Erfrischung gegen den Sinnstress

„Wahrheit und Erfindung“: Albrecht Koschorkes überaus anregender und überzeugender Entwurf einer Allgemeinen Erzähltheorie hat das Zeug zum Standardwerk

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie muss man sich den Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke eigentlich in persona vorstellen? Die entspannte Grundhaltung seines neuen Buches „Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie“ lässt das Bild eines Autors entstehen, der vielleicht ebenso entspannt über die vermeintlichen Fallstricke und Tücken des Erzählens mit einem verschmitzten Lächeln nachdenkt. Ein Lächeln, das sagen möchte, man solle doch das ganze Theoretisieren darum, was Erzählen ist und was es ausmacht, nicht so ernst nehmen. Zugleich spiegelt sich aber in jeder Seite des Buches der ganze Ernst des Erzählens als kultureller Praxis wider. Denn es geht Koschorke um nicht weniger als darum, das Erzählen als ein zutiefst dem Menschen und seiner Kultur eingeschriebenes Verfahren zu beschreiben, genauer: das Erzählen als das zentrale Verfahren von Gesellschaften zu bestimmen, als „Organon einer unablässigen kulturellen Selbsttransformation“, als jenen Ort, wo Gesellschaften (über) sich selbst erzählen, ohne sich darüber immer im Klaren zu sein.

Albrecht Koschorke steht damit in eine langen Tradition des Nachdenkens über das Erzählen und seine Gründe, Bedingungen und Verfahren. Schon für die griechische Antike ist ein derartiges Denken belegt, das seine Kreise im 20. Jahrhundert über Käthe Hamburger, Jurij M. Lotman, Franz K. Stanzel, Roland Barthes, Gerard Genette, Mieke Bal, Wolf Schmid, Wolfgang Müller-Funk und andere bis hin zu Koschorke selbst zieht. Im Unterschied zu den meisten dieser Vorläufer aber ist Koschorkes Ansatz darauf ausgerichtet, nicht den literarischen Text zum Objekt einer Erzähltheorie zu erklären, sondern eine Theorie des Erzählens zu etablieren, die ihrem Anspruch nach sämtliche kulturellen, also vom Menschen abhängigen Phänomene in ihr Untersuchungsfeld einbezieht. Koschorke ist damit Teil einer Forschungstendenz innerhalb der Geisteswissenschaften, die das Erzählen als ein generalisierendes Kulturphänomen betrachtet. Als einen wesentlichen Beweggrund für sein Buch gibt er an, „dass sich in den letzten Jahrzehnten eine starke Konvergenz zwischen Literaturwissenschaft, Kultursemiotik und Wissensgeschichte abzeichnet und dass dies mit der Karriere des Begriffs ,Erzählung‘ zusammenhängt, der lange einen Gegenpol zu wissenschaftlichem Wissen markierte“. Es ist also die Aufgabe der von Koschorke in Anschlag gebrachten Allgemeinen Erzähltheorie, narrative Prozesse und Verfahrensweisen auch und vor allem außerhalb künstlerischer Rahmenbedingungen zu untersuchen. Damit reiht sich dieser Ansatz in den größeren Kontext einer narrativen Kulturtheorie ein, die ihre Konzepte von Lotman, Foucault, Barthes, Eco, Bal und anderen bezieht. Besonders die seit 2010 in deutscher Übersetzung zugänglichen Arbeiten von Jurij M. Lotman zur Kultursemiotik („Kultur und Explosion“; „Die Innenwelt des Denkens“; beide bei Suhrkamp erschienen) bilden den zentralen Bezugspunkt für Koschorkes Ansatz, auf den er immer wieder referiert, wenn es beispielsweise um Komplexe wie Raum, Zeit, Grenze oder Sinn geht.

Der Ausgangspunkt Albrecht Koschorkes ist die „Universalität des Erzählens“, die er genauer fassen und legitimieren möchte. Für das Erzählen sei kennzeichnend, dass es von einer „ontologischen Indifferenz“ geprägt ist, die das Erzählen einem eindeutigen Zweck enthebt. Das Erzählen als ontologisch indifferentes Verfahren steht damit dem zutiefst menschlichen Bedürfnis gegenüber, „zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist“ zu unterscheiden. Trotz oder gerade wegen dieser Missachtung „eine[r] lebensnotwendige[n] Unterscheidung“ konnte das Erzählen „den Rang einer kulturellen Universalie beziehungsweise eines anthropologischen Grundmerkmals ein[]nehmen“. Neben die „ontologische Indifferenz“, die es hinsichtlich seines Gegenstandes ortlos macht, ist das Erzählen auch in seiner „kommunikativen Funktion […] unsicher und durchquert die ganze Bandbreite der Möglichkeiten“, was schließlich darin mündet, dass für das Erzählen als Technik die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr immer uneindeutig bleibt. Die darin sich zeigende Unsicherheit des Erzählens provozierte seine Zähmung und Einhegung in das eng umgrenzte Reservat der Schönen Künste. Doch wie Koschorke zeigt, hat das Erzählen dieser Einhegung getrotzt und die „Teilung des epistemischen Feldes“ (in mythos und logos, in Kunst und Wissenschaft) überwunden. „Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel. Es stellt keinen Funktionscode unter anderen dar, sondern eine Weise der Repräsentation und Mitteilung über alle kulturellen Grenzen hinweg.“

Den Großteil des Buches bilden schließlich fünf Analysekapitel, die das Erzählen in immer komplexeren Zusammenhängen als grundlegend kulturelles Verfahren darstellen. Dabei spannt Koschorke den Bogen von den elementaren Operationen über die kulturellen Felder, die Modellierung sozialer Zeit, hin zu Narrativen und Institutionen um am Schluss einige epistemische Narrative zu behandeln. Die Wahl dieses Aufbaus ist einleuchtend, kann der Leser dadurch doch die nicht immer einfachen Voraussetzungen des Themas und die Denkbewegungen des Autors besser nachvollziehen.

Besonders das Kapitel zu den elementaren Operationen bietet einen im besten Sinne lehrbuchhaften Einstieg in die Probleme des Erzählens. Die Operationen sind: Reduktion (1), Schemabildung (2), Redundanz und Variation (3), Diversifikation (4), Sequenzbildung, Rahmung (5), Motivation (6), Position der Erzählinstanz (7) und Erregung und Bindung von Affekten (8). Dabei greift Koschorke auf bereits etablierte erzähltheoretische Positionen zurück, führt diese zusammen, revidiert, wo es angebracht scheint, ältere Auffassungen und setzt darüber hinaus eigene Schwerpunkte.

Einer dieser Schwerpunkte ist in der Definition des Schlüsselbegriffs „Narrativ“ zu sehen, der in der Literaturwissenschaft bisher als unscharfer Terminus auftauchte. Als Narrativ versteht Albrecht Koschorke nicht den einzelnen Text in seiner narrativen, das heißt spezifischen handlungs- und kommunikationszentrierten Verfassung, sondern ein erzählerisches Grundmuster, das als Schema generalisierbar ist und dem einzelnen Text (und später auch Gesellschaften), sei er auch noch so komplex in sich selbst organisiert, zugrunde liegt. Narrative, so Koschorke, sind „Dispositive von einem mittleren Härtegrad, insofern sie die in ihnen enthaltenen Elemente konfigurieren, aber nicht bis ins Letzte festlegen“. Im weiteren Fortgang des Buches durch die Kapitel erfährt der Begriff des Narrativs eine höhere Tiefenschärfe und analytisches Gewicht. Hierin liegt eine der Leistungen des Buches, denn bisher war dieser spezifische Begriff in der hier vorliegenden Deutlichkeit noch nicht thematisiert worden (Wolfgang Müller-Funk hat 2002 in seinem Buch „Die Kultur und ihre Narrative“ eine erste Wegmarke in diese Richtung gesetzt).

Methodologisch und theoretisch situiert sich das Herangehen Albrecht Koschorkes im Feld postmoderner, das heißt im weitesten Sinne poststrukturalistischer Theoriebildung. Das schlägt sich in der erfrischend unorthodoxen Perspektive auf das Erzählen nieder, das immer wieder als Medium (im Sinne von Mittler) eingesetzt wird, das sich nicht eindeutig festlegen lässt. Auch Kategorien wie Sinn und Bedeutung sind in der Allgemeinen Erzähltheorie, wie sie Albrecht Koschorke vorschlägt, Randphänomene. Erzählen ist nicht dazu da, soziale Gruppen zu stabilisieren, indem sich in ihm ein fester Sinn fixiert; Sinn wird vielmehr als Problemkategorie aufgefasst, wenn es um die Rolle des Erzählens innerhalb sozialer und künstlerischer Tableaus geht und nicht um Spezialdiskurse. Sinn ist sehr energieintensiv, weil zu seiner Aufrechterhaltung enorme Anstrengungen („Sinnstress“) entgegen der Sinnstreuungstendenzen von Sprache, Erzählen und Kultur vonnöten wären. „Es geht […] darum, Sinn als einen unter bestimmten Bedingungen erzeugten Effekt und nicht als schlechthinnige Prämisse kultureller Aktivität zu behandeln“. Vielmehr soll das Erzählen gerade in seiner Potenzialität vergegenwärtigt werden, multiple Sinnangebote zu unterbreiten, ohne gleich in einen wiederum negativ besetzten Sinnpluralismus zu verfallen.

In seinen theoretischen Ausformulierungen stützt sich Koschorke aber nicht nur auf Erkenntnisse aus den Geisteswissenschaften, eine Vielzahl an Konzepten und Beobachtungen entstammen anderen Disziplinen wie der Kognitionswissenschaft, der Psychologie, der Physik oder auch der Neurophysiologie und tragen dazu bei, das Erzählen als für die Kultur des Menschen und seinen Weltzugang maßgebliches Verfahren zu verankern.

Albrecht Koschorke hat, das darf man sagen, mit „Wahrheit und Erfindung“ ein neues Standardwerk im Bereich der Narratologie vorgelegt, das Generationen von Studenten und Wissenschaftlern begleiten wird. Ein Werk, das auch hinsichtlich Sprache und Stil überzeugen kann. Es ist das Verdienst des Autors, ein hoch komplexes Thema mit anschaulichen Beispielen spannend und kurzweilig zu „erzählen“, ohne in den Duktus populärwissenschaftlicher Abhandlungen abzugleiten.

Titelbild

Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
480 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100389114

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