Der öffentliche Autor

Parcours der Paderborner Poetik-Dozenten: Hartmut Steinecke, Norbert Otto Eke und Alo Allkemper haben den Band „Poetologisch-poetische Interventionen. Gegenwartsliteratur schreiben“ herausgegeben

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Uwe Johnson im Mai 1979 die Frankfurter Poetik-Vorlesungen nach zehnjähriger Unterbrechung wiedereröffnete, machte er gleich anfangs klar, nicht über Poetik und Gesellschaftskritik sprechen zu wollen, sondern über seine „Erfahrungen im Berufe des Schriftstellers“. Inzwischen sind die Poetik-Veranstaltungen an Universitäten und an diversen Kulturinstitutionen aus dem Boden geschossen. Bereits 1983 wurde in Paderborn eine Dozentur für zeitgenössische Autoren eröffnet. Es ist die dritte ihrer Art (nach der Stiftungsdozentur an der Frankfurter Goethe-Universität 1959 und der Mainzer Poetikdozentur der Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1980). Dreißig Autoren haben bislang in Paderborn ihren Auftritt gehabt. Grund genug für eine Neubesichtigung der Poetik, die sie an der westfälischen Universität vorgestellt haben.

Die Tafel der Autoren ist ebenso reich und vielseitig und braucht keinen Vergleich mit dem Frankfurter Vorbild zu scheuen. Max von der Grün, Erich Loest, Peter Rühmkorf, Peter Schneider, Dieter Wellershoff, Eva Demski, Herta Müller, Günter Kunert, Uwe Timm, Hanns-Josef Ortheil, Friedrich Christian Delius, Anne Duden, Hartmut Lange, Wilhelm Genazino, Volker Braun, Angela Krauß, Arnold Stadler, Josef Haslinger, Marcel Beyer, Robert Schindel, Ulrich Woelk, Robert Menasse, Judith Kuckart, Werner Fritsch, Albert Ostermaier, Lea Singer, Kathrin Röggla, Doron Rabinovici (die Dozentur 2012/13 hat Georg Klein inne) werden gewürdigt, in der Regel von etablierten Kennern des Werks aus der Fachwissenschaft wie Alo Allkemper, Friedmar Apel, Friedhelm Marx, Hartmut Steinecke und anderen.

Aus dem Themenspektrum der Poetik-Vorleser leuchten Mythos, Geschichte, Autobiografie, Welt und Wirklichkeit hervor. Es sind ästhetische Stichwörter, Schlüssel zum Selbstverständnis und selbstausgesuchte Themen derer, die freimütig über ihr Schreiben Auskunft gegeben und meist auch aus ihren Werken gelesen haben. Inzwischen haben die Autoren Werkausgaben bekommen (wie Max von der Grün, 2011), den Nobelpreis (wie Herta Müller 2009) oder öffentliche Facebook-Accounts angelegt (wie Robert Menasse).

Damit stellt sich eines der drei wichtigen Probleme jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur, die Kanonfrage. Wenn der Kanon die Richtschnur für das ist, was bleibt, wie weit kann dann der, der dieses Maß anlegt, eigentlich zurück- und vorausblicken? Mit dem Kanon hängt die Frage der Dauer der literarischen Gegenwart zusammen. Norbert Otto Eke lässt in seinem klugen Vorwort keinen Zweifel daran, wie sehr die Fremd- und Selbstkanonisierung der Gegenwartsliteratur durch den Markt und durch das jeweilige Künstlerbild beziehungsweise die Autoren-Poetik gesteuert ist. Durch die Poetik-Vorlesung gelingt, systemtheoretisch gesagt, ein „Re-Entry“ in die Gegenwart, die ja eine Beobachterposition zweiter Ordnung erfordert, von welcher aus die Differenz zwischen dem Beobachtbaren (den publizierten Werken, den Bestsellern zumal) und dem Nichtbeobachtbaren (den Werken in der Schublade, den übersehenen Neuerscheinungen) selbst beobachtbar wird. Es entstehe, so Eke, eine „Beobachtungsdistanz“ zur Gegenwart „in der Nähe“. In diesem Sinne traktieren die Einzeldarstellungen mit wechselnder Umsicht die Poetik des jeweils untersuchten Autors als ästhetisches Programm mit offenen Entwicklungen.

Die zweite Frage betrifft die Beobachtungsgrundlage des Wissenschaftlers. Im Gesamtblick auf die Beiträge wird deutlich, dass die germanistische Betrachtung der Gegenwartsliteratur der theoretischen Reflexion bedarf. Man kann, so abermals Eke, die Poetik-Vorlesung demgemäß als Treffpunkt von Akteuren, Instanzen, Nutzern des Literaturbetriebs verstehen und dann feldtheoretisch als Arena, in der um symbolisches und ökonomisches Kapital gerungen wird, bestimmen, oder praxeologisch als Ballungsraum sozialer Kommunikationspraktiken erklären.

Gerade angesichts der Tatsache, dass das Werk des zeitgenössischen Autors weiterwächst, während man es interpretiert (oft zum Schrecken von Doktoranden), stellt sich verschärft die dritte Frage – die nach der veränderten Rolle der Autorschaft. Der Autor ist nimmer tot, sondern literaturbetrieblich hochpräsent; jeder kann statistisch jeden zweiten Tag im Jahr einen Literaturpreis erhalten oder jede zweite Woche eine der zahlreichen Poetikdozenturen im deutschsprachigen Raum. Dem Nachteil einer „schleichenden Re-Auratisierung des Autors“ (Eke) steht dabei der große Vorteil gegenüber, dass der sich selbst erklärende Autor das Material liefert, das in der Gegenwartsliteraturforschung ansonsten meistens fehlt.

Uwe Johnson meinte seinerzeit in Frankfurt, für ihn werde die Poetikdozentur „eine Gelegenheit sein, abschliessende Auskunft zu geben in den Fragen, die freiwillige Leser oder Verfasser von Dissertationen mir so unablässig gestellt haben“. Die Arbeit liegt bei den Lesern und Interpreten, die den poetologischen Faden aufnehmen und die „Interventionen“ fortsetzen.

Titelbild

Alo Allkemper / Norbert Otto Eke / Hartmut Steinecke (Hg.): Poetologisch-poetische Interventionen. Gegenwartsliteratur schreiben.
Wilhelm Fink Verlag, München 2012.
450 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770554065

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