Der entlaufene Romantiker

Heinrich Detering untersucht Theodor Storms lebenslangen Kindheitskult

Von Thorsten CarstensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Carstensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In lesefreundlichen Ausgaben gehören die Novellen Theodor Storms – vor allem seine Hauptwerke „Der Schimmelreiter“ und „Pole Poppenspäler“ – bis heute zum festen Kanon der Schullektüre. In der Germanistik dagegen findet der Husumer Schriftsteller nicht immer die Beachtung, die seine Texte verdienen. Zuletzt hat sich allerdings auch in der Forschung so etwas wie eine Storm-Renaissance abgezeichnet, aus der sich frische Perspektiven auf den Poetischen Realismus im allgemeinen ergeben sollten. Eine zweitägige Tagung zum Thema „Wirklichkeit und Wahrnehmung“ in Storms Werken an der Berliner Humboldt-Universität unterstrich etwa die Relevanz dieses Autors für ästhetische und kulturtheoretische Fragestellungen. Heinrich Deterings emphatische Auseinandersetzung mit Storm vor dem Hintergrund seines lebenslangen Kindheitskults belegt nun exemplarisch, dass die Literaturwissenschaft aus den Verstrickungen von Biografie und Werk mehr als nur anekdotische Erkenntnisse gewinnen kann. Die Studie des in Göttingen lehrenden Germanisten präsentiert Storm als „entlaufenen Romantiker“, der sich von Beginn an „als einen erwachsen Gewordenen auf der Suche nach der verlorenen Kindheit“ inszeniert.

Er liebe die Kinder, schreibt der zwanzigjährige Storm 1838 in einem Brief an Therese Rowohl, da sie die Welt und sich selbst „noch im schönen Zauberspiegel ihrer Phantasie sehen“. Dass diese Liebe Storms in jungen Jahren allerdings recht unheimliche Züge trägt, zeigt Detering mit einer für die Germanistik seltenen Mischung aus sprachlicher Gewandtheit und analytischer Präzision gleich zu Beginn, wenn er den wohl heikelsten biografischen Aspekt beleuchtet: Storms drängende Zuneigung zu Bertha von Buchan, in die er sich Weihnachten 1836 verliebt; er ist neunzehn, sie gerade zehn Jahre alt. Für und an Bertha – 1842 wird er vergeblich um ihre Hand anhalten – wird der junge Dichter fortan erotische Gedichte schreiben, deren drastischer pädophiler Subtext durch den oft neckischen Ton und die Genre- und Kontexteinbettung überlagert wird. In dem erstaunlichen Anfangskapitel seines Buchs erläutert Detering die „camouflierende Stilisierung“ der Kindheit anhand mehrerer Gedichte aus dem 1843 erschienenen „Liederbuch dreier Freunde“. Man liest diese Passagen reichlich beklommen. Schon in der spielerischen ersten Strophe der „Rechenstunde“ schwingt Bedrohliches mit: „Du bist so ein kleines Mädchen, / Und hast schon so helle Augen, / Du bist so ein kleines Mädchen / Und hast schon so rothe Lippen.“

Den gewaltsamen Einbruch einer Leidenschaft, die sich mit dem voyeuristischen Blick nicht mehr begnügen kann, hält dann das Gedicht „Liebeslaunen“ fest. Das Kind, das vom Vergewaltiger zurück zur Mutter will, muss nun zum Schweigen gebracht werden: „‚Der Mutter sag’ ich’s!’ ruft das tolle Kind, / ‚Was für ein Traum!‘ – Da hasch’ ich sie geschwind, / Und zwing’ mit tausend Küssen sie zu eigen, / Bis sie auf’s Neu mir Liebe schwört und Schweigen.“

Wie Detering plausibel darlegt, verbirgt sich hinter diesen Zeilen ein genuin romantisches Motiv, nämlich die Wunschfantasie, das Bild der unschuldigen Kindheit dauerhaft zu fixieren. Vor diesem Hintergrund lasse sich auch das 1838 geschriebene Kunstmärchen „Hans Bär“ lesen: Mit der Geschichte eines allmächtigen Kindes, die Storm der heranwachsenden Berta widmet, soll das Objekt der Begierde „rückwärts in die Kindheit“ gesungen werden.

Mit dem Erlebnis der Vaterschaft kommt es bei Theodor Storm um 1850 zu einer Modifizierung des Schreibens. Nach der Geburt seines Sohnes Hans gewinnt der Autor eine „Außenansicht realen Kinderlebens“, die es ihm erlaubt, sowohl die Traumata der eigenen Kindheit wie auch das romantische Fantasma des Kindes in den frühen Texten aus der Distanz zu betrachten. Transformiert in landschaftliche Szenerien, spielt die verbotene Lust jedoch auch in den ersten Kapiteln der Erzählung „Immensee“ (1849-1851) noch eine zentrale Rolle: Unschuldig ist die dargestellte Geschwisterlichkeit allenfalls auf den ersten Blick. Aus der poetologisch-selbstreflexiven Anlage des Textes folgert Detering, dass Verklärung nun übergehe in Verdrängung: Indem Reinhardt sein Begehren für die junge Elisabeth in einem Gedicht artikuliert, verwandelt er das individuelle Mädchen in ein romantisches Fantasma: „Aus den Augen des königlichen Kindes schaut den erwachsen Gewordenen das Goldene Zeitalter an.“ So wird die Erotisierung innerhalb eines metafiktionalen Rahmens gezähmt.

Den Kern dieser Kunst- und Kindheitsreligion verortet Detering in Storms Weihnachtskult. Storms „Weihnachtslied“ (1852), das sprachlich wie motivisch an die romantische Vision Goethes und Eichendorffs anknüpft, verdichtet im „frommen Zauber“ der heiligen Nacht das Kindsein als Goldenes Zeitalter, das der Erwachsene sich allenfalls mühevoll zurückerobern kann. Die Wiederkehr der Kindheit, so Detering, mache für Storm „die eigentliche religiöse Epiphanie“ aus. Wenn also in der Novelle „Unter dem Tannenbaum“ (1862) Christus als himmlisches Kind, „in mythenträchtiger und märchenseliger Verklärung“, auftritt, wird das häusliche Weihnachtsfest nicht nur zum „Inbegriff unzerstörbarer Traditionsbindung“ erhoben. Weihnachten zu feiern, bedeutet dann ausdrücklich, die Verbindung von Kindheit und Frömmigkeit sentimentalisch zu wiederholen.

„Die Spur von meinen Kinderfüßen sucht ich“, heißt es programmatisch in dem Gedicht „Frauen-Ritornello“, „doch konnt ich sie nicht finden.“ Die hier artikulierte Erkenntnis, dass der Weg zurück in die Kindheit versperrt ist, bestimmt Theodor Storms Aneignung und Umschreibung der romantischen Tradition. Doch während der junge Dichter in kompensatorische Fantasien des keuschen Kindes flieht, ist Storms spätere Lyrik durch eine absolute Erfahrung von Fremdheit in der Heimat gekennzeichnet. Die Ur-Katastrophe vom Verlust der Geborgenheit lässt sich auch in der Dichtung, Detering zeigt es an dem großen Gedicht „Meeresstrand“ (1853), nicht mehr umkehren. Dessen letzte Zeilen fassen das unstillbare Heimweh zusammen: „Noch einmal schauert leise / Und schweiget dann der Wind; / Vernehmlich werden die Stimmen, / Die über der Tiefe sind.“ Ein für allemal verflogen ist der Duft der Eichendorff’schen Zauberwelt: Die Dinge sprechen zwar noch zum Menschen, doch verständlich machen sie sich nicht mehr.

Die vollständige Erschließung der romantischen Kindheits-Konzepte in Theodor Storms Werk strebt Detering bewusst nicht an. Gerade durch diesen Mut zur Lücke ergeben sich für den Leser spannende Einblicke in eher randständige Texte: Wer sich etwa für die aufklärerische Religionskritik in der 1861 entstandenen Novelle „Veronica“ interessiert oder für Storms Anleihen bei Theodor Mommsen, wird dieses Buch mit Gewinn lesen. Vor allem ist es jedoch die kenntnisreiche Interpretation von Storms frühen Gedichten und seinen Kindermärchen, die diese Studie zu einem unverzichtbaren neuen Wegweiser für die Forschung machen. Und weil sich thematische und methodische Vielfalt aufs Schönste ergänzen, gelingt es Heinrich Detering, dem Storm’schen Fantasma der Kindfrau in seinen unzähligen Varianten auf den Grund zu gehen, ohne dabei das Instrumentarium der psychoanalytischen Literaturwissenschaft bemühen zu müssen.

Titelbild

Heinrich Detering: Kindheitsspuren. Theodor Storm und das Ende der Romantik.
Boyens Buchverlag, Heide 2011.
304 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783804213333

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