Faktoren der Brutalisierung

Felix Römer untersucht Abhörprotokolle gefangener Wehrmachtssoldaten

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg ist nicht zu trauen. Da wird nicht nur gelogen, sondern ist sogar da, wo subjektiv die Wahrheit gesagt wird, das Erinnerte von Geschichtsdiskursen überlagert. Allzu oft wird, was man heute weiß oder zu wissen glaubt, als Erkenntnis oder Sichtweise schon in der Vergangenheit präsentiert.

Mit schriftlichen Quellen steht es besser, aber nicht gut. Befehle unterscheiden sich von ihrer Ausführung, Berichte sollen den Berichterstatter für eine weitere Karriere empfehlen und erfüllen eine Funktion im Wettbewerb um Ressourcen. Feldpostbriefe verharmlosen die Lage, um Ärger mit den Prüfstellen zu vermeiden oder um die ohnehin bangen Angehörigen nicht noch weiter zu beunruhigen; oder die Soldaten prahlen mit nicht immer glaubwürdigen Heldentaten. Fotos endlich zeigen zwar einen Ausschnitt aus einem Geschehen (den zu kontextualisieren dann Aufgabe der Wissenschaft bleibt). Doch über die Sichtweise der Gezeigten verraten sie wenig. Wer mag schon entscheiden, weshalb ein junger Wehrmachtssoldat, der neben erhängten Sowjetbürgern steht, grinst – aus Sadismus und Schadenfreude, weil vor seinen Kameraden nicht als empfindsamer Schwächling dastehen mag, weil er emotional hilflos ist?

Vor diesem Hintergrund ist es nützlich, dass die Westalliierten deutsche Kriegsgefangene abgehört und die Ergebnisse protokolliert haben. Auch diese Gespräche sind nicht unmittelbare Wiedergabe dessen, was die Soldaten wirklich dachten. Militär bedeutet stets auch soziale Kontrolle, und manche Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen wurden darum gegenüber Kameraden nicht ausgesprochen. Doch dokumentieren solche Protokolle einen zeitnäheren und informelleren Austausch als jede andere Quelle und bieten sie damit einen wertvollen Zugang zum Innenleben der Wehrmacht.

Während die Gespräche der in Großbritannien gefangenen Offiziere bereits seit längerem ausgewertet werden, sind die im amerikanischen Fort Hunt zwischen 1942 und 1945 erstellten Protokolle noch kaum wissenschaftlich erschlossen. Sönke Neitzel und Harald Welzer haben in dem 2011 erschienenen Buch „Soldaten“ herausgearbeitet, wie locker die ideologischen Vorprägungen und Überzeugungen mit tatsächlichen Gewalthandlungen zusammenhängen. Im jahrzehntealten Streit zwischen den Intentionalisten, die die Verbrechen der Nazis als Umsetzung systematischer Planung sahen, und ihren Gegnern, die in den Gewalttaten Reaktionen auf je aktuelle Situationen sahen, stellten sie sich ganz auf die Seite der letzteren.

Felix Römer gelangt auf erweiterter Quellenbasis zu einem etwas anderen Ergebnis. Es kommt ihm zugute, dass die US-Armee versuchte, an kriegswichtige Informationen auf allen Ebenen heranzukommen und ein umfassendes Bild des Gegners zu gewinnen. So durchliefen Gefangene verschiedener Waffengattungen, verschiedener Rangstufen und Altersgruppen, teils mit Erfahrungen auf unterschiedlichen Kriegsschauplätzen, den einige Wochen dauernden Aufenthalt auf Fort Hunt. Dies erlaubt eine differenzierte Analyse, wer wie handeln wollte und konnte.

Deutlich wird, dass einerseits von einer systematisierten und gefestigten Nazi-Weltanschauung nur in wenigen Fällen die Rede sein konnte, dass diese andererseits auch gar nicht notwendig war, damit Soldaten sich an dem faschistischen Vernichtungskrieg engagiert beteiligten. Als wesentliches Moment zumal für die unteren Ränge erwies sich vielmehr die Praxis: Wer in der Sowjetunion kämpfte, passte sich meist schnell in eine verbrecherische Kriegsführung ein, und in Frankreich ging die Brutalisierung sehr viel langsamer vor sich. Eine lange Fronterfahrung förderte die Bereitschaft, über das Befohlene und das militärisch Sinnvolle hinaus Gewalt anzuwenden – eine kurze Militärlaufbahn hingegen oder Verwendungen für Aufgaben hinter der Kampfzone bewahrten Restbestände zivilen Verhaltens.

Kaum überraschend, erweist sich das Alter als bestimmender Faktor. Diejenigen, die während ihrer ganzen Jugend der Propaganda der Nazis ausgeliefert waren, zeigten kaum Rücksichten im Krieg und erwarteten im Durchschnitt sehr viel länger als ihre älteren Kameraden, dass Deutschland den Krieg gewinnen werde. Dabei gibt es bei den Jungen kaum Unterschiede in der sozialen Herkunft: Offensichtlich war es dem Regime gelungen, über Hitlerjugend, Schule und Militär die Illusion einer Volksgemeinschaft zu vermitteln. Unter den Älteren, die Gesellschaft schon vor 1933 bewusst hatten wahrnehmen können, hatten sich Angehörige jener zwei Gruppen innere Distanz vom Militär zu bewahren gewusst, die bereits dem wilhelminischen Kaiserreich gegenüber organisiert und ideologisch begründet ferngestanden hatten: nämlich Angehörige der Arbeiterbewegung und des Katholizismus.

Wer auf unteren Rangstufen diente, bekam freilich auch durch Erkenntnisse nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten. Ein Soldat war existentiell auf das Wohlwollen seiner Kameraden angewiesen, und dieses Wohlwollen wurde nicht nach politischen Kriterien und nur begrenzt nach Sympathie vergeben, sondern danach, ob das Gegenüber seinen Job zu machen verstand. Dabei spielten männlich geprägte Kriterien von Mut und technischer Machbarkeit eine trübe Rolle. Es ergaben sich im Einzelnen Spielräume, zum Beispiel einen Feind, der sich ergab, nicht zu ermorden, sondern an eine rückwärtige Gefangenensammelstelle weiterzugeben; doch insgesamt handelte ein Kollektiv.

Römer weiß das Wechselspiel von Wollen und Tun anschaulich darzustellen. Offiziere auf Kommandeursebene hatten durchaus Einfluss darauf, welches Maß an Kriegsverbrechen in ihrem Einflussbereich geduldet oder gar forciert wurde und wann in aussichtsloser Lage eine Kapitulation stattfand. Ihre Untergebenen hatten manchmal die Chance, sich individuell gefangenennehmen zu lassen, oder die Gelegenheit, nicht befohlene Heldentaten zu begehen. Meist aber war es schwierig, unabhängig von den Aktionen der Einheit zu handeln.

Indessen wird der Faktor wichtig, dass auch die Gruppe aus Einzelnen besteht. Wenn alle den Befehl zum Angriff zwar zuerst befolgen, neun von zehn Soldaten aber hinter dem ersten verfügbaren Strauch doch wieder in Deckung gehen, ist das taktisch ein Fehlschlag. Mehrfach verzeichnen die Protokolle die Empörung altgedienter Soldaten aus Verbänden von Waffen-SS und ehemals besonders kampfkräftigen Einheiten der Wehrmacht, dass der notdürftig ausgebildete oder aus der Etappe zusammengesuchte Ersatz den Kampfgeist der ganzen Truppe verdorben habe. Vermittelt über das Kollektiv konnten also auch einfache Soldaten Einfluss auf die Performance ihres Truppenteils ausüben.

Was wussten die Soldaten von Kriegsverbrechen? Sehr viel, wenn man berücksichtigt, dass die Gefangenen der Amerikaner an der Westfront, in Nordafrika beziehungsweise Italien sowie im U-Boot-Krieg anfielen. Zwar waren all dies Schauplätze, an denen Kriegsverbrechen vorkamen. Doch waren sie, anders als in der Sowjetunion oder in Jugoslawien, nicht systematischer Bestandteil der deutschen Strategie. Dennoch waren die Verbrechen nicht nur Angehörigen von Einheiten bekannt, die von der Ostfront in den Westen verlegt worden waren. Die Abhörprotokolle belegen, dass die Kenntnis über das Geschehen in der gesamten Wehrmacht vorausgesetzt werden kann.

Die Bewertung indessen war durchaus differenziert. Die deutschen Methoden der Partisanenbekämpfung in Osteuropa, inklusive des damit verbundenen Terrors gegen die Zivilbevölkerung, wurden fast durchgehend akzeptiert, wie auch der grundsätzlich befohlene Mord an Politkommissaren der Roten Armee. Anders hingegen sahen es viele Gefangenen, dass die deutsche Führung im Winter 1941/42 Millionen von sowjetischen Kriegsgefangenen verhungern ließ. Auch der Völkermord an den Juden wurde nur von einer Minderheit der Gefangenen gerechtfertigt. Freilich führte er kaum je zu einem inneren Seitenwechsel, sondern häufig zu einem umso entschlosseneren Kämpfen: Viele Angehörige der Wehrmacht erwarteten nach den begangenen Untaten im Falle eines alliierten Sieges eine ebenso schreckliche Rache. –

Das Buch ist klar strukturiert und klar geschrieben; da jedes Kapitel für sich lesbar sein soll, kommt es in seinem Gesamt allerdings zu etlichen Wiederholungen. Römer arbeitet quellennah und zitiert ausführlich, wodurch die Thesen anschaulich und nachvollziehbar werden. Die Auseinandersetzung mit der umfangreichen Forschungsliteratur tritt demgegenüber zurück. Auch dies fördert die Lesbarkeit und lässt sich gut durch den Erkenntniswert der Protokolle begründen, zumal Römer an Schlüsselstellen der Argumentation die Bedeutung seiner Resultate in der gegenwärtigen Diskussion durchaus darzustellen versteht. Für eine Mentalitätsgeschichte des deutschen Militärs und für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird der Band von bleibender Bedeutung sein.

Titelbild

Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen.
Piper Verlag, München 2012.
544 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783492055406

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