Literatur = Roman

Benedikt Jeßing, Karin Kress und Jost Schneider schreiben Romangeschichte – wirklich für ein breites Publikum?

Von Kristin EichhornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristin Eichhorn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum soll man sich mit der Geschichte des deutschen Romans beschäftigen? Die Antwort auf diese Frage scheint klar. Sah es im frühen 18. Jahrhundert noch nicht so gut mit dem Renommee der Gattung aus, hat der Roman seitdem eine steile Karriere gemacht. Das geht so weit, dass die meisten Leser unter Literaturrezeption heutzutage automatisch die Lektüre von Romanen verstehen und eben nicht von Lyrik oder Dramen. Diese Beobachtung bildet den Anfangs- und Endpunkt der „Kleinen Geschichte des deutschen Romans“, die Benedikt Jeßing, Karin Kress und Jost Schneider gerade vorgelegt haben. Diese Geschichte reicht vom späten Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart und ist in drei Teile gegliedert, auf die sich die Autoren verteilen: „Von den Anfängen bis zum 18. Jahrhundert“ (Jeßing), „Das 19. Jahrhundert“ (Schneider) sowie „Das 20. und 21. Jahrhundert“ (Kress).

Naturgemäß kann der Kenner hier nicht viel Neues erwarten, schließlich hat mit der Romanproduktion auch die Forschung geboomt. Der Wert der „Kleinen Geschichte des deutschen Romans“ muss sich an einem anderen Kriterium messen, nämlich daran, ob es ihr gelingt, die vorhandenen Forschungserkenntnisse auf anschauliche Weise einem interessierten Laienpublikum zugänglich zu machen. Das verspricht der Klappentext und man hat auch den Eindruck, dass die Autoren das gleiche Ziel verfolgen. Da ist von ‚Faszination‘ am Gegenstand die Rede und auch sprachlich wird durch rhetorische Fragen die Zugangsschwelle gesenkt.

Ein Spagat zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit also, an dem schon viele Darstellungen gescheitert sind. Leider gilt das auch für Jeßing und Schneider und ihre Kapitel ‚Von den Anfängen bis zum 18. Jahrhundert‘ beziehungsweise ‚Das 19. Jahrhundert‘. Sicher kommen alle zentralen Begriffe der Romangeschichte vor. Sie werden indes meist nur en passant genannt und nicht erläutert. Dem Laienleser muss man schon erklären, was es mit Stichworten wie dem modernen Fiktionalitätsbegriff oder der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft auf sich hat – wer es weiß, wird sich mutmaßlich auch in Romangeschichte gut genug auskennen, um das Buch nicht lesen zu müssen.

Das ist aber nur die eine Seite. An sich ist nichts dagegen zu sagen, wenn in den beiden ersten Teilen die sozialhistorische Perspektive dominiert. Auch die Vorliebe für gesellschaftskritische Romane sei den Literaturwissenschaftlern zugestanden. Skepsis ist allerdings angebracht, wo die Darstellung einseitig bis irreführend wird. Um zu verstehen, wie es zum Aufstieg des Romans zur Leitgattung kam, reichen kommentierte Inhaltsangaben definitiv nicht aus. Dazu muss man die Diskussion um den Roman als Gattung und um einzelne Texte mitbehandeln. Überhaupt kommt die ästhetische Entwicklung des Romans entschieden zu kurz. Dass zu bestimmten Zeiten bestimmte Formen dominieren (Briefroman, Herausgeberfiktion), erfährt man aus den ersten beiden Teilen nur nebenbei. Stattdessen liest man Überflüssiges und Falsches: Was hat in einer Romangeschichte der Hinweis zu suchen, auf welcher Website man sich über die touristischen Attraktionen des Schlosses Lichtenstein informieren kann? Und seit wann ist eigentlich der Sturm und Drang eine literarische Strömung des 19. Jahrhunderts? (Letzteres geht selbst dann nicht, wenn man es mit Schneider als ‚langes 19. Jahrhundert‘ schon 1789 beginnen lässt.)

Anders jedoch das Kapitel von Karin Kress zum 20. und 21. Jahrhundert. Kress tut genau das, was ihre Vorgänger versäumt haben: Sie führt den historischen Hintergrund und die formale Entwicklung des Romans endlich zusammen und verzichtet auf lange Inhaltsangaben. Stattdessen zeigt sie an den Texten die spezifische Schreibweise des jeweiligen Autors und ordnet sie in ihren literaturgeschichtlichen Kontext ein. Freilich: Die literarhistorischen Zuordnungen sind nicht alternativlos und anstelle der zum Teil recht langen Zitate aus der Sekundärliteratur könnten auch einfache Verweise stehen. Dankbar ist man dennoch für die Nachvollziehbarkeit der Ausführungen und den Verzicht auf jede Anbiederung an ein vermeintlich unterhaltungsbedürftiges Lesepublikum. Das ist nicht revolutionär, aber alles wohltuend solide.

Beschlossen wird das Buch dann doch noch von einer Übersicht, die auch dem erfahrenen Literarhistoriker Neues bietet: Schneider ergänzt Kress’ Ausführungen um ein Kapitel zum modernen Unterhaltungsroman der letzten Jahre. Es bietet einen guten Überblick über die unterschiedlichen Genres und ihre erfolgreichsten Vertreter. Diese Darstellung ist nun deutlich runder als das Kapitel zum 19. Jahrhundert, das ebenfalls einen Abschnitt zum Unterhaltungsroman aufweist.

Die Berücksichtigung der nichtkanonischen Texte gehört sicher zu den Vorzügen der „Kleinen Geschichte des deutschen Romans“. Eines ist aber klar: Deren Leser sind nicht Schneiders Adressaten. Die ‚einseitigen‘ Lesestoffe, erfährt man, werden vorrangig von den „Unter- und Mittelschichten“ bevorzugt – nur: Lesen diese angesichts der Medienkonkurrenz heutzutage überhaupt noch? So richtig ernst genommen fühlt man sich nicht als „Jerry Cotton“-Fan oder „Wanderhuren“-Liebhaberin. Gut, dass es dann doch wohl die „gebildeteren Leser“ sind, für die die „Kleine Geschichte des deutschen Romans“ gedacht ist. Nur vielleicht ist genau das das Problem.

Titelbild

Benedikt Jeßing / Jost Schneider / Karin Kress: Kleine Geschichte des deutschen Romans.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2012.
221 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783650243478

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