Geschlechter als Ablenkung

Denise Roth entschlüsselt Theodor Fontanes „Effi Briest“ und Gabriele Reuters „Aus guter Familie“ poetologisch

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es geht nicht immer gerecht zu auf der Welt. Eigentlich sogar nur höchst selten. Das weiß jedes Kind. Und was für die Welt gilt, gilt für die Literatur nicht minder. Dabei mag es in den Welten der Literatur dann und wann schon gerecht zugehen, ganz wie es dem Autor oder der Autorin beliebt. Aber im Literaturbetrieb, der ja nun mal seinerseits in der Welt angesiedelt ist, da geht es eben meist nicht gerecht zu. Oder ist es etwa gerecht, dass ein Autor und eine Autorin, die zu Zeiten ihres Schaffens – nahezu – gleich berühmt, beliebt und erfolgreich waren, hundert Jahre später ganz unterschiedlich rezipiert werden. Das heißt, die Autorin wird – sieht man einmal von einer Handvoll GermanistInnen ab – eigentlich überhaupt nicht mehr rezipiert, während dem Autor die Weihen des Kanons und die Aufnahme in die Schullektüre zuteil wurden. Ist das etwa gerecht?

Denise Roth findet schon. Jedenfalls im Falle von Theodor Fontane und Gabriele Reuter. In einer Studie mit dem vermutlich nicht wenige LiteraturwissenschaftlerInnen provozierenden Titel „Das literarische Werk erklärt sich selbst“ unternimmt sie es, ihre These zu validieren, indem sie Fontanes „Effi Briest“ und „Aus guter Familie“ von Reuter „poetologisch entschlüsselt“.

Ein Unterfangen, mit dem die Literaturwissenschaftlerin etwa ihren Kolleginnen Renate von Heydebrand und Simone Winko widerspricht. Die „Mängel“ der von dem Autorinnen-Duo verfassten Studie „Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon“ dienen Roth als Grundlage der Formulierung des eigenen Forschungsinteresses. Dabei untersucht und negiert die Autorin Heydebrands und Winkos These, „dass Reuters Roman dem Klassiker ‚Effi Briest‘ auf formaler Ebene mindestens ebenbürtig ist“. So lautet sie zumindest in der Paraphrase von Roth. Lobende Worte findet die Autorin hingegen für Katja Mellmanns Kommentarband zu dem von dieser vor einigen Jahren neu herausgegebenen Roman Reuters, da er sich für die „erste Rezeptionswelle und vor allem für die Bewertung des Romans durch zeitgenössische Rezensenten“ als „informativ und detailliert recherchiert“ erweise.

Anhand der beiden Romane von Fontane und Reuter beleuchtet Roth die „Relevanz autonomieästhetischer Kriterien für die Aufnahme im Kanon der Weltliteratur“. Der, wie sie formuliert, „Fokus des Forschungsgegenstandes“ richtet sich also gerade „nicht auf die Frage der tatsächlich wirkenden Geschlechterdifferenz bei Kanonisierungsprozessen und der Existenz eines männlichen Blicks in der Literaturwissenschaft“, sondern „auf den Aspekt der ästhetischen Qualität der Romane“. Roth vergleicht die beiden Werke Fontanes und Reuters „auf formalästhetischem, rein literaturwissenschaftlichem Fundament, ohne Ablenkung durch sozio-historische, biographische oder gender-orientierte Aspekte“ und beurteilt „nicht das ‚Was‘, sondern das ‚Wie‘ der Gestaltung komparatistisch“. Dabei legt sie ihrer Studie die „auf den Kunstwerkcharakter eines Romans bezogene Literaturtheorie des Literaturwissenschaftlers Horst-Jürgen Gerigks zugrunde, in der „eine philosophische Hermeneutik zum Tragen kommt“, weiß sich aber auch „der Ästhetik Kants verpflichtet“.

Ihre Untersuchung führt Roth zu dem Schluss, dass Fontanes „Art der Verständnislenkung auf außerfiktionale Zusammenhänge in Relation zur innerfiktionalen Plausibilität“ derjenigen Reuters „deutlich überlegen“ sei, deren Roman sie zudem „Inkonsequenz des Sprachlichen“ anlastet. Die „Aufschlüsselung der innerfiktionalen Ebene“ beider Werke zeige zudem, dass „Aus guter Familie“ im Vergleich zu „Effi Briest“ an „gravierenden Defiziten in der Ausgewogenheit zwischen innerfiktionaler Plausibilität der Handlung und deren außerfiktionalen Dienst“ leide. Überhaupt lebe Reuters Protagonistin Agathe Heidling in einer „inkonsistenten Welt“. Diese (und nicht etwa das Geschlecht der Autorin) könne „für die ausgesprochen wechselhaft verlaufende Rezeptionsgeschichte des Romans verantwortlich sein“.

Allerdings, so räumt Roth ein, könne ihre Studie „kein abschließendes Urteil“ darüber fällen, warum Reuters Roman nicht kanonisiert wurde. Eine Frage, die zudem „sicherlich nicht nur über eine autonom-ästhetische Interpretation geklärt werden“ könne. Jedenfalls aber sei der Roman „gemäß den Kriterien der Autonomieästhetik nach Kant, die für die Aufnahme in den Kanon der Weltliteratur ausschlaggebend sind“, Fontanes Werk „unterlegen“.

Dessen ungeachtet sei „die Thematik“ von Reuters Roman „von zeitüberdauerndem Interesse“. Dem dürfte wohl so sein. Roths Begründung, dass „die Geschichte vom Mädchen aus guter Familie“ eine „allgemeinmenschliche‘ Tragik“ spiegelt, überzeugt jedoch nicht. Denn es ist ja wohl eher eine geschlechtsspezifische. Zu solchen Irrtümern gelangt man eben, wenn man sich nicht von „Gender-Aspekten“ ‚ablenken‘ lässt.

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Denise Roth: Das literarische Werk erklärt sich selbst. Theodor Fontanes "Effi Briest" und Gabriele Reuters "Aus guter Familie" poetologisch entschlüsselt.
Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2012.
502 Seiten, 70,00 EUR.
ISBN-13: 9783865736796

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