Zwischen Alltag und Apokalypse. Oder: Wie viel Fantasie passt in 140 Zeichen?

Florian Meimberg schreibt Kurzgeschichten im Twitter-Format: Auf die Länge kommt es an!

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Er hatte den See überquert. Zu Fuß. Das musste sich doch vermarkten lassen. Er trommelte seine 12 besten Freunde zusammen.“ Szenenwechsel. Ein Zimmermädchen schiebt heimlich einen Spitzen-BH in das Reisegepäck eines knausrigen Trinkgeldgebers. Andernorts steuert gerade außerirdisches Leben auf unsere Erde zu. Nick schläft mit seiner Schwester. Entdecker bergen derweil ein fossilisiertes I-Phone. Irgendwo sonst geht plötzlich die Welt unter.

Florian Meimberg schreibt kurze Geschichten. Sehr kurze Geschichten, so genannte Tiny Tales. Nicht länger als 140 Zeichen – twittergerecht, sozusagen. Geschichten so lang wie ein Tweet. Auf denkbar wenig Raum muss Platz für Protagonist und Handlung, Exposition, Konflikt und Auflösung sein. Es sind Krimis, Groteske, Witze, Anekdoten, Liebesgeschichten, Tragödien und Dramen in Miniversion. Happy End? Eher selten. Vielmehr changieren Meimbergs Texte aus seinem Erzählband „Auf die Länge kommt es an“ irgendwo zwischen Alltag und Apokalypse.

Vor etwas mehr als zwei Jahren gab es zwar sein Buch noch nicht, doch schon damals war Meimberg mit seinen Kurzgeschichten im Twitter-Format sehr erfolgreich. Er erhielt 2010 den Grimme Online Award für seine Idee, auf der Mikroblogging-Plattform regelmäßig kleine literarische Fiktionen zu veröffentlichen – und das nicht als moderne Fortsetzungsromane, sondern als in sich abgeschlossene, wirkungsvolle Geschichten. Der Grimme-Preis war wohl ausschlaggebend für Meimbergs Idee, seine zahlreichen Mini-Erzählungen zu entkontextualisieren und in einem Buch zusammenzutragen – „so richtig oldschool“ zitierte ihn damals die Frankfurter Rundschau. Das Resultat erschien nur ein Jahr später im Fischer Taschenbuch Verlag. Stilsicher in kreischendem Twitterblau.

Thematisch könnten die Geschichten kaum unterschiedlicher sein: Mal geht es um die Enthüllung und Dekonstruktion althergebrachter Mythen, zum Beispiel wenn endlich eine Erklärung dafür gegeben wird, warum die Maya den Weltuntergang auf das Jahr 2012 datierten („Die Steinplatte war voll“), oder wenn Lukas hinter das Geheimnis des Bermudadreiecks kommt („Die Frauen. Die Cocktails. Die niemals endende Party.“). Mal kreisen die Tiny Tales um zeitgeschichtliche und -politische Themen: den 11. September 2001, die weltweiten Terroranschläge, Amokläufe oder auch die deutsche Zweistaatlichkeit in Form eines DDR-Fluchtversuchs eines jungen Paares: „Hand in Hand liefen sie durch das hohe Gras. Die sonnige Abendluft roch nach Freiheit. Dann peitschten zwei Schüsse über den Todesstreifen.“

Hochzeitspannen stehen neben Kannibalismus-Geschichten, Zukunftsvisionen, Inzestfälle und Weltuntergangsszenarien neben Märchen, Putzfrauenstreichen und überirdischen Parallelwelten. Das eigentlich Raffinierte an ihnen: ihre Vieldeutigkeit. Wurde beispielsweise das junge Paar tatsächlich von den Grenzschützen erschossen? Trog sie der Duft der Freiheit? Oder haben sie es geschafft? Was bedeutet überhaupt Freiheit? Das Überwinden der innerdeutschen Grenze oder vielleicht doch der Tod? Meimbergs Geschichten geben keine Antworten. Sie skizzieren, deuten an, entwerfen scherenschnittartige Bilder: niemals mehr als 140 Zeichen groß. Sie mit Details, mit Leben und Bedeutung zu füllen, bleibt Aufgabe der Fantasie. Das kann großen Spaß machen! Etwa bei der Vorstellung, Mona Lisas sagenumwobenes Lächeln sei eigentlich ein unterdrücktes Prusten über einen ferkeligen Witz Da Vincis, oder Ballacks Ausfall bei der WM 2010 beruhe auf einem heimlichen Abkommen zwischen ihm und Kevin Prince Boateng, um seine Flugangst zu kaschieren. Manche Geschichten lassen einen auch innehalten. Zum Beispiel jene Szene, die zwar ob ihrer Kürze zunächst etwas kryptisch anmuten mag, dann aber ihre Wirkung nicht verfehlt, sobald klar wird, wie bedeutsam die in nur 139 Zeichen geschilderte Begegnung für die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts gewesen wäre, hätte sie denn tatsächlich stattgefunden: „Klara musterte den seltsamen Mann. ‚Welcher Adolf? Ich habe überhaupt keinen Sohn!‘ Der Fremde lächelte. ‚Noch nicht‘, sagte er und schoss.“

Die eigentliche Krux von „Auf die Länge kommt es an“ liegt kaum in den einzelnen Geschichten selbst. Viele von ihnen sind unterhaltsam, reizvoll und wissen zu faszinieren. Problematisch scheint vielmehr das Fehlen ihres eigentlichen Publikationszusammenhangs. Während Meimbergs Tiny Tales via Twitter je für sich allein wirken konnten, wird ihnen dieser Raum zur Entfaltung unter so vielen gleichgesinnten Artgenossen regelrecht abgeschnitten. Geschichte reiht sich an Geschichte und zwecks besserer Übersichtlichkeit sind sie überdies in 16 schlagwortartige Kapitel – beispielsweise Lüge, Chaos, Leben, Glück und Tod – strukturiert. Das zwingt dazu, sie in einem bestimmten Licht zu lesen und lässt ihnen unweigerlich die Rolle zukommen, nur eines von vielen Beispielen für das ihnen übergeordnete Thema zu sein. Auch kann diese Ordnung nach Themenfeldern nur schwach darüber hinwegtäuschen, dass sich viele der den Geschichten zugrunde liegenden Ideen allzu oft wiederholen, wie etwa der Sieg der Technik über den Menschen, der atlantisgleiche Untergang großer Metropolen, die Steuerung der Welt durch höhere Wesensformen oder auch die (zum Teil befremdlichen) innerfamiliären sexuellen Beziehungen. So überschattet die Quantität oft die Qualität, und manche Geschichten gehen darin deshalb beinahe verloren – kleine Gedanken mit großem Effekt. Kleinode wie diese hier: „Die Maschine stand vor ihm wie ein Mahnmal. ‚Es ist einfach zu gefährlich‘, murmelte Johannes Gutenberg. Und entzündete das Streichholz.“

Titelbild

Florian Meimberg: Auf die Länge kommt es an. Tiny Tales. Sehr kurze Geschichten.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
191 Seiten, 7,99 EUR.
ISBN-13: 9783596192373

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