Nacktklettern am Walensee

Hermann Hesses Fotoalbum als „Marbacher Magazin“ – und was wir damit anfangen sollten

Von Marc ReichweinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Reichwein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Besprechung von Hesses Fotobiografie muss man mit einer Anekdote beginnen. Als der frühe Hesse seinen Verleger Samuel Fischer mal ordentlich anranzte, weil dieser ein Autorenfoto für seine Verlagsvorschau erbeten hatte, vertrat der Schriftsteller noch vehement die „Ansicht, dass mein Gesicht die Leser nichts angeht. Das Publikum ist ohnehin so anspruchsvoll gegen seine ‚Lieblinge‘ und sucht sie so zu tyrannisieren, dass man nichts unnötig preisgeben sollte, auch nicht seine Visage.“ Was für eine Aussage, zumal aus heutiger Sicht, im sprichwörtlichen Facebook-Zeitalter.

Postum betrachtet ist es dann einigermaßen kurios, dass einer, der aus einer fotografischen Nulltoleranz heraus kommt, heute zu den meistfotografierten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zählt. Über 5.000 Fotos – davon rund 2.000, auf denen der Schriftsteller selbst zu sehen ist – verzeichnet der Hesse-Nachlass in Bern und Marbach. Es gibt nicht nur Einzelabzüge und Negative, sondern auch ganze Alben. Hesse hat sie selbst angelegt und Fotos eingeklebt, und an die Archive stellt sich die Frage: Wie geht man damit um? Literarische Texte aus dem Nachlass werden gern publiziert, aber was stellt man mit den so genannten Paratexten an?

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA) hat „Hermann Hesses erstes Fotoalbum“ nun als (behutsam verkleinertes) Faksimile herausgebracht. Es misst 21 x 13 Zentimeter und umfasst 406 Aufnahmen aus dem Zeitraum von 1903 bis 1916 – mithin wichtige Hesse-Jahre: die Zeit seiner Etablierung als freier Schriftsteller, seiner Familiengründung mit Maria Bernoulli, aber auch zahlreicher Nah- und Fernreisen, ob im Zeppelin oder nach Ceylon.

Hesse hat, mal mit Bleistift, mal mit Füller, Bildlegenden angebracht: Ortsnamen, Daten, manchmal auch Personenangaben: So sehen wir die „Boehmers und Lettenbaurs“ auf dem Liegedeck des Dampfers, der Hesse durch den Suezkanal nach Asien bringt. Von dieser großen Reise bestücken besonders viele – auch ethnografisch faszinierende – Postkartenmotive das Album. Daneben europäische Ausflugsaktivitäten: Hesse, oft in kleinen Gruppen mit Bekannten unterwegs, beim Skilaufen in Gstaad, beim Rudern auf dem Bodensee oder bei der Siesta in Italien. Man kann vor allem den bereisten Gegenden etwas abgewinnen, weniger den abgebildeten Personen (die teilweise schlicht zu winzig erscheinen). Gleichwohl: Hesses soziales Leben, das sich offenbar außerhalb der eigenen Familie entspannter gestaltete als mit Frau und Kindern, bildet sich ab. Seine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Verkehrsmitteln. Und vieles, was Volker Michels mit seiner Bild-Monografie „Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten“ einschlägig bekannt gemacht hat, stammt aus diesem Fundus dieses Fotoalbums. Heike Gfrereis hat es mit einer kleinen Einführung garniert. Ein Büchlein – vorrangig für Hesse-Fans und Forscher, möchte man meinen.

Und dennoch: Dieser Schriftsteller ist, ganz jenseits seines Werks, längst eine ikonische Marke in unserem kulturellen Gedächtnis. Man denke nur das „Spiegel“-Cover des Dichters mit Strohhut. Man denke an sein Nacktklettern am Walensee – ein Motiv, das in keiner Anthologie über sportliche Schriftsteller fehlt. Oder man denke an Hesses Haut, an der sich wohl nicht zufällig gerade ein Autor wie Christian Kracht („Ich stelle meinem Verlag grundsätzlich nur Urlaubsfotos zur Verfügung“) begeistert: „Die Bräune schließt das Ledrige gleich mit ein, bei Hesse – der ja wurzelholzfarben war, ist es ganz erstaunlich zu beobachten, welche sportliche Jouissance er ausstrahlen konnte.“ (FAS vom 30. Juni 2002). Auch in Krachts Roman „Imperium“ bekommt die Figur des Schriftstellers, den wir für Hesse halten sollen, einen „kräftigen Nusston ins Antlitz“ gebrannt.

Wie sehr das Optische in unserer Wahrnehmung von Hesse präsent ist, zeigt sich sogar noch, wenn eine Sibylle Berg twittert: „matusseks Hesse im spiegel durch. warum heisst es bei Männern asketisch und bei Frauen anorektisch, wenn sie dünn sind?“

Visuellen Aspekten rund um die Literatur fehlt es nicht an Aufmerksamkeit: So könnte gerade dieses Hesse-Fotoalbum Literaturbetriebsforschern mal wieder ein Anlass sein, die Optik des literarischen Feldes zukünftig noch grundsätzlicher und systematischer zu berücksichtigen. So wie die Forschung vor einigen Jahren die Inszenierungen literarischer Fräuleinwunder untersucht hat und so wie sie schon vor dreißig Jahren nach der Bedeutung des Aussehens von Autoren in der Werbung für Gegenwartsliteratur fragte. Im Übrigen gelten zwei weise Sätze aus dem Jahr 1994: Der eine stammt von dem Kritiker Hubert Winkels und besagt (sinngemäß): Eine Geschichte des Autorenfotos ist noch nicht geschrieben. Der andere Satz ist der Titel eines Essays, den der Schrifsteller Wilhelm Genazino vor bald zwanzig Jahren zum Thema vorgelegt hat: „Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers.“

Titelbild

Heike Gfrereis (Hg.): Hermann Hesses erstes Fotoalbum. 1903 bis 1916.
Hrsg. Deutsches Literaturarchiv Marbach.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2012.
112 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783937384931

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