Die Stirn gen Osten geneigt

Friederike Heimann untersucht in ihrer Studie „Verborgene deutsch-jüdische Diskurse“ in den Werken Gertrud Kolmars

Von Karin Lorenz-LindemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin Lorenz-Lindemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gertrud Kolmar gehört neben Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs zu den herausragenden deutsch-jüdischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. In der Berliner Februaraktion 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert und ermordet. Bis zuletzt hat sie in der Nacht an ihren Dichtungen gearbeitet – Kreativität gegen den Tod.

Nun endlich gerät Kolmars Werk intensiv in den Blick internationaler Forschung und wird seinem außerordentlichen künstlerischen Rang angemessen erschlossen und gewürdigt. Es entsteht die Gesamtausgabe des in der NS-Zeit bald verbotenen und allein im Jüdischen Kulturbund noch rezipierten Werkes, das nach Kriegsende nur bruchstückhaft und zum Teil nicht textgerecht publiziert worden war.

Friederike Heimann verzichtet in ihrer nun vorliegenden Dissertation auf den in vergangenen Jahren verbreiteten Ansatz feministischer, psychologischer oder biografieorientierter Kolmar-Forschung. Ihre Analyse ist vorrangig dem Werk verpflichtet. Sie wendet sich im ersten Teil ihrer Arbeit lebensgeschichtlichen Zusammenhängen der Dichterin und den Wandlungen ihres Selbstverständnisses als deutscher Jüdin zu und arbeitet heraus, wie versagte Lebenserfahrung und äußerste Deprivation in der NS-Zeit sich im Werk Kolmars niederschlagen und in Kunst überführt werden.

Im zweiten Teil der Arbeit konzentriert sie sich auf ein einziges Gedicht des 1937 niedergeschriebenen Gedichtzyklus „Welten“. Er bildet eine tiefe Zäsur im Werk und ist auch deshalb von herausragender Bedeutung für Kolmars Poetik, da er der letzte in deutscher Sprache geschriebene blieb und Kolmar selbst sehr viel bedeutete.

Der siebzehn Gedichte umfassende Zyklus wurde postum 1947 in einem schmalen Heft bei Suhrkamp veröffentlicht. In kühnen Bilderketten schafft er Visionen von Kosmogonien und Untergängen. Die Leidenswege durch „Welten“ sind zugleich Wege in die Freiheit einer Gegenwelt der Dichtung.

Heimann stellt das im Zyklus an zwölfter Stelle stehende Gedicht „Garten im Sommer“ in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Die Konzentration auf ein einziges Gedicht ermöglicht überraschenderweise auch neue Sichtweisen auf den „Welten“-Zyklus. Vor allem deshalb, weil das Aufzeigen der sprachlichen und kulturellen Tiefenschichten, aus denen das Gedicht gespeist wird, Kolmars den Versen eingeschriebene Poetik zu erhellen beiträgt.

Die Verfasserin zeigt inhaltlich wie sprachlich sehr klar auf, mit welchen künstlerischen Mitteln Kolmar ihre doppelte Verwurzelung in zwei Kulturen transtextuell lesbar macht. Die Tiefenstrukturen und verborgenen Textschichten des Gedichtes werden offengelegt. Prägnante Ausführungen zur Kolmar-Forschung gehen dem Hauptkapitel voraus. Die Verfasserin nennt ihre Textanalyse „Wege einer Begegnung mit dem Gedicht“ und geht sie so, dass die einzelnen Schritte gut nachzuvollziehen sind. Die Entscheidung, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Gedicht zugleich als eine Begegnung mit ihm aufzufassen, bewirkt eine Behutsamkeit im Urteil und die sorgfältige Berücksichtigung der schwebenden Bedeutungen der Verse, deren verborgene Subtexte in Heimanns Verständnis auch vom Scheitern der jüdischen Assimilationsgeschichte sprechen. Als Zweigeist, wie ihr Cousin Walter Benjamin sich vor dem Ersten Weltkrieg noch nannte, kann Kolmar sich nicht mehr begreifen. In einem Brief an die Schwester im Exil schreibt sie im September 1939, keine Heimat habe sie, nur „zwei Fremden“.
Gertrud Kolmar wurde 1894 in eine assimilierte Familie des liberalen Berliner Judentums der wilhelminischen Ära hineingeboren und war sich früh ihrer doppelten kulturellen Verwurzelung in der westeuropäischen und hebräischen Kultur bewusst. Dabei unterlag auch ihr jüdisches Selbstbild tiefgreifenden Wandlungen. Sie löste sich schreibend aus dem eurozentrischen Denken. Außerordentlich sprachbegabt und schon früh polyglott, lernte Kolmar vornehmlich im Selbststudium Hebräisch und beginnt nach 1937 in dieser Sprache zu dichten. Nichts davon ist auf uns gekommen.

In Kolmars Gedichten sind umfriedete Bezirke von besonderer Bedeutung: Höhle, Turm, Zimmer, Käfig, verschlossene und offene Gärten. Für das Gedicht „Garten im Sommer“ findet Heimann neue Lesarten, die sie so sorgfältig wie zuweilen überraschend begründet. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass sie sich an der grafischen Anordnung der Verse des im Marbacher Literaturarchiv bewahrten Typoskriptes aus Kolmars Hand orientiert.
Heimann macht deutlich, wie durch unterschiedliche Zeilenlängen für die frei schwingenden Rhythmen der Verse Worte in radikal verkürzten Zeilen zum Schlüssel für das Ganze werden. Ich „sah es“ lautet die dritte Zeile. Dieses für seine unheilvolle Situation Sehendwerden des sprechenden Subjekts bestimmt den Erkenntnisprozess des ganzen Gedichtes. Was die Augen im Garten wahrnehmen, verwandelt sich zu Bildern der bedrohten Innenwelt des sprechenden Ich.

Die Gedichte in „Welten“ stehen konzentrisch angeordnet um das Gedicht „Asien“, das in den anderen Gedichten thematisch vielfältige Entsprechungen findet. Alle Wander- und Suchbewegungen in „Welten“ konnotieren die Heimkehr zur am Werden und Vergehen nicht teilhabenden „Mutter“ Asien, zu deren Gebieten Palästina als eines unter anderen gezählt wird. Das imaginierte Asien ist das ganz Andere: die Gestalt mit dem Wissen im Nicht-Tun reiner Gegenwart, zeitenthoben, ohne die Menschen.

Es ist spannend zu lesen, wie die Entzifferung der transtextuellen Spuren im Gedicht das Verständnis der Verse erhellen. Heimanns sorgfältig argumentierende Analyse macht Kolmars verborgene Anspielungen auf Texte und Bildmaterial der deutschen literarischen Tradition und besonders der hebräischen Bibel erkennbar und stellt die Auseinandersetzung mit dem Gedicht in wiederholt wechselndes Licht, das die „palimpsestartig durchscheinenden Schriftspuren verborgener Texte“ zu lesen erlaubt. Verse des Schir ha Schirim, des Hohenliedes, tönen im Gedicht „Garten im Sommer“ ebenso mit wie etwa auch Schlüsselbilder aus Eichendorffs Dichtung. Selbst das mythische Erbe ist gegenwärtig in der Gestalt des Wassermanns, der die Menschen in finstere Tiefen ohne Zukunft zieht. Hinzu kommt die Geschichte von Leda und dem Schwan, deren Söhne zugleich der Götter- und Menschenwelt angehören und im Gedicht als imaginierte Hoffnungsträger für das sprechende Ich nicht mehr taugen. Es hat keine Kinder als Bürgen der Zukunft. Ein kunstvoll geschmiedetes Gitter versperrt der Liebenden überlebte Behausung, deren Fenster schon Waldrebe und Efeu umkriechen und wie in manchen Eichendorff-Texten in die Natur zurückgenommen wird. Da ist im Niedergang kein bergender Lebensort mehr.
Dergleichen Spuren verweisen auch in anderen Gedichten des Zyklus auf die Rückbindung Kolmars an ihr jüdisches Erbe, das sie in den „Archiven der Überlieferung“ aufspürt und kreativ verwandelt. Eine mühsame Heimkehr ist es, die Kolmar in Briefen mehrfach umschreibt, sich so in ihrer jüdischen Selbstbestimmung als eine Art „verhinderter Asiatin“ sehend: „das Antlitz nach Osten gekehrt.“ Als eine Fremde aber: „Niemals ‚die Eine‘, immer ‚die Andere‘“. Heimann zeichnet eindrücklich nach, wie Kolmar im kreativen Prozess versucht, dieses „Andere in sich freizusetzen und zu beleben“. Kolmar fügt alte Texte mit ihrem eigenen so ineinander, dass die überlieferten als „Hypotext“ mit ihrer Dichtung verwebt lesbar werden. Das ist mehr als ein Nachhall. Verschiedene Text- und Tiefenschichten der Verse, die im Gedicht den Zusammenklang von Altem und Neuem ermöglichen, werden von Heimann freigelegt. Dies führt ins Zentrum von Kolmars den „Welten“-Gedichten eingeschriebener Poetik, für die sie wie ein Vermächtnis gelesen werden können.

Die Anrufung des Du in der wachwerdenden Erinnerung an eine lebensvolle Beziehung wird am schon verlorenen Ort im imaginierten Dialog nichtig, obgleich die Figuration Ich und Du die Grundvoraussetzung der Erkenntnis bleibt, was Heimann mit der Philosophie Martin Bubers klug in Beziehung setzt: „Erst im Sprechen des Ich entsteht ein Du“. Das Wort Du wird zu einem Sinnträger des Gedichts „Garten im Sommer“. Die weibliche Stimme wendet sich wiederholt an ein Du, das zugleich erschaffen und vermisst wird. Das Paradoxon im Gedicht besteht darin, dass die Selbsterkenntnis des sprechenden Ich an die Bezogenheit auf ein verlorenes Du gebunden bleibt.
Heimann widmet den vier Strophen des Gedichtes jeweils ein Kapitel. Sie zeigt, wie der zu Beginn noch im Zeichen der Erwartung der Begegnung mit einem geliebten Du stehende Garten für das seines Verlorenseins innewerdende lyrische Ich kein Ort der Geborgenheit und einer solchen Begegnung mehr ist. Der Garten wird vielmehr ein Ort der Trauer und des Verlorengehens in existentiellem Exil, in dem Erwartung und Verlorensein ineinander verschränkt sind. Allein die weibliche Stimme ist in einem Monodialog vernehmbar, in dem Erinnerung und einst mit einem geliebten Du geteilte Erfahrung wach werden und zugleich der Schmerz um den Verlust des geliebten Du. Es tritt im Gedicht nicht auf. Die Stimme spricht zuletzt in einer Art verlorenem Paradies ins Leere vor dem „Abgrund kalten Erkennens“. Inmitten eines spätsommerlichen schönen Gartens aber, in dem ein Schmetterling, der Trauermantel, die Todverfallenheit eines nicht mehr bergenden Ortes anzeigt. Das Gedicht schließt mit drei Punkten und mündet in Schweigen.

Titelbild

Friederike Heimann: Beziehung und Bruch in der Dichtung Gertrud Kolmars. Verborgene deutsch-jüdische Diskurse im Gedicht.
De Gruyter, Berlin 2012.
215 Seiten, 79,95 EUR.
ISBN-13: 9783110297225

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