Vom Verschwinden des Subjekts

Eine Geschichte im Stillstand

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1998 legte Peter Bürger eine Geschichte des modernen Subjekts vor. "Eine Geschichte im Stillstand", wie er das Ergebnis seiner Untersuchung lapidar zusammenfaßt.

Drei Namen und drei Ich-Entwürfe stehen im 16. und 17. Jahrhundert am Beginn der modernen Subjektivität: Montaignes autobiographisches "Körper-Ich", Descartes reflexives "Vernunft-Ich" und Pascals hassenswertes "Angst-Ich" mit seiner Erfahrung des ennui. In dieser Konstellation hat das moderne Ich-Verständnis seinen Ursprung, und mit ihr ist auch bereits der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich das Subjekt bewegt. Selbst sein Verschwinden reicht nicht über das vorgegebene Terrain hinaus. So lautet die zentrale und provozierende These Bürgers. Wer auch immer das Feld betritt, Voltaire oder Diderot, Constant, Flaubert oder die Surrealisten, Sartre oder Barthes, sie alle spielen immer nur aufs neue die alten Melodien mit geringen Variationen auf derselben Klaviatur, so zumindest Bürger. Die entscheidende Gemeinsamkeit der drei ursprünglichen Entwürfe und damit auch aller folgenden bestehe darin, daß das Ich als Solitär entworfen sei. Es benötige zu seiner Bestimmung und Konstitution kein Gegenüber. An diesen Pflock ist die Kette aller modernen Subjekt-Entwürfe gebunden; selbst noch die These von dessen Verschwinden. Gerade diese These lasse "sich als eine Position entziffern, die im Feld der Subjektivität ihren Ort hat, nicht außerhalb." Sich von der Fessel zu befreien und so das Feld zu überschreiten, scheint unmöglich, so der Autor zunächst.

Doch trügt dieser Schein, so Bürger weiter. Weiblichen Autoren ist es immer wieder gelungen, ein grundsätzlich anderes Subjektverständnis zu gewinnen. Ihre Subjektentwürfe nämlich sind stets auf ein Du bezogen und entstehen erst in und durch diese Beziehung. Zugleich zeigt sich aber: So anders diese Art von Ich-Entwürfen auch sein mag, neu ist sie nicht. Bereits zur Zeit der Konstitution des modernen Subjekts gelang es Madame Sévigné in der Liebe zu ihrer Tochter und Madame Guyion in ihrem mystischen Aufgehen in Gott die jeweiligen Ich-Entwürfe an einem Du zu entwickeln. Schule machen konnten beide nicht. Noch ein zweites Mal traten Frauen in Sachen Subjektentwürfe im 18. Jahrhundert hervor: Madame Du Deffand, Madame Charriére und die leidenschaftlich und verzweifelt liebende Mademoiselle Lepinas. Wiederum ist es der oder die Andere, an dem oder an der das Subjekt allererst entsteht. So zeigt Bürger, daß "das Feld der modernen Subjektivität" doch "ein Außen" hat. Auch heute noch. "Texte von Ingeborg Bachmann und Clarice Lispector zeugen davon."

Leider verliert die Studie dadurch etwas an Gewicht, daß sich der Romanist darauf beschränkt, ausschließlich frankophone Autoren und Autorinnen zu untersuchen. Zudem besteht ein gewisses Manko darin, daß es Bürger unterläßt, die theoretische Stichhaltigkeit der untersuchten Subjekt-Entwürfe anzusprechen. Er beschränkt sich vielmehr darauf, sie aus den Biographien der Autoren zu erklären. Das mag zwar legitim sein, scheint aber alleine etwas zu wenig für eine Geschichte der Subjektivität. Und eine Frage bleibt noch: Wieso wird Levinas nicht erwähnt, dessen Theorie das Subjekt in der und durch die Verantwortung für den Anderen entstehen läßt?

Titelbild

Peter Bürger: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
260 S., 24,50 EUR.
ISBN-10: 3518582623

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