Das Glück des Überlebens

David Wagners Roman „Leben“ erzählt berührend von der Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod

Von Gunter IrmlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunter Irmler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dramatisch beginnt die Geschichte nach Mitternacht alleine zu Hause: Der Ich-Erzähler liest Zeitung, löffelt aus einem Glas Apfelmus, aber die Adern seiner Speiseröhre platzen. Er spuckt viel Blut, ruft den Notarzt. Im Krankenwagen droht er zu verbluten. Auf der Intensivstation stillen Ärzte die Blutung. Er ist gerettet – nur vorübergehend. Und quälend ist die Ungewissheit, ob er überlebt, als er auf eine Organspende, die neue Leber, wartet.

„Leben“ ist der autobiografisch geprägte und zugleich fiktionale Appell des vielfach ausgezeichneten Autors David Wagner für die Organspende. Er erhielt selbst eine lebensrettende Organtransplantation. Der Schriftsteller, geboren 1971 in Andernach, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte und lebt in Berlin. Sein Roman „Vier Äpfel“ stand 2009 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Sein neuestes Werk wurde für den Leipziger Buchpreis nominiert, der Mitte März verliehen wird.

Wagner berichtet in „Leben“ berührend von der Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod und vom Glück des Überlebens. Der Ich-Erzähler bleibt im Krankenhaus ans Bett gefesselt. Ein Schlauch steckt in seiner Nase, er öffnet verstört die verkrusteten Augen, schwebt zwischen Trance und Todesgedanken. Erschöpft fragt er sich, was ihn am Leben hält, Angst hat er vor dem Tod. Doch allein der Gedanke an seine Tochter gibt ihm Kraft, durchzuhalten.

Am Bett sorgen Zerstreuungen für Ablenkung. Wie die wechselnden Bettnachbarn mit ihren Schicksalsgeschichten. „Und, was hat dich hierhergebracht? Komm, neuer Bettnachbar, erzähl mir deine Geschichte. Und meine eigene, wie geht die? Was, wenn sie hier zu Ende ist? Plötzlich, ich liege ja bloß herum und habe Zeit, viel Zeit, darüber nachzudenken, sehe ich von hier aus so etwas wie ein Leben. Musste es erst fast vorbei sein, um das zu bemerken?“

Diese rhythmisierte und lakonische Sprache voller poetischer Bildkraft hat einen ganz eigenen und leichten Klang, auch, weil Wagner die leidvolle Krankengeschichte mit Humor belebt. Zum Beispiel wenn sich der Ich-Erzähler im Krankenhaus einen Keimschutzkittel mit Mundschutz und Haube überziehen soll, um zum ersten Mal nach draußen zu gehen. Die Schwester hilft ihm in die Handschuhe, „keine Latexhandschuhe, nein, sie hat weiße Stoffhandschuhe mitgebracht. Ich soll wohl auf einen Ball, ich werde Krankenhausdandy und Astronaut, verpackt für den Tauchgang in die warme Luft auf einem anderen Planeten, irgendwo da unten, etliche Stockwerke unter uns.“

Dazu montiert der Autor souverän assoziative Gedanken des Erzählers in diese Miniaturen. Auch Träume und Erinnerungen an die Kindheit, essayhafte Passagen zum Thema Transplantation und medizinische Berichte. Der Wettlauf gegen die Zeit um die Organspende beginnt. Bis der lange ersehnte Anruf kommt und die Stimme am Telefon sagt: „Wir haben ein passendes Spenderorgan für sie.“ Mit ausgesprochenem erzählerischem Raffinement hält Wagner unsere Neugierde auf den Ausgang des Geschehens wach. Er schenkt uns damit ein literarisches Highlight dieses Frühjahrs.

Titelbild

David Wagner: Leben.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013.
280 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498073718

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