geprägt durch das Gespräch Gleichberechtigter, in dem keiner behauptet, privilegierten Zugang zur Wahrheit zu haben. Platon und seine Philosophie aber waren für Wieland gleichsam prototypisch für eine Haltung, die solches Privileg für sich in Anspruch nimmt. Insofern ist der Aristipp-Roman auch eine Erkundung der Bedingungen, wie Milieus der Aufklärung erhalten oder zerstört werden können. Der Akademie Platons, wo die Vorstellung der Exklusivität des Zugangs zur Wahrheit und eine Fachsprache als Modus der Inklusion gepflegt werden, stellt Wieland den stets sich erweiternden Kreis derjenigen entgegen, die mit der Titelfigur Aristippos von Kyrene korrespondieren. Hierbei vollzieht der Autor Wieland formal im Roman, was er seine Gestalten in ihrer Art und Weise miteinander zu kommunizieren erleben lässt. Ist zu Beginn allein Aristipp, dessen Briefe wir lesen, so wird er zu einem, der Briefe schreibt und empfängt, schließlich gibt es Briefwechsel ohne ihn, und endlich wird er selbst Gegenstand der Korrespondenz. Der Radius der Korrespondenz wird stetig ausgeweitet, die Vielfalt der Stimmen einerseits größer, andererseits findet aber eine Angleichung in der Haltung insofern statt, als diese Vielfalt nicht als etwas erscheint, das im Konsens aufzuheben, vielmehr als etwas, das zu pflegen sei, weil nur so die Welt in ihrer Komplexität erfasst werden kann: Pluralität der Perspektiven ist die Bedingung der Welterfassung, die stetig sich erweiternde Kommunikationsgemeinschaft allein kann das leisten, was weder der Einzelne, noch die exklusive Gemeinschaft leisten können. Gegenüber einer Trennung in „Wir“ und „Sie“ erscheint als ethische Maxime wie als Bedingung der Welterkenntnis das, was man mit einem Worte des amerikanischen Philosophen Richard Rorty auf die knappe Formel bringen könnte: zu immer mehr Menschen „Wir“ sagen zu können.

In diesem Rahmen werden Themen der Philosophie, der Politik, der Geschichtsschreibung, der bildenden Kunst erörtert. Ausgesprochen lehrreich in vielerlei Hinsicht ist die Erörterung eines Gemäldes, das die Volksversammlung von Athen zum Gegenstand hat, eine Diskussion, die sich dem aufmerksamen Leser unter der Hand in eine Erörterung von Lessings „Laokoon. Oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie“ verwandelt – auch die nicht in Gestalt der Pflege des durchaus vorhandenen Dissenses, sondern als Perspektivenerweiterung angelegt.

Die Titelfigur Aristipp ist dabei – ohne allerdings allegorisch zu missraten – so etwas wie die Verkörperung des inkludierenden Prinzips der sich um ihn bildenden Kommunikationsgemeinschaft: Der wunderbar trocken-moderne Titel „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ ist sehr bedacht gewählt. Aristipps Einlassungen zu den Themen des Romans sind immer Formulierungen auf der Basis seiner im Roman gestalteten Individualität, und sie sind auch – wenn auch nicht immer (man muss da bei der Lektüre genau hinsehen) – Reflexionen über die im Roman vorgestellte Idee der Aufklärung. Weil aber die aristippischen Reflexionen sich nicht ablösen von der Individualität der Romanfigur, kann Wieland anhand der Verkörperung dieser Idee eines darstellen, das heißt mehr zeigen als sagen: dass die Haltung gelassener Inklusionsbereitschaft, der Genuss an der Vielfalt der Perspektiven, die Abneigung gegen intellektuelle Kameradschaften an die Voraussetzung des Privilegs gebunden ist. Nicht nur ans materielle, auf das uns Wieland gleich zu Beginn des Romans hinweist – Aristipp stammt aus wohlhabendem Hause, hat Geld und das erworbene Talent, es nicht zu überschätzen, und wird darum im ganzen Roman nie Geldsorgen haben –, sondern auch an das einer in allem anderen ungewöhnlich gelingenden Lebensführung: die Aristippische Philosophie, lässt Wieland den Diogenes von Sinope gegen Ende des Romans schreiben, scheine, anders als die anderen von ihm erörterten, im Grunde die am leichtesten lebbare zu sein, sie sei aber „eine so schöne und zugleich so schwere Kunst, daß, meines Bedünkens, nur ein besonders begünstigter Liebling der Natur, der Musen und des Glücks (schier hätte ich auch noch die schöne Lais hinzugesetzt) es darin zu einiger Vollkommenheit zu bringen hoffen darf.“[24]

„Die schöne Lais“ – damit ist die zweite Hauptperson des Romans genannt, und es dürfte schwerfallen, obwohl Lais vor Ende des Romans stirbt, einen anderen zu finden, der zwei derart sowohl in den erzählten Interaktionen gleichberechtigte wie in ihrer Bedeutung für den Roman austarierte Figuren aufzuweisen hat. Lais, wiewohl als die schönste Frau Griechenlands eingeführt, wiewohl über weite Strecken ihrer Biografie im Roman eine, der die schönsten und reichsten Männer Griechenlands und Kleinasiens zu Füßen liegen, ist eben dies nicht: vom Glück begünstigt. Das ist nicht nur vom Ende her gedacht: Sie stirbt, wie mit Grund zu vermuten, von eigener Hand, als sie einsehen muss, dass sie ihr Leben nicht mehr so, wie sie es einst geplant, würde weiterführen können. Denn ohnehin war dieser Lebensplan eine, wenn auch glänzende, Kompensation.

Wieland, der von seinem ersten Roman an – und nicht nur in seinen Romanen – die Asymmetrie des Geschlechterverhältnisses der Kritik und Analyse unterzog (was ihm bei seinen eigenen Zeitgenossen recht oft Kopfschütteln eintrug), lässt seine Lais eine radikalfeministische Theorie der Gesellschaft entwerfen und daraus einen Lebensplan gewinnen: Wenn sie – als Frau (ergänze: im antiken Griechenland, ergänze: ein jeder und eine jede entscheide, was daran und bis zu welchem Grade nur historisch ist) – dieselben Privilegien genießen wolle wie ein Mann (Selbständigkeit, eigenes Vermögen, Zugang zu den Quellen der Bildung), müsse sie die Schwäche des männlichen Machtkartells nutzen, nämlich die individuelle sexuelle Verführbarkeit und deren Komplement, den Dünkel der Unwiderstehlichkeit.

Wieland lässt Lais einen Lebensplan auf der Basis eines paradoxen Hetärentums entwerfen. Während die Hetäre Geld für das nimmt, was sie gibt, lässt sich Lais dafür bezahlen, was die Männer hoffen von ihr zu bekommen, ohne dass sie vorgibt, es auch wirklich zu gewähren. Was sich daraus an Verwicklungen und Konflikten ergibt, kann ich nur nachzulesen empfehlen. Klar ist, dass dieses Lebenskonzept an zwei Bedingungen geknüpft ist: an die Unwiderstehlichkeit der Lais, und nur wirkliche Göttinnen verfügen über ewige Jugend, und ihren Kaltsinn, das heißt ihre fehlende Bereitschaft (oder Fähigkeit), sich zu verlieben.

Lais muss sich (so lange sie kann) alle Optionen offenhalten – sie verkörpert darin eine Idee der Freiheit, die sich letztlich selbst zerstört. Eine Freiheit, die ihre Realität nicht darin lebt, dass sie sich in der Entscheidung aufhebt, und dadurch wiedergewinnt, dass das eingegangene Engagement neue Optionen ins Spiel bringt, ist keine. Wieland spielt in verschiedenen Szenen damit, dass Lais als schöne Statue erscheint, einmal gar an die Stelle einer solchen tritt: die Freiheit wird petrifiziert. Was aus, sagen wir: philosophischer Perspektive als Problematik von Freiheit und Engagement erscheint, zeigt sich der Psychoanalytikerin[25] als Bindungsunfähigkeit, und zwar als eine, die nicht von ungefähr kommt. Wieland schreibt Lais mit Bedacht eine besondere Vorgeschichte zu. Als kleines Mädchen ist sie als Sklavin in ein reiches Haus gekommen. Was dort vorfällt, lässt Wieland offen und lässt die Leserin und den Leser hoffen, dass es wegen des hohen Alters des Käufers des jungen Mädchens zu arg nicht gekommen sein mag – am Ende wird Lais wie eine Tochter aufgezogen und erbt das Vermögen ihre vormaligen Besitzers. Vor dem Hintergrund einer die psychische Entwicklung wenigstens im Modus der Möglichkeit und Drohung prägenden sexuellen Ausbeutung wird ihr Kaltsinn ebenso plausibel wie dessen plötzlicher Zusammenbruch und ihre Unfähigkeit, mit dieser Veränderung der Disposition zurechtzukommen: Die Verliebtheit wird als lebensbedrohlicher Freiheitsverlust wie als Zustimmung zu einem sich prostituierenden Leben gedeutet und mit dem Entschluss zum Selbstmord beantwortet.

Aber das Schicksal der Lais geht dennoch nicht in der Vorstellung eines Scheiterns (am Schicksal, an der Gesellschaft) auf. Auch das Unglück kann Privilegien produzieren – wenn man Glück im Unglück hat. Lais verkörpert auch jenen besonderen Beobachtungsposten, über den der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Buch „Moderne und Ambivalenz“ spricht. Der Nicht-Integrierte hat die Chance gegenüber der Gesellschaft einen ex-zentrischen Beobachtungsposten zu gewinnen und etwas zu sehen, was die anderen nicht sehen. Lais sieht nicht trotz, sondern auf Grund ihrer durch ihr individuelles Schicksal verengten Perspektive mehr als andere. Wieland verdeutlicht dies in der Art und Weise, wie sein Aristipp, den er das Kindheitsschicksal seiner Freundin referieren lässt, darüber elegant hinwegscherzt: Sie hat ihm nicht alles gesagt, ihm mangelt es an Empathie und Imagination.

Mit uns Lesern treibt Wieland übrigens ein Spiel: Wir erfahren nie, wie nahe sich Aristipp und Lais wirklich kommen. Sind sie einmal – für kurze Zeit – ein Liebespaar? Freunde jedenfalls sind sie geworden und Lais legt Wert darauf, dass dies im Großen und Ganzen so bleibt. In dieser Freundschaft ergänzen sich die Perspektiven, obwohl sie nicht konvergieren. Ohne das „Prinzip Aristipp“ würde das „Prinzip Lais“ zur Rücksichtslosigkeit, ohne das „Prinzip Lais“ das „Prinzip Aristipp“ zur bloßen Milde, ja Gleichgültigkeit missraten. Es ist Wielands Klugheit, nicht zu versuchen, beide Prinzipien in einem harmonisierenden dritten zu vereinigen. Ohne die Spannung geht es nicht – philosophisch nicht, psychologisch nicht und allemal ästhetisch nicht.

Im Jahre 1800 stirbt in Oßmannstedt Sophie Brentano. Sie hat sich in einem Brief an ihn über die Gestalt der Lais enthusiastisch geäußert. 1801 stirbt Wielands Frau Anna Dorothea. Beide werden am Ufer der Ilm bestattet, wo auch Wieland begraben sein will und nach seinem Tod 1813 wird. Anfang 1803 beschließt Wieland, Oßmannstedt zu verkaufen. Er ist in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und vor allem: allein. Böttiger berichtet von seinem letzten Besuch und von Wielands Auskunft, ohne Oßmannstedt hätte er den „Aristipp“ nie schreiben können, und dieser Roman sei „sein Liebling“. Er ist sein Hauptwerk geworden, sein Vermächtnis, seine Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei.

Noch ein Werk ist in Oßmannstedt entstanden, der kleine Briefroman „Menander und Glycerion“. Das Buch gerät ihm, wie einem großen Maler ein Aquarell gerät, bei dem er sich nach der Arbeit an einem riesigen Ölgemälde entspannt und wo jede Farbnuance die lebenslang geübte Hand verrät: Es ist eine der schönsten und lebenskundigsten Liebesgeschichten deutscher Sprache.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Vortrag wurde am 26.6.2005 anlässlich der Eröffnung des Museums im Wielandgut Oßmannstedt gehalten. Der Beitrag erschien erstmals in den „Oßmannstedter Blättern“ 2/2006. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

[1] Johann Gottfried Gruber, C. M.Wielands Leben, Vierter Theil, Leipzig 1828, S.169.

[2] Ebd. S. 174.

[3] Ebd. S. 184.

[4] Ebd. S. 185f.

[5] Wieland nannte sein Gut gerne in Anlehnung an Horazens Landgut Sabinum sein „Osmantinum“.

[6] Zum Thema Wieland und die Raubdrucker vgl. Christoph Martin Wieland, Schriften zur deutschen Sprache und Literatur, herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler, Frankfurt am Main 2005, Bd. 3 S. 301-372.

[7] Vgl. Christoph Martin Wieland, An das Publikum über einen in Wien angekündigten Nachdruck meiner sämmtlichen Werke, in: Ders.,Schriften zur deutschen Sprache und Literatur, Bd III, S. 354-356).

[8] Schriften zur deutschen Sprache und Literatur III, 311.

[9] Vgl. Schriften zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. II, 18-33 und  II, 59-121.

[10] Ein übrigens miserabel akzentuierter Pentameter – die Betonung auf „der“ schmerzt wie quietschende Kreide auf der Tafel.

[11] Eine Analyse der Transformation des Wieland-Bildes und seiner Folgen findet sich in der Einleitung zu den „Schriften zur deutschen Sprache und Literatur“.

[12] Heinrich Heine, Die romantische Schule. Kritische Ausgabe, herausgegeben von Helga Weidmann, Stuttgart 2002, S. 61.

[13] „Hosenlos“ = Sans-Culotte.

[14] Christoph Martin Wieland, Über die öffentliche Meinung, in: Ders. Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution, herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler, Nördlingen 1988, Bd. III, S. 505ff.

[15] Mit diesen Wortbedeutungen lässt Goethe seinen Mephisto während der Grablegung Fausts spielen.

[16] Christoph Martin Wieland, Agathodämon, in: Ders. Sämmtliche Werke, Bd. 32, Leipzig 1799, S. 401.

[17] Ebd. S. 416.

[18] Ebd. S. 418f.

[19] Ebd. S. 393.

[20] Vgl. Hans-Peter Hasenfratz, Die antike Welt und das Christentum, Darmstadt 2004, insbesondere S. 73-77.

[21] Wieland a.a.O. S. 444.

[22] End. S. 447.

[23] Ebd. S. 452f.

[24] Christoph Martin Wieland, Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, herausgegeben von Klaus Manger, Frankfurt am Main 1988, S. 866 (Buch. IV, Brief 17).

[25] Ich verdanke den Hinweis auf die Notwendigkeit, meine Ausführungen zur Gestalt der Lais (vgl. Jan Philipp Reemtsma; Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, Zürich 1993 u. München 2000, S. 179-252) schärfer zu pointieren, Ann Kathrin Scheerer.