Jeder braucht seine Insel

Wassili Golowanow erkundet die Insel Kolgujew in der Barentssee

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Jede bruucht sy Insel“ heißt es in einem äußerst erfolgreichen Dialektlied des Berner Liedermachers Peter Reber aus den 1980er-Jahren. Wassili Golowanow (*1960), russischer Journalist und Autor von „Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens“, würde diesem Satz zunächst bedingungslos zustimmen. Freilich lägen dann aber Welten zwischen den je verschiedenen Beweggründen, welche die beiden zu so einer Aussage veranlassen könnten. Während Peter Reber davon träumt, dem hektischen Alltag zu entfliehen und am Palmenstrand seine Seele baumeln zu lassen, strebt Golowanow nach viel mehr: Auf einer Insel hinter dem Polarkreis in der russischen Barentssee hofft er, sich selbst zu begegnen. Nicht mehr und nicht weniger.

Golowanows „Dokumentarroman“, wie er in der russischen Ausgabe bezeichnet wird, ist im Original bereits im Jahr 2002 erschienen. Es ist eine Art Logbuch zweier Reisen auf die Insel Kolgujew, die 1992 und 1994 stattgefunden haben. Der erste Aufenthalt sollte sich als eine Art Ouvertüre erweisen, die eigentliche „Wanderung“ durch die Insel im Norden erst zwei Jahre später erfolgen. Jene Jahre waren für Russland eine chaotische Zeit. Das alte System hatte abgedankt, die Sowjetunion war zu Grabe getragen worden, an seinen Rändern versank Russland in Konflikte und Kriege. Das Land befand sich in einer Übergangsphase, suchte nach neuen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leitplanken. Die alten Wertvorstellungen und ethisch-moralischen Grundsätze waren obsolet geworden; die Gesellschaft tat sich schwer damit, sich auf neue zu einigen. Die Auswirkungen waren bis in die entlegensten Gebiete des einstigen Imperiums zu verspüren. Gerade an dessen Peripherie wurden die Verfallserscheinungen und die allgemeine Perspektivenlosigkeit besonders offensichtlich. Zahlreiche Arbeitsplätze waren weggefallen, Verkehrsverbindungen gekappt worden, und die Menschen blieben zurück – sich selbst überlassen. Während in den städtischen Zentren sich immerhin allmählich neue Möglichkeiten zum Verdienen und damit zum Überleben abzeichneten, war in der Provinz fast alles zum Stillstand gekommen. – Dies ist präzise der Hintergrund, auf dem Wassili Golowanow beschließt, eine Reise zu unternehmen. Des lärmigen Moskaus überdrüssig, gelangweilt von seinem bisherigen Leben, packt er seine Siebensachen und begibt sich auf eine Suche nach sich selbst, nach dem Sinn des eigenen Lebens. Dafür lässt er sogar Frau und Kinder zurück – und das schlechte Gewissen deswegen wird ihn später verfolgen.

Wassili Golowanow erweist sich als stark von Kenneth Whites Geopoetik beeinflusst, auf den er in seinem Buch auch eingeht. In der russischen Literaturkritik der letzten Jahre verwendet man für die Art von Golowanows Aufzeichnungen immer häufiger den Begriff „roman-travelog“, abgeleitet vom englischen Wort „travelogue“. Ein Kritiker hat im Hinblick auf Golowanows „Die Insel“ noch ein paar weitere Termini ins Spiel gebracht: Geografik, Geologik, Biopoetik, Astronomik. Man braucht diese und ähnliche Ausdrücke nicht unbedingt näher zu definieren, um ungefähr erahnen zu können, was für eine Textgattung damit bezeichnet werden soll. Das gemeinsame Moment, das alle genannten Begriffe enhalten, ist ihre Absicht: das „Schreiben des Wegs“, das Protokollieren einer Reise.

In mehreren „Büchern“ genannten Großkapiteln schildert Wassili Golowanow seine beiden Reisen nach Kolgujew. Dabei interessiert er sich nicht allein für das, was er sieht, für Flora und Fauna, für die Menschen, für die Geografie. Er reichert seinen Bericht immer wieder mit Reflexionen historischer, philosophischer, gesellschaftlicher und politischer Art an. Dabei verwebt er auch zahlreiche Lektüren in seinen Text, beruft sich auf Historiker, aber auch auf Erzählungen der Einheimischen. Die Insel Kolgujew erweist sich für Golowanow als Kreuzungspunkt in zweifacher Hinsicht, nämlich gleichermaßen äußerlich wie auch innerlich. In der Geschichte der Insel, die Golowanow detailliert nacherzählt, haben die verschiedensten Kräfte gewirkt: Auf Kolgujew begegnen sich Lebenslinien, Eroberungszüge, Handelswege, Reiserouten und Tierpfade. Hier haben nomadische Nenzen, vertriebene russische Altgläubige, Aussteiger, Walfänger, Vertreter der sowjetisch Behörden und andere ihre Spuren hinterlassen. Auf Kolgujew erfährt Golowanow aber auch, wie in ihm unterschiedliche Energien aufeinanderprallen, und dies mitunter schmerzvoll. Hier beschäftigen ihn philosophische Konzepte, religiöse Gedanken, magische Rituale, seine eigenen psychischen Regungen. Dadurch herausgefordert muss Golowanow seine Identität komplett neu denken. Golowanows Reisen – ebenso wie sein Buch darüber – werden deshalb auch zum „Trip“, und dies ganz ohne den abschätzigen Beigeschmack, den dieses Wort in einem esoterischen Verständnis beinhalten könnte. Es ist in der Tat ein innerer Rauschzustand, der Golowanow auf einen Weg der Erkenntnis führt. Dass der Autor es versteht, den Leser hieran teilnehmen zu lassen, ist sicher die große Stärke seines Buches.

Kolgujew – nur etwa 3.500 km² groß, mit einer einzigen Siedlung – lässt einen bisweilen an Thomas Morus’ Insel „Utopia“ denken, auch wenn die in Tat und Wahrheit äußerst tristen Verhältnisse im russischen Hohen Norden einem eher wie eine Antiutopie vorkommen müssen. Golowanow verdrängt die Probleme keineswegs, er benennt sie alle, und sie schmerzen ihn ganz besonders: Alkoholismus, Perspektivenlosigkeit, Abwanderung, fehlende Bildungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten. Golowanow aber „braucht“ diese Insel, und für ihn hält sie denn auch tatsächlich das Beste bereit, was sie zu bieten hat: Sie wird ihm zum Ort, an dem er sich selber findet. Darin wiederum erinnert Kolgujew von fern an die sagenumwobene, im Ozean versunkene Insel Atlantis. Golowanow ist überzeugt, dass dieses Atlantis wieder gefunden werden kann. Ihm selber gelingt dies auf, mit und durch Kolgujew. Doch letztlich geht es im Grunde um die symbolische Insel in uns allen. Es kommt denn wohl auch nicht von ungefähr, dass die Insel im Buchtitel nicht namentlich benannt wird. Für Golowanow braucht nicht nur jeder Mensch seine eigene Insel; wahrscheinlich würde der Autor auch behaupten, dass jeder so eine Insel tatsächlich irgendwo besitzt. Nicht unbedingt im Ozean, vielleicht auch nur im eigenen Innersten. Golowanows Insel Kolgujew wird für ihn zum Garten, in den er sich zurückziehen kann – selbst wenn er schon längst wieder nach Moskau zurückgekehrt ist. Aber es ist dies freilich ein karger Garten, ähnlich einem japanischen Steingarten, der zu Meditation und zur Begegnung mit sich selbst einlädt. Golowanows Interesse für östliche Mystik, für asiatische Philosophie ist in seinem Buch nicht zu übersehen.

„Die Insel“ ist wohl von seinem Autor als ein grundsätzlich offenes Buch konzipiert worden, ein Buch der Innerlichkeit, das keine klaren Grenzen, keinen eindeutigen Schluss kennt. Golowanow hat seinen Roman im Hinblick auf die deutsche Ausgabe „noch einmal leicht bearbeitet, d.h. im Wesentlichen gekürzt“, wie es in einer Anmerkung am Ende des Buches heißt. An dieser Stelle mag denn auch die Kritik an Golowanows „Insel“ einsetzen, verweist doch diese kurze Notiz bereits auf ein Hauptproblem des Buches: „Die Insel“ weist in der Tat auch nach der Kürzung noch einige Längen auf, die wohl selbst dann nicht wegzureden sind, wenn man akzeptiert, dass das Konzept des Buches eine stark meditative Komponente, verbunden mit einem sich dehnenden, Raum greifenden Erzählen, geradezu bedingt. Manches dreht sich dann aber doch ein wenig zu sehr im Kreis, und der gewisse Plauderton gerät bisweilen in Widerspruch zur Stille und Ruhe, die Golowanow doch wohl eigentlich inszenieren möchte. So hebt etwa das „Buch der beigelegten Seiten“, der letzte Teil der „Insel“, die in den vorangegangenen Kapiteln aufgebaute Atmosphäre beinahe wieder auf, was sehr zu bedauern ist. Wenn hier Golowanow beispielsweise einen kurzen Abriss über die Síde, die mythischen kleinen Bewohner der Feenhügel Irlands, in sein Buch einbaut, so mag das zwar an und für sich höchst interessant sein; gleichwohl rüttelt es aber auch am Kompositionsprinzip des Buches – als hätte dem Autor die eine Insel Kolgujew dann doch nicht gereicht.

Golowanos Reisebuch verliert auch dann ein wenig von seiner Faszination – die es auf den Lesenden zweifellos ausübt –, wenn man es mit den Büchern eines anderen Reiseschriftstellers konfrontiert, der in den letzten Jahren für Aufsehen gesorgt hat. Der Pole Mariusz Wilk hat in seinen Reiseberichten wie „Schwarzes Eis“ oder „Das Haus am Onegasee“ eindrücklich bewiesen, dass man über den russischen Norden auf kontemplativ-philosophische Weise schreiben kann, ohne dabei die Feder allzu frei laufen zu lassen: Wilk versteht es zuzuspitzen, zu verdichten – und eben hie und da auch auszusparen, wegzulassen. Dazu kommt, dass der Ausländer Wilk in Russland vielleicht noch etwas eher den Blick eines Außenstehenden hat, der ihn andere Dinge – und die Dinge anders – sehen lässt. Freilich ist dann auch Golowanow – der Moskauer, der Akademiker – auf seiner Insel Kolgujew ein „Fremder“. Trotz dieser Einwände bleibt Wassili Golowanows „Die Insel“ eine lohnende Lektüre. Der Erkenntnisgewinn ist nicht allein geopoetischer Art – man weiß nach der Reise auf Kolgujew im besten Fall auch etwas mehr über sich selbst.

Titelbild

Wassili Golowanow: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens.
Übersetzt aus dem Russischen von Eveline Passet.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
600 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882219944

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