Beinahe eine Theologie kritischer Theorie

Zur Aufsatzsammlung „Kritische Philosophie“ von Karl Heinz Haag

Von Sebastian SchreullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schreull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ereignet sich in letzter Zeit häufiger, dass ein kritischer Theoretiker wieder publik wird, dessen Werk noch nicht in den offiziellen Genealogien der „Frankfurter Schule“ verzeichnet oder durchdrungen wurde. Dem Autor der Rezension kommt da freilich Heinz Maus als erstes in den Sinn; im Wesentlichen ein Marburger Soziologe, der nicht ins Exil ging, sondern Widerstand leistete und trotz Zensur kritische Theorie publizierte („Kritik am Justemilieu“). Ihm wurde unlängst ein im Westfälischen Dampfboot erschienener Sammelband gewidmet, Demirovic zeichnet in seinem Werk „Der nonkonformistische Intellektuelle“ seinen Werdegang nach. Oder wir lesen mit Erstaunen die Texte von Kirchheimer und Neumann noch einmal, die in die aktuellen Diskussionen um das Politische und die Gerechtigkeit einwirken könnten – als Kritik der abstrakten Kritik des Rechts oder des rezenten Schmittianismus. Ebenso sind die Neuveröffentlichung der Schriften von Heinz Langerhans anregend, der Anfang der 1930er-Jahre zeitweise Max Horkheimer am Institut für Sozialforschung assistierte und eine vielleicht konträre Analyse des Nazifaschismus zu Neumann explizierte. Diese soll laut den Herausgebern seiner Schriften eine gewisse Vorausnahme der Adorno’schen „Reflexionen zur Klassentheorie“ darstellen. Eine liasion dangereuse von Adorno und Korsch, Langerhans Lehrer?

Ein besonderes Verdienst in der Erinnerung an diese – nicht bloß – SchülerInnen kritischer Theorie kommt dabei der Reihe „Dialektische Studien“ zu, die bei edition text + kritik erschien. Tiedemann zeichnete sich verantwortlich für die Herausgabe der Reihe. Diese macht Werke einer Öffentlichkeit zugänglich, die entweder als Dissertationen bei Adorno oder Horkheimer angefertigt wurden oder die sich als Erbe Kritischer Theorie behaupten. Tiedemanns Reihe ist daher politisch: Sie will eine andere Kritische Theorie lesbar machen, die nicht der Kritik der Habermas’schen Diskursethik verfällt, aber auch der ‚Aufweichung’ des Kanons durch neue, andere Philosopheme begegnen will. Der Herausgeber ist daher um eine gewisse Lesart Kritischer Theorie bemüht.

Umso erstaunlicher ist es, dass die in dieser Reihe veröffentlichten Texte zu Tiedemanns Bestimmungen Kritischer Theorie durchwegs heterogen sind. Tiedemann sagt zu dieser Reihe, dass „[d]ie ‚Dialektischen Studien‘ versuchen, für die Kritische Theorie einzustehen, die die Selbstkritik des Denkens nicht mit seiner Abschaffung verwechselt“. Dies ist natürlich auch als Anweisung zu verstehen, wie Adorno, Horkheimer, also die Kritische Theorie zu lesen sei. Die Gefahr besteht nur darin, dass man die Originalität der in den „Dialektischen Studien“ publizierten Werke missachtet und für die Abschaffung des Denkens eine gewisse Unreinheit in der Tradierung Kritischer Theorie verantwortlich macht, dass es also gelte, diese SchülerInnen als wahre Erben zu lesen, die getreu das Erbe Adornos oder Horkheimers ‚sicherten‘? Tiedemann wendete sich explizit gegen postmoderne oder andere scheinbar beliebig verfahrende Aneignungen. Er macht sich für ein bestimmtes Modell des Philosophierens stark, was er aus der Adorno’schen Philosophie ableitete. Die Frage dürfte also lauten, wie und ob eine solche Abschaffung des Denkens auch dort vorliegt, wo eine Einheit Kritischer Theorie die Unterschiedenheit der Theoretiker und ihrer Vollzüge verdrängt.

Karl-Heinz Haags Band bildet den Abschluss der Reihe „Dialektische Studien“. Auch der Herausgeber Tiedemann hebt dies hervor, sei doch „diese Sammlung der vorbereitenden Arbeiten Haags zu seiner Negativen Metaphysik“ schließlich den ‚Imperativen‘ Kritischer Theorie verpflichtet, „nach der Grundlage ‚für ein wahrhaft intellektuelles und gesittetes Leben der Menschen’ zu fragen“. Tiedemann markiert es aber in seiner den Band von Haag abschließenden „Notiz des Herausgebers“ deutlich: „Als Leser war dabei vorab, wenn auch nicht ausschließlich, an jenen ‚eingebildeten Zeugen‘ gedacht, ‚dem wir es‘ – mit dem Wort Horkheimers – ‚hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht‘“.

Bedeutet dies nun, dass Haag ein bloßer Zeuge des Erbes von Horkheimer et al. ist oder dass Haag selbst ein Erbe verkörpert, was nicht untergehen darf? Dies sind keine Spitzfindigkeiten, sondern es ist entscheidend: Tiedemann kritisiert an der im Sammelband abgedruckten Dissertation Haags, dass sie „die Nähe zur Ontologie Heideggers und mehr noch der Neuscholastik nicht verleugnen kann“, auch wenn er dies auf die Form der Arbeit beschränkt wissen will. Erwähnung findet dort auch, dass Haag zu Lebzeiten „glaubte, seine alte Arbeit nicht mehr vertreten zu können“ – darum erschien auch die Aufsatzsammlung „Kritische Philosophie“ posthum. Sie versammelt schließlich sein Frühwerk. Haag kritisiert nämlich, so argumentiert das kontextualisierende Nachwort Günther Menschings, dass „die theoretischen Entwürfe“ seiner „Lehrer und Freunde“, Adorno und Horkheimer, „wenngleich in der Absicht richtig, so doch nicht zureichend begründet seien“. Und Haags Spätwerk ist darin konsequent: Es argumentiert, so könnte man urteilen, den kantianischen Zug des Adorno’schen Werks zu einem gewissen Ende. Ob es das Ende der Unbegründetheit und damit die Aufhebung kritischer Theorie ist, diese Behauptungen Haags wären zu untersuchen.

Solche Differenzen in gewissen Tradierungen Kritischer Theorie können leicht verschwiegen werden. Und selbst wenn dies aus politisch-strategischen Gründen getan wird, dann gefährdet man genau damit die Einheit der Kritischen Theorie, die nur in ihrer stetigen Aktualisierung, in ihrer Differenz zu haben ist. Sonst wäre sie ja bloß die Wiederholung des Immergleichen – ihre Wahrheit soll aber eine historische sein.

Diese Differenzen begründen sich nach Mensching auf Haag bezogen damit, dass „Adornos Hegelkritik […] durch die hartnäckige Insistenz Haags überhaupt erst so geschärft worden, wie sie in der ‚Negativen Dialektik‘ formuliert ist“. Denn wesentlich war für Adorno in den 1950er-Jahren, dass die „Logik zum Sprechen“ zu bringen ist, dass eine Rekonstruktion der „Wissenschaft der Logik“ Hegels endlich in Angriff genommen wird. Adorno wusste um ihre Bedeutsamkeit für die Kritik der politischen Ökonomie, aber auch im Wesentlichen für die Formulierung seiner Dialektik. Adorno bezog sich in seinen bis dahin geschriebenen Werken eher auf die Rechtsphilosophie oder die Phänomenologie Hegels. Damit ist ein Spätwerk ausstehend.

Dass Adorno umfangreich an einer Erschließung der Hegel’schen Logik arbeitete, ist nicht zuletzt durch die Briefwechsel belegt, aber auch in seinem „Beethoven“-Buch angefangen – was allerdings Fragment blieb. Interessant ist hier zudem, dass Adorno andere für eine Rekonstruktion der Hegel’schen Logik verpflichtete oder verpflichten wollte: Bruno Liebrucks wurde 1959 nach Frankfurt geholt, um mit seiner sprachphilosophischen Lesart Hegels das Problem von Sprache und Bewusstsein als logisches zu reformulieren [und kam durch Adorno mit der Benjamin’schen (Sprach-)Philosophie in Berührung – die er ohne Markierung zitierte]. Josef König aus Göttingen wollte nicht nach Frankfurt wechseln, den Adorno aber dafür schätzte, dass er mit der Unterscheidung von theoretischen und praktischen Sätzen Hegels „übergreifendes Allgemeines“ gesellschaftstheoretisch explizieren konnte. Ob sich durch den Einfluss Königs die Fokussierung Adornos auf sprachphilosophische Probleme ab der Vorlesung zur „Ontologie und Dialektik“ ergeben hat, wäre zu erforschen. Tiedemann behauptete diese Vorlesung zumindest als Anfangen am Werk der „Negativen Dialektik“.

Und Haag war ein katholisch gebildeter Intellektueller in Frankfurt, der von den „realen Widersprüchen“ der Philosophie Thomas von Aquins kam, der die res essentia, das Wesen des Gegenstandes, nicht bloß aus einem Wesen des Wesens ableitete, sondern eine Verhältnisbestimmung als essentia singularis oder die Singularität des Wesens als Verhältnis von Sein und Seiendem denkt. Und Haag interessierte sich für Hegel.

Und Haag wusste eben nicht nur um die Heidegger’sche ‚Fundamentalontologie‘, sondern auch um die Kritiken der Neuscholastik innerhalb der damals aktuellen Ontologie. Haag eignet sich die Kritik Petrus Aureolis‘ an, die den „Universalienabsolutismus“ einer nur das Sein setzenden Ontologie bestimmt negiert, da diese Unterscheidung von Sein und Seiendem, von „Singulären und Allgemeinen nur im denkenden Subjekt bestehe“. In Haags „Kritik der neueren Ontologie“, dem eröffnenden Beitrag des Bandes, wird dargestellt, wie der mittelalterliche Universalienstreit eigentlich nur von Hegel aufgehoben wurde. Hegel denke in den Extremen des Nominalismus und Realismus, indem er deren Setzungen in der Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt als Geist vollziehe. Hegels absoluter Geist als historischer Vollzug könne nur „als Produkt der Kultur der Völker in ihrer geschichtlichen Auseinandersetzung“ begriffen werden, als etwas durch und in dem ich mich selbst erst als gesellschaftliches Verhältnis begreife.

Den Ausweg der Ontologie aus der Subjektphilosophie durch eine Daseinsanalyse oder Bestimmung der Lebenswelt ist für Haag als Anfang denkbar und kritikabel zugleich, weil es Seiendes nicht selbst als Verhältnis von Begriff und Gegenstand denkt. In seinem späteren Aufsatz „Zur Lehre vom Sein in der modernen Philosophie“ sind es unter anderem die Theologie Tillichs, bei dem Adorno 1931 habilitierte, und alle Formen der Existentialontologie, auch der Sartres, die er kritisiert, um mit Nink zu begründen, dass selbst die Heidegger’sche Ontologie letztlich, wenn „Sein und Seiendes unmittelbar als Grund und Begründetes gefasst werden, auf bloße Tautologie hinausläuft“.

Das zumindest innerhalb der katholischen Ontologie Kritik an Heidegger oder dem Neuthomismus expliziert wurde, dass sich an Hegel’sche Figuren angenähert wurde, dies stellt Haag überhaupt einmal dar. Er weiß um die Metaphysik Casper Ninks, dass die „inneren Seinsgründe einer Sache nicht als solche, getrennt voneinander existieren, sondern daß sie nur in der sie umgreifenden Einheit der Sache sind“. Die Frage, was hier also als Über- oder Umgreifendes, als Medium oder Drittes bestimmt werden könnte, zieht sich durch das Haag’sche Werk.

Haag versucht damit etwas zu bestimmen, was wesentliches Motiv der „Negativen Dialektik“ und der „Ästhetischen Theorie“ ist. Ob Adorno selbst an der logisch-begrifflichen Bestimmung scheiterte, ob deshalb das Beethoven-Buch unvollendet blieb, oder ob er es über die Reflexion der Form oder die Darstellung der Reflexion fassen wollte, dies wäre wichtig für die Beurteilung des Haag’schen Spätwerks. Denn im Gegensatz zu Haag begreift Adorno dieses Problem als ein wesentlich sprach-philosophisches. Während Adorno Heidegger am prägnantesten in „Ontologie und Dialektik“ an seinem Sprach-Begriff kritisiert, folgt Haag eher den Ansatzpunkten der Kritik aus dem Heidegger-Kapitel der „Negativen Dialektik“, die die Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt ausführlich als Manko der Heidegger’schen Überlegungen explizieren. Unterbietet Haag deshalb Adornos sprachphilosophische Aussagen?

Haag versucht zwar in einzelnen Passagen der „Kritischen Philosophie“ an Adornos Aussagen zur Sprache anzuknüpfen, die eine Kritik der Sprache als bloßes Zeichensystem vollziehen. Dass Haag mit Adornos Sprachphilosophie vertraut war, demonstriert „Das Unwiederholbare“. Haag setzt dort ein, wo auch Benjamin ein Problem mit der analytischen Sprachphilosophie eines Bertram Russell hatte: nämlich an den singulären Termen beziehungsweise dem Namensproblem. So weiß man dadurch, dass Haag mit den Gegenständen des Adorno’schen Philosophierens vertraut war, aber dennoch einer Reflexion des Sprechens, nicht der Sprache, auswich.

Es ist auch für ein an Adornos Philosophieren ‚geschultes‘ Denken nicht unüblich, dass die jüdische Namenslosigkeit Gottes zum Gegenstand dieser Überlegungen wird: „Das Unwiederholbare stellt sich dar als das eine Besondere, das keinem Allgemeinen subsumierbar ist, oder vielmehr als das, was entschwindet, wenn es unters Allgemeine befasst wird. Noch weniger ist die Einzigkeit von Dingen unabhängig von ihrer begrifflichen Fixierung.“ Es ist auch überhaupt nicht zufällig, dass Haag letztlich auf Beethovens Musik zu sprechen kommt, die den „intensivste[n] Versuch“ darstelle, „Unwiederholbares zu wiederholen“ – so „vermag er das nur zu beschwören, was Ich und Natur in der Entfremdung verloren“. Und da Haag hier insofern Hegelianer ist, als er Entfremdung nicht als ‚Schlechtes‘ denkt, sondern als Moment eines Prozesses, der etwas erst als etwas begreifen lässt, so ist damit der absolute Geist selbst als Moment, als in sich historisches gefasst. Dass nun Haag aber so auf Adornos Kritik an Hegel einschwenkt, könnte vielleicht daran liegen, dass sie eher dem hegemonialen Hegelianismus galt, als Hegel selbst?

Haags Nähe zur Ontologie, auch die zu ihren neu- oder scholastischen Theoretikern, war für Adorno gewiss kein Makel, sondern ein Versuch, die Formen der Subjektphilosophie zu kritisieren, die eben die Verhältnisbestimmung zur Substanz, zum Gegenstand nicht leisten können – die sich selbst verdinglichen, indem sie das Subjekt (gerade wenn sie diesen Begriff nicht länger gebrauchen) auf eine Form bringen, die alle seine Vorstellungen begleiten muss (will ‚Subjekt‘ nicht seinsvergessen sein). Adorno wurde dieses Problem an seinen Husserl- und Heideggerstudien evident, Haag stößt auf dieses Problem in der Neuscholastik, die ihren Subjektivismus verdrängt. Von dieser her kommend liest er in Frankfurt Hegel, in Sitzungen mit Adorno und Horkheimer.

Die bei Horkheimer angefertigte Dissertation „Seinsdialektik bei Hegel und in der scholastischen Philosophie“ ist vollständig im Band abgedruckt. Sie ist Haags erstes Werk und ist im Gegensatz zu allen anderen Schriften noch nicht so vom „Geist“ der Kritischen Theorie durchdrungen. In ihr demonstriert der von einer zeitgenössischen ontologischen Diskussion und Terminologie herkommende Autor, dass das übergreifende Allgemeine nur als Einheit zu denken ist: „Nur die Einheit in der Unterschiedenheit von Grund und Begründetem, Vermittlung und Unmittelbarkeit [ist] schlechthin ‚unbedingt‘ zu nennen“. Haag kritisiert damit nicht nur die Annahme von transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit, sondern auch einen Heidegger’schen ‚Seinsbegriff‘, als Quasi-Erstes der Philosophie.

„Kritische Philosophie“ bietet so eine gut lesbare Einführung nicht nur in die Kritik ontologischer Begründungsversuche, sondern auch in die Probleme des Universalienstreits. Ähnlich wie Adorno in seiner „Metaphysik“-Vorlesung konstelliert er in „Kritik der neueren Ontologie“ Nominalismus und Realismus. Abweichungen vom Lehrer ergeben sich aber dort, wo es um eine Einschätzung des Philosophierens Aristoteles’ geht. Haag denkt anders als Adorno Aristoteles konsequent als Realisten, der Platons Philosophie aufhebe, aber nur um den Preis, dass er wieder in ähnliche Aporien gerate. Aristoteles denke die Form als identisches, so dass Materie erst durch die Form individuiere, also wirklich sei. Und nicht umsonst war dieser hier erstmals wieder zugänglich gemachte Text, „Das Unwiederholbare“, Adorno zu seinem 60. Geburtstag gewidmet.

Reflektiert Adorno doch darauf, dass dem Sprechen – auch bei Aristoteles und in der Explikation eines angemessenen Begriffes der Metapyhsik – eine besondere systematische Position zuzuordnen ist: Nämlich in dessen Tun solche Positionen erst wirklich sind. Und Haag argumentiert in „Sein und Seiendes in der Fundamentalontologie“ luzide und vielleicht deutlicher als Adorno an mancher Stelle, warum das Vergessen der Reflexion der Form dazu führt, dass für ein so-vergessendes Philosophieren dies „zu ihrem eigenen Inhalt“, zu ihrem wirklichen Problem wird. Haag weiß also um die Hegel’schen Figuren, die dieses Problem des Sprechens betreffen. Und wer einmal in bestimmende Probleme der Hegel’schen Philosophie eingeführt werden will, dem ist Haags Werk unbedingt zu empfehlen. Nur wenige, und selten SchülerInnen Adornos, können so verständlich Hegel ‚übersetzen‘.

Es mag unglücklich oder ambivalent sein, die Werksammlung Haags ausgerechnet „Kritische Philosophie“ zu betiteln: Nicht zuletzt Hegel oder Marx bezeichneten die Kant’sche als kritische Philosophie, als zu Kritisierendes. Vielleicht ein Hinweis vom Herausgeber zur Einschätzung des Haag’schen Werks? Wohl kaum, denn Kant steht im Fokus von Haags Kritik, um seine Hegellektüren vorzubereiten. Der transzendentale Idealismus reduziere nicht nur das Objekt zum Ding an sich, sondern auch das Subjekt: Das „reine Ich denke“ sei einer formalen Logik verpflichtet, die in einer höherstufigen Logik aufgehoben werden müsse: „Diese Entfaltung und nicht die Qualität eines einzelnen Urteils ist die Wahrheit, und deshalb ist alle Philosophie, selbst noch die Geschichtsphilosophie Logik“.

Haag leistet damit etwas Wesentliches für Kritische Theorie: Er stellt dar, dass Hegel selbst nur als Philosoph des Gesellschaftlichen zu lesen ist. Hegel rekonstruiere nicht aktuelle Philosophien, weil sie bloße Abbildungen der wirklichen Bewegung seien, sondern Momente der wirklichen Bewegung selbst.

Dies bereitet er schon in seiner Dissertation vor. Wenn die Widersprüche der Ontologie Heideggers und der Neuscholastik letztlich darauf hinauslaufen, dass „alle Seienden […] essentiell-individuell-existentiell bestimmte Vielheit [sind], und alle unterscheiden sich zugleich im inneren Aufbau ihres vieleinheitlichen Bestimmtseins“, dann sei der „absolute Geist“ Hegels eine angemessenere Entfaltung dieses Problems. Wie Haag nun Hegel in Verhältnis zu Überlegungen Thomas von Aquins setzt, um diese aufzuheben, der kann dadurch eine immanente Kritik all jener neuscholastischen Argumentationen nachvollziehen. Dass Horkheimer und Adorno diese Dissertation goutierten, zeigt auch ihren unorthodoxen Umgang mit anderen Sprachspielen und die Notwendigkeit immanenter Kritik, sich seinem Gegenstand „anzuschmiegen“, ihn in seinen so-gegeben erscheinenden Begriffen zu rekonstruieren, um die Widersprüche dieser Verhältnisse zu bestimmen.

Doch nicht nur die Eiswüste der Metaphysik durchschreitet Haag. Wir verdrängten so einen entscheidenden Zug dieses Philosophierens: Er ist nun einmal ein von Jesuiten ausgebildeter Theologe und Philosoph, der gemäß der damals gelehrten Neuscholastik einen historischen Zugang zur Philosophie wählt. Haags Text „Glaube und Wissen“ mag daher von Hegel oder Marx kommende Leser irritieren: Nicht die in der Tradition kritischer Theorie gepflegten Reflexionen zu diesem ‚Problemkomplex‘ werden geboten, sondern an Bacon, Bruno, Spinoza, an einer Kritik der protestantischen und katholischen Theologie zeigt er, dass der Glaube nicht mehr als Glaube wirklich sei, sondern eine „moderne Theologie“ wisse es: „[B]evor das Ende der Welt die Wahrheit über Gott und Welt enthüllt hat, ist keine ‚Gegebenheit‘ denkbar, die absolut und unveränderlich wäre“. Wenn ich solche Begriffe als wesentliche erachte, bedeutet dies aber letztlich, dass ich am Gottesbegriff festhalte, weil er Problemtitel dafür ist, dass ich Unmittelbarkeit und Vermittlung nur je unmittelbar im Verhältnis als Vermittelte begreife. Aus diesem eminent praktischen Problem der Philosophie kann zweierlei geschlossen werden:

1. Ist so Haag an einem „Messianismus ohne Messias“ (Jacques Derrida) interessiert, der zu einer „absoluten Zukunft“ führe: „zu ‚einem neuen Himmel und einer neuen Erde‘“? Schwach gelesen bliebe Haag so einem Imperativ der Kritischen Theorie treu, dass es letztlich sich in der Praxis vollziehe, was Philosophie, was Kritik sei. In seinem Spätwerk folgt daraus, dass der Hegelianismus der Kritischen Theorie selbst zu kritisieren sei. Adornos Hegelkritik sei nicht ausreichend, sie müsse zu Ende gedacht werden. Jene übergreifende Logik, die Adorno anstrebe und die Hegel nicht geglückt sei, müsse im Verhältnis zu Gott, als Göttliches, gedacht werden, da letztlich auch die Identität von Identität und Nicht-Identität auf das Identische des Nicht-Identischen angewiesen sei, damit es Begreifen sei: „die Annahme einer allmächtigen Vernunft [ist] unerläßlich […] für eine rationale Weltauffassung“.

Und dennoch müsse der menschliche Geist auf positive Aussagen über dieses Wirken der Gottheit verzichten, sei zu einer „Negativen Metaphysik“ gezwungen, die nur durch die Kritik der Identitätsphilosophie Hegels zu leisten sei. Dies ist wahrscheinlich eine überbestimmte Kritik Hegels, der ja doch anders als Haag behauptet, einen naiven Pantheismus kritisiert und das Absolute gerade nicht als Identität postuliert. Und ist nicht genau das, was Benjamin oder Adorno als das Sprechen begreifen, Haags unterbestimmte Position für das Göttliche? Daher ist nicht nur Philosophie vernünftig gewordenen Kritik der Religion, sondern zugleich die bestimmte Negation des Glaubens – Kritik der Religion?

2. Hieran merken wir eine Verschiebung in der Aneignung der Hegel’schen Philosophie bei Haag, die sich bereits in „Kritische Philosophie“ ankündigt. Denn im Unterschied zu seiner Dissertation will er in „Hegels idealistische Dialektik“ erweisen, dass Hegel das Nicht-Identische reduziere, was das Kant’sche „Ding an sich“ noch aufhebe (im Sinne von bewahren). Genau diese Argumentation finden wir in Adornos „Negativer Dialektik“ wieder. Aber indem Haag in dieser Kritik Hegels nicht stehenbleibt, sondern metaphysisch begründen will, weswegen das dem Begriff Entschwindende, in dem sich der Begriff durch es vollziehe, Gott sei, lässt sein Philosophieren ‚metaphysisch‘ klappern. Er ist im Gegensatz zu Adorno nicht nur mit der Metaphysik solidarisch im Augenblick ihres Sturzes, sondern Metaphysik soll letzten Endes die Wirklichkeit der Solidarität begründen. Ist es so, dass Philosophieren ohne Reflexion der Sprache wieder zu einer Form der Ontologie wird, a fortiori zu einem Absoluten, zugleich Sein und Seiendes, nämlich Gott?

Dies sind alles merkwürdige Unstimmigkeiten in der Genealogie Kritischer Theorie, die bis dato kaum bedacht wurden. Es lohnte doch sehr, sich mit den Versuchen jener SchülerInnen Adornos zu beschäftigten, die Kritischer Theorie treu blieben gerade durch eine Kritik ihrer Traditionen – indem sie sich um eine Aktualisierung Kritischer Theorie bemühten. Dies ist weniger philologisch, als vielmehr ein philosophisches Gebot der Stunde. Ob diese Aktualisierungen noch gegenwärtig gelten, müssten genaue Lektüren zeigen. Sie verdeutlichen aber, dass das Erbe Kritischer Theorie umstritten bleibt, nicht sich vereindeutigen lässt. Sie muss sich angeeignet werden.

Karl Heinz Haags „Kritische Philosophie“ ist darum spannend, weil es eine Ahnung davon vermittelt, dass Kritische Theorie nicht in der Habermas’schen Diskursethik, der Honneth’schen Variante des Anerkennungsbegriffes oder einer orthodoxen Auslegung der „frühen“ Kritischen Theorie aufgeht. Haags Werk enthält viele Stellen, die wir kritisch mit aktuellen Formen Kritischer Theorie lesen könnten, gerade die hegelianischen. Es wird hier gezeigt, wie vielfältig in aller Einheit Kritische Theorie ist.

Die von manchen zu sehr affirmierte, von anderen zu schnell verurteilte Vielheit oder Familienähnlichkeit der aber dennoch irgendwie kritisch-theoretischen Denkansätze wäre erst einmal zu bestimmen. Haags Hegelianismus und späterer ‚Anti-Hegelianismus‘ könnten ein solcher Anfang sein. Daran ließe sich zeigen, dass das Erbe Kritischer Theorie keineswegs einheitlich oder linear tradiert wird, sondern viele Umwege, Abbrüche und Abgründe kennt. Gerade die Theologie soll ja ein „Gipfel der Verzweiflung“ für manche DenkerInnen sein. Besonders für die, welche die Theologumena Adornos oder Benjamins für bare Münze genommen haben. An und mit Haag ist dies kritisch zu durchdenken.

Titelbild

Karl Heinz Haag: Kritische Philosophie. Abhandlungen und Aufsätze.
Herausgegeben von Rolf Tiedemann.
edition text & kritik, München 2012.
270 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783869162140

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