Das Prinzip Hoffnung als Sterne-Menü

Über Eva Menasses Roman „Quasikristalle“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Leben ist gleichzeitig festgefahren und fragil“, heißt es durchaus charakteristisch für Eva Menasses zweiten Roman „Quasikristalle“: ein hochambitioniertes, kunstvoll arrangiertes Erzählwerk mit reichlich Ecken und Kanten und damit dem Quasikristall nicht unähnlich.

Dahinter verbirgt sich ein Kristall aus nichtsymmetrischen Mustern, mit einer Art gebrochenen Form. Für diese Entdeckung war der Israeli Daniel Shechtman 2011 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet worden.

Die 42-jährige Eva Menasse, Halbschwester des Schriftstellers Robert Menasse und Ehefrau des Erfolgsautors Michael Kumpfmüller, die 2005 mit ihrem opulenten und verdientermaßen hochgelobten Debütwerk „Vienna“ gleich für reichlich Furore gesorgt hatte, widmet sich in ihrem neuen Werk der Biografie einer Frau, die sie in 13 Kapiteln aus 13 verschiedenen Perspektiven ausleuchtet. Wir begleiten die Protagonistin Xane Molin auf ihrem kompliziert verschlungenen Lebensweg, der von vielen Brechungen und diversen Ortswechseln geprägt ist vom Teenager- bis zum Rentenalter.

Zum Einstieg treffen wir Xane als 14-jähriges Mädchen, das mit ihren Freundinnen Judith und Claudia die Ferien verbringt. Doch das zunächst unbeschwerte Leben erhält eine gravierende Zäsur, die Zeit der Trennung ist angesagt. Judith wechselt auf eine weiterführende Schule, und Claudia stirbt plötzlich. Nichts ist mehr so, wie es war, Xanes Jugend scheint abrupt beendet worden zu sein.

Im zweiten Kapitel erleben wir eine Auschwitz-Exkursion an der Seite des Wissenschaftlers Bernay mit. Das liest sich bisweilen kühl und nüchtern, gerade so, als wollte sich die in Wien geborene und seit einigen Jahren in Berlin lebende Eva Menasse partout aus dem Fahrwasser des „Post-Auschwitz-Ethik-Schwalls“ begeben, den sie in einer Rede auf dem 85. Geburtstag von Günter Grass beklagt hatte. Die Autorin schickt ihre von großer Ruhelosigkeit dominierte Hauptfigur danach in eine Villa nach Wien, es folgt ein Umzug nach Berlin, wo sie als Unternehmerin tätig ist, aber gleichzeitig ein trauriges Dasein als frustrierte Ehefrau fristet. Sie überlebt ihren Mann und kehrt als betagte Großmutter am Ende erneut nach Wien zurück. Xane ist eine glücklich-unglückliche Frau, ein Individuum voller Widersprüche, das über die Liebe befindet, dass sie „hysterisch, widerlich, grausam, göttlich und vernichtend sein kann.“

Eva Menasse, die einst als Journalistin bei der „F.A.Z.“ gearbeitet hat, erzählt dies wunderbar unangestrengt, humorvoll und nonchalant. Der gedankenschwere philosophische Überbau ist auf diese Weise vom Leser einfacher zu schultern. „Meine Idee war, zu zeigen, in wie viele verschiedene Rollen man innerhalb eines Lebens zerfällt und dass man eine Biografie nicht vorausberechnen kann“, hatte Eva Menasse kürzlich in einem Interview erklärt. Entstanden ist ein Entwicklungsroman der ganz speziellen Art – ein polyperspektivisches Menschenbild, in dem die Hauptfigur mal gespiegelt, mal verzerrt mit all ihren sozialen Interaktionen dargestellt wird. Man glaubt als Leser, Xane sei nie bei sich selbst, finde keinerlei innere Ruhe und quäle sich ständig mit beinahe obsessiven Rollenerwartungen. Wie wirke ich auf andere? Und wie stelle ich mich darauf ein, wenn ich weiß oder zu wissen glaube, wie ich auf andere wirke?

Xanes Leben bleibt bis zum Ende irgendwie kantig, unförmig und unstrukturiert, ganz dicht angelehnt an den metaphorischen Romantitel. Eva Menasse hat in „Quasikristalle“ die drei großen Sinnfragen aus Ernst Blochs Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ künstlerisch auf die Füße gestellt. „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Die schwere Kost eines biografischen Puzzles mit leichter Hand ohne störende Ballaststoffe höchst bekömmlich zubereitet. Kurz gesagt: Ein literarisches Sterne-Menü, das nicht verschlungen, sondern genossen werden will – mit allen verfügbaren Sinnen.

Titelbild

Eva Menasse: Quasikristalle. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013.
432 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462045130

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