Man muss einräumen…

…dass der Cyberspace über viele konstruktive Ordnungsangebote verfügt, um seinen Raum zu füllen. Aber woher kommen die räumlichen Metaphern für das Internet – und ist ihre Funktion am Ende bodenlos?

Von Theresa HahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Theresa Hahl

„Bin gleich wieder da, nur kurz im Internet“, teilt ein Post-it Zettel an der Türe mit. In einer Zeit, in der das Internet mobil, kabellos und transportabel ist, per Smartphone einfach jackentaschenkompatibel, scheint es dumm die Frage zu stellen, wo dieses Internet denn eigentlich sei. Das Internet ist überall. Das International Network, WorldWideWeb oder auch manchmal Cyberspace genannt, hat schon längst seine glasfaserkabelgebundene Geburtsstätte verlassen. Als es noch lediglich als dezentrales Computernetzwerk zum Datenaustausch zwischen Großrechnern verstanden wurde, hatte sich zwar schon eine spezifische Darstellungsmöglichkeit etabliert, um die multiplen Verknüpfungen der einzelnen Server zu beschreiben, sind doch solche Netzwerktheorien leicht in einem zweidimensionalen Koordinatensystem darzustellen.

Aber egal ob man die verschiedenen Ordner im E-Mail-Postfach überprüft, ein Statusupdate auf Facebook postet, ein Bild auf seiner Pinnwand einstellt, sich in einem Forum, Chatroom oder auf einer Plattform trifft, neue Daten in die dropbox legt, im Datenmeer surft oder schlichtweg eine Internetadresse aufsucht, beschleicht einen das Gefühl von Räumlichkeit. Obwohl der User physisch seinen Standort nicht verlässt und vor seinem Bildschirm sitzen bleibt, dessen Höhe und Breite unverkennbar determiniert sind und jede aufgerufene Seite sich an diesen simplen zweidimensionalen Rahmen anpasst, suggeriert uns etwas am Internet, sich in einen Raum zu begeben, in den Cyberspace vorzudringen, einen Raum, der gar keine geografische Authentizität besitzt.

Diese surreale Tiefe des Raums wird durch Phänomene wie Interaktivität und Hyperlinks suggeriert. Obwohl keine der Webseiten sich in Shanghai, New York oder Berlin befindet, sie also ganz ohne Längen- und Breitengrade existieren, kann man sie aufsuchen. Die Website (aus dem Englischen: site für ‚Ort‘, ‚Platz‘, ‚Stelle‘) wird allerdings nicht wirklich aufgesucht, denn der Mensch bewegt sich nicht zum Ort, der Ort bewegt sich zum Menschen.

Damit unterscheidet sich dieser virtuelle Ort fundamental vom materiellen, denn er hat eine charakteristische Eigenschaft des physischen Raums aufgegeben, nämlich seine geografische Fixierung. Sollte das Internet eine Art Raum sein, so sind seine einzelnen Sites zwar jederzeit ortbar, jedoch zugleich ortlos, denn sie lassen sich zwar von mehreren Computern und anderen Stellen zugleich aufrufen, haben allerdings keinen festen Platz und sind damit potentiell überall anzutreffen.

Eine zweite Eigenschaft, die den virtuellen Raum vom materiellen unterscheidet´, sind seine Grenzen. Ein materieller Raum hat eine klare lokale Struktur und Abmessung, die durch die Raumwände gegeben sind. Dadurch erlangt er Stabilität. Die spezifischen Eigenschaften und Grenzen realer Räume ermöglichen es, sich zu orientieren. Orte, die in der Nähe liegen, sind dabei einfacher erschließbar, da meist alle Voraussetzungen erfüllt sind, um sich in ihnen zurechtzufinden, spricht man doch die gleiche Sprache und teilt den gleichen kulturellen Hintergrund. Manche Räume sind hierbei auch nicht erschließbar, da man für sie eine Zutrittsberechtigung benötigt oder Fähigkeiten und Bedingungen erfordert werden, die man nicht vorweisen kann. Egal, welchen materiellen Raum man auch als einen Ort eingrenzt, unterliegt er doch einer gewissen Begrenzung. Diese verleiht dem materiellen Raum trotz seiner möglichen Weitläufigkeit stets eine gewisse Überschaubarkeit. Gibt es doch einen festen Umfang an Raum, also Boden auf dieser Erde, der sich nicht weiter ausdehnen kann.

Genau in dieser Hinsicht unterscheidet sich der materielle Raum vom immateriellen Raum des Internets grundlegend. Zwar sind im virtuellen Raum rigide Grenzen und Beschränkungen wie Mauern, Wände und Ländergrenzen aufgehoben, wodurch sich die Erreichbarkeit neuer ‚Orte‘ beträchtlich steigert und dem Nutzer mehr individuelle und flexible Gestaltung des Raumes gewährt wird, jedoch treffen in vielerlei Hinsicht wesentliche Beschränkungskriterien auch auf das Internet zu. Der immaterielle Raum ist ebenfalls mit Barrieren versehen, wie Passwörtern, Gebühren und Filtersoftwares. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Raumkonzepten ist allerdings die durch ständige Veränderung der Sites bedingte Diskontinuität der räumlichen Gegebenheiten des Internets und seine Möglichkeit zur unendlichen Ausdehnung. Dem virtuellen Raum kann kein Höchstmaß an Ausweitung gesetzt werden, er ist wie der Kosmos, von scheinbar unendlicher Größe, und er dehnt sich immer weiter aus. Er hat keinen Boden, den es aufzuteilen gäbe.

Bisher kann man den immateriellen Raum noch durch einfache Kriterien vom materiellen Raum unterscheiden. Das Internet hat sich in den vergangenen Jahren hinsichtlich Interaktionspotenzial und multimedialer Komponenten zwar erheblich weiterentwickelt, doch kann man im virtuellen Raum lediglich von audio-visuellen Sinneseindrücken sprechen, aber nicht von einer haptischen Wahrnehmung oder sinnlichen Erfahrbarkeit atmosphärischer Gegebenheiten.

Audio-visuelle Sinneseindrücke erzeugt allerdings auch das Massenmedium Fernsehen. Und strenggenommen sind Verweise in Büchern ebenso intertextuell wie Hyperlinks, nur eben nicht digitalisiert. Warum also rufen andere Medien im Sprachgebrauch keine räumlichen Metaphern hervor?

Wenn neuer Raum erschaffen, also Platz ausgeräumt wird, ist er zunächst leer. Leere Räume wirken befremdlich, erhalten sie doch normalerweise unmittelbar eine funktionale Zuweisung, sie werden zu Straßen, Parks, Spielplätzen oder Einkaufspassagen. Der leere Raum in einer Wohnung wird nach dem Einzug schnell aufgeteilt und jedes Zimmer bekommt eine spezifische Funktion, die seiner Raumbeschaffenheit entspricht. Ein Raum wird das Wohnzimmer, in dem man auf den Ledersofas Gäste empfangen kann und einen Fernseher aufstellt. Ein Raum wird zur Küche, in der man kocht und einen Geschirrspüler aufstellt. Ein Raum wird zum Schlafzimmer, ein anderer zum Büro und einer zum Kinderzimmer. Jeder dieser materiellen Räume repräsentiert und beherbergt eine bestimmte gesellschaftliche Praxis. Erst die Interaktion zwischen Menschen bildet diese Raumstrukturen heraus und erzeugt kollektive Vorstellungen von Raum. Die soziale Definition gibt Räumen erst ihre Funktion. Ein Gemischtwarenladen unterscheidet sich erst dann von einem Sonnenstudio, wie die Kindertagesstätte vom Rathaus, wenn die Menschen diese Bestimmungen durch ihr Verhalten in diesen Räumen auch anerkennen.

Natürlich trägt die Funktion in vielen Fällen dazu bei, dass neuer Raum erschlossen oder erweitert wird, in dem eine bestimmte gesellschaftliche Praxis ausgeübt werden kann. Gab es erst leere Räume, die dann mit diversen Funktionen ‚befüllt‘ wurden, oder gab es erst die gesellschaftlichen Praktiken und dann den Bedarf, neue Räume zu finden, um ihnen eine Bestimmung zu geben? War also zuerst das Internet da, welches wir dann mit Inhalt und Funktion füllten, oder gab es das Bedürfnis nach einem internationalen Datennetzwerk, dem in Form des Internets dann Folge geleistet wurde?

Um sich zu vergegenwärtigen, welche Rolle das Internet in unserer gesellschaftlichen Praxis einnimmt, hilft es womöglich, eine der Beschäftigungen genauer zu betrachten, die Grund und Anreiz des Großteils aller aktiven und passiven Tätigkeiten im Netz sind, nämlich das Posten. Das Verb ‚posten‘ kommt aus dem Englischen von ‚to post‘, das sich wiederum von ‚post‘ dem Pfahl oder Posten herleitet. Es wird im Vergleich zu anderen Verben wie ‚schreiben’ oder ‚schicken‘ fast immer transitiv verwendet (‚ich poste ein Bild‘), nur selten intransitiv (‚ich poste oft morgens‘) und fast nie ditransitiv (‚ich poste dir ein Bild auf die Seite‘). Das liegt daran, dass ein ditransitiver Gebrauch sowohl einen intendierten Transfer, als auch einen Empfänger benötigt. Die Tätigkeit des Postens, oder vielmehr, die Inhalte, die gepostet werden, müssen überhaupt keinen lokalisierbaren Empfänger haben, wodurch sich die Bezeichnung der Tätigkeit von ditransitiven Verben wie ‚schicken‘ unterscheidet, die prototypisch bereits eine Interaktion voraussetzen. Beim Posten fehlt das indirekte Objekt und somit auch der Empfänger. Das Posten hat konzeptuell genau den Raum ausgefüllt, den das Internet geschaffen hat, es braucht gar keinen konkreten Empfänger, die Tätigkeit selbst ist sich Sinn genug. Natürlich kommt es auch zur Rezeption der Beiträge, doch wie viele der ursprünglich intendierten Leser ein Beitrag schließlich erreicht, erfährt der Verfasser meist nicht.

Der virtuelle Raum ist ein kulturspezifisches Konstrukt, das aus Handlungsweisen und Routinen entstanden ist und dessen gesellschaftliche Funktion die Generierung von Sozialität ist, einer ganz besonderen, nämlich der transitiven, ohne direkten Adressaten auskommenden Aktivität des Postens, in dessen Rahmen es bestimmte konstruktive Ordnungsangebote gibt. Doch wozu braucht man denn dann überhaupt noch eine Raumstruktur, wenn eine Pinnwand reichen würde?

Vergleicht man die Funktionen von Metaphern und Räumen, so wird schnell deutlich, dass sich beide auf die Erwartungsstrukturierung und Orientierung auswirken. Beide stellen zudem eine Verbindung zwischen gesellschaftlich erfahrbarer Welt und den Sinnen her. Eine Metapher gleicht ein sprachliches Defizit aus und stellt somit den Anschluss an die Kommunikation wieder her. Neue Eindrücke bedürfen einer Übersetzung in Bilder, um sie richtig einordnen zu können. Solche Übertragungsprozesse erbringen eine Zuordnungsleistung und schaffen greifbare Fixierungspunkte durch Sprache. Die Metapher des Raums erwirkt daher eine zweifache Ordnungsstruktur, die dem virtuellen Raum und seinem komplexen sozialen Gefüge einen Rahmen zu geben vermag, oder, mag man einräumen, vielleicht auch einen doppelten Boden.