Reise ins innere Worpswede

Patricia Mante-Proust hat eine Bildmonografie über Marcel Proust herausgegeben

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schriftsteller hinterlassen, sofern nicht durch Vertreibung oder Beraubung um Hab und Gut gebracht, zumeist allerlei. In der Regel besteht das private Parallel-Universum eines vormals schreibenden Zeitgenossen natürlich aus Texten, aus Entwürfen, aus Varianten und Korrekturen, Tagebücher und Korrespondenzen; weiter aus unterschiedlichsten Sammlungen von Druck- und Kunstwerken, oft auch von Ansichtskarten oder privaten Fotografien und Dokumenten bis hin zu Steuerrechnungen und Pfändungsbelegen; endlich und eher selten finden sich zudem echte und wahre Gegenstände: Schreibgeräte, Lesepulte, auch Kleidung und Automobile lassen sich entdecken, Klaviere, Möbel aller Art stehen bereit – kurzum: Ein Schriftstellernachlass ist für Kollektoren zu eigenem oder öffentlichem Wohle nichts anderes als ein gewaltiges Universum des partizipativen Begehrens. Vor Jahren ließ sich für Affektionierte ein Splitter aus Franz Kafkas letztem Sanatoriums-Holzbalkon erwerben mit beträchlichem allusivem Resonanzraum. All das nun: Schriften, Dokumente, Sammlungen, Objekte werden in den meisten Fällen irgendwann einmal oder mehrfach zusammengefügt zu eigentümlichen Werken des Genres Bildmonografie.

Das ist im Falle Prousts nicht anders, dennoch hat im jüngsten Jubiläumsjahr die Erkundung der Materialien-Welt zu recht unterschiedlichen Ergebnissen geführt. So erschien von Lorenza Foschini ein kleines Bändchen über Prousts berühmten braunen Otterpelz mit versetzter Knopfleiste, der dem zusehends mageren Körper des Hungerkünstlers außerhalb seines Korkzimmers als wärmende Hülle um- und nie abgelegt war; ein Parfumcreateur und Devotionalienspezialist hatte das heilige Fell entdeckt, erworben, gehütet, versteckt und nur selten, vermutlich zwecks Handauflegung, aus dem Pappkarton hervorgeklaubt. Ganz anders spürte Eric Karpeles Proust nach, nämlich in Form jener Bilder aus dem tiefen Reich der Kunstgeschichte, die Proust in sein eigenes inneres Museum importierte und von dort in die „Recherche“ einhängte – ein Privat-Magazin der visuellen Imprägnierungen, denen inzwischen auch bei anderen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts ikonologisch nachgespürt wird.

Diese zwei Beispiele erlauben zumindest zu erahnen, welch unterschiedliche Begehrlichkeiten Prousts nachgelassene Materialien und eingeschlossenen Kollektionen auszulösen vermögen: Es überschneiden und durchdringen sich voyeuristische Vorlieben (Proust in tief verhüllendem Mantel, in Uniform, auf dem Totenbett, im Kinderrock bespitzeln) mit fetischistischen Wünschen (Prousts Bett, Prousts Vorhänge, Prousts Korkwände berühren), mit archivalischen Interessen (Proust Blätter konservieren, Prousts Klapp-Paperoles katalogisieren), mit musealen Absichten (die Bilder aufspüren, die Kompositionen identifizieren) und mit detektivischen Eindringlichkeiten (die Tatorte vermessen, die Zustände und Veränderungen von Haus, Garten, Weg dokumentieren, dem Verbleib der Einrichtung nachforschen). All diese Partialtriebe dürfen sich ganz disparat in den Separées der offiziellen Werke ausbreiten und ihre Sonderlichkeiten ins Spiel bringen. Nicht selten tragen gerade derlei Fetischismen beträchtlich zur Differenzierung und Erschließung subkutaner Verknüpfungen im Werk selbst bei oder erlauben doch zumindest lustvollste Reisen und Routen durch die Schriften: der Kakao bei de Sade, die Tiere bei Kafka, das Komma bei Rilke.

Auf diesem Hintergrund wird klar, wofür in der Alltagsmythologie später bürgerlicher Gesellschaften Schriftstellermonografien mit erhöhtem Bildaufkommen gefertigt werden: Sie sollen die abtrünnigen Triebkräfte der Materialien binden und durch eine doppelte Homogenisierungsstrategie um ihre fetischistische Energie bringen. Diese Doppelstrategie ist so banal wie unoriginell. Sie besteht in dem Versuch, alle Schriftstufen, alle Objekte und alle Tatorte dem Leben des Autors zu subordinieren und der Epoche einzuschmelzen, in der seine Biografie sich vollzogen hat. Und immer wieder erstaunt es, mit welchem Eifer und mit welcher Hingabe in derlei Werken die Materialien selbst sich quasi umstandslos dazu hergeben, für Biografie und Zeitzeugenschaft einzustehen, um zugleich und umstandlos ihren grandiosen fetischistischen Zauber preiszugeben. Aber vielleicht handelt es sich dabei auch nur um die List der Dinge und Schriften, das schmutzige Begehren, das sie hervorrufen, vor institutioneller Zudringlichkeit zu bewahren.

Wie auch immer, auf jeden Fall gilt: Je seriöser dergleichen Monografien sich gebärden, umso nachhaltiger unterdrücken sie den materialen Lustgewinn. Wenn vormals biografische Bändchen wie die aus der Rowohlt-Reihe, vor allem in ihren frühen Ausgaben, zumindest noch einen Hauch von Unanständigkeit besaßen, weil ihre schlechten Abbildungen an Schmuddelbilder erinnerten, die einmal unterm Ladentisch getauscht sein mögen, so will man mit derlei biografischem Pöbel heute nichts mehr zu tun haben. Wird also der Proust’sche Nachlass heutzutage und wie hier unter den geschmackvollen Händen von Patricia Mante-Proust fotografisch reanimiert und präsentiert, dann muss die Urenkelin zum wenigsten in Mendinis postmodernem Gestühl zum Vorwort Geleit sitzen und mindestens muss die Generalsekretärin der Société des Amis de Marcel Proust sich – durchaus versiert übrigens – um Biografie und Werk des Autors kümmern. So wird, trotz gleicher materialer Ausgangslage, aus dem niederen Begehren des Fetischisten eine Kultur des Bescheidwissens. Diese Mischung aus seriöser Unterrichtung, penibler Reproduktion, mondäner Ausstattung und Ursprungslegitimation ist hier ohne Zweifel auf den Gipfel getrieben. So kredenzt das überbreite Format zugleich seinen habituellen Anspruch, Kultur für Kulturvolle zu bieten, um im selben Atemzug doch praktisch alles falsch zu machen.

Das beginnt bereits bei den Formaten der einzelnen Dokumente, die offensichtlich und programmatisch nie im Originalformat auftauchen dürfen; Postkarten und Portraits schrumpfen zu Briefmarken, während gänzlich bedeutungslose Schulnotenverzeichnisse oder Tapetenmuster auf Blattgröße gebracht und über endlose Seiten fortgesetzt werden. Das aber beschädigt nicht nur das einzelne Dokument an sich, sondern auch die Proportion, die die Materialien untereinander einfordern: Visuelle Vergnügungsparks wechseln ab mit Puppenstubendekor. Und zwar versucht der Band das, was er zu zeigen hat, in unterschiedliche Kapitel auseinander zu legen, um doch zugleich die Differenzierung der Kapitel weder in der Sache zu begründen noch gar kategorial durchzuhalten; kein Kapitel bleibt bei seinem selbstgestellten Thema, sondern ist übergriffig und lädiert dadurch seinen eigenen Anspruch.

So verlegt das stolze Buch das Proust’sche Lebens-Werk in die Reiche gesitteter Nachmittags-Tees und lädt ein zu einer Reise ins innere Worpswede; jede Verunsicherung, die durch Prousts exzessives Schriftleben und sein singuläres Signifikationsgestöber ausgelöst werden könnte, wird mit Geschmack ausgetrieben. Dieses Entschärfungsprogramm ist hier dezidiert floral gespeist; blumige Stoffmuster bieten einer neuen Sensibilität Unterschlupf, die dem eigenen Esszimmerdesign zum Verwechseln ähnlich sieht samt Blick in den Garten. Da trifft es sich gut, dass der Band mit frisch fotografierten Großaufnahmen von Feld, Wald und Wiese, von Park, Kirchturm und Kleingebäck auftrumpfen kann, auf denen Prousts Erzähler-Wahrnehmung einstmals intensiv geruht hatte. Die Peinlichkeit, die derlei auslöst, wird nur noch übertroffen von dem beigefügten Rezept einer Madeleine Marke unwillkürliche Erinnerung. Will der kleine Bürger einmal in die große Welt der Kunst hinaus, die er sich als sehr mondän vorstellt, dann landet er am Ende am heimischen Backofen.

Wen es hingegen wirklich nach einem Einblick ins prozessuale Innenleben Prousts und in die materiale Innenausstattung und Möblierung seiner „Recherche“ gelüstet, der lasse von diesem Band die Finger und greife stattdessen zu dem schon seit geraumer Zeit nur mehr antiquarisch erwerbbaren, in der Sache jedoch unbezahlbaren Wunderband von Prousts Haushälterin und Mitverschwörerin Céleste Albaret, schlicht betitelt mit: „Monsieur Proust“. Ein Traumbuch für Fetischisten.

Titelbild

Patricia Mante-Proust (Hg.): Marcel Proust in Bildern und Dokumenten.
Mit Texten von Mireille Naturel.
Übersetzt aus dem Französischen von Stefanie Kuballa-Cottone.
Edition Olms, Oetwil am See 2012.
192 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783283012175

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