Eine deutsche Familiengeschichte in der DDR

Zu Birk Meinhardts Roman „Brüder und Schwestern“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist vor allem anderen eine Familiengeschichte, die Birk Meinhardt in seinem Roman „Brüder und Schwestern“ aufgeschrieben hat. Eine Familiengeschichte zwischen den Jahren 1973 und 1989. Die Familie lebt in der DDR. Und wenn man Vorschusslorbeeren geben darf, dann sind es solche, die sich auf das sprachliche und erzählerisch hohe Niveau beziehen, das der Roman durchgehend hält. Es wird nicht langweilig. Die Figuren sind plastisch, emphatisch beschrieben und sie werden über die Zeit der Lektüre zu wirklich Charakteren, die man vielleicht sogar im richtigen Leben kennenlernen möchte. Oder anders. Wenn man damals in den 1970er- und 1980er-Jahren als Westler einen von ,drüben‘ hätte treffen dürfen und auch wollen, dann bestimmt jemanden wie Matti, oder wie seine Schwester Britta, die im Zirkus arbeitet. Oder vielleicht sogar Willi, den Vater der Geschwister, der sich als Leiter einer Druckerei mit gesellschaftlichen Zwängen der DDR herumschlägt. Und vielleicht hätte man sogar Erik, den zweiten Bruder kennenlernen wollen. Und zusammen mit allen dreien hätte man an einem gemütlichen Abend mit ein paar Flaschen Staropramen ein ganz ordentliches interkulturelles Gespräch hinbekommen.

Genau diese Vertrautheit, die man sich als Leser mit den Protagonisten vorstellen kann, vermittelt Meinhardt. Damit werden auch die Handlungs- und Beweggründe der Charaktere nachvollziehbarer, da man selbst zu den gebrochenen, oder vor allem zu den gebrochenen Figuren, eine besonders empathische Beziehung entwickelt. Die Familiengeschichte, die der Autor erzählt, korrespondiert mit der Geschichte der DDR. Die Erzählung beginnt 1973, dem Jahr der „X. Weltfestspiele 1973 in Ost-Berlin“. Mit den Weltfestspielen und der zur Schau gestellten Weltoffenheit versuchte die DDR als Staat nach außen einen fortschrittlichen Eindruck zu vermitteln. Die DDR-interne Sicht war allerdings eine andere.

Die erzählte Familiengeschichte zeichnet sich durch eine Zunahme der Angst und eine Abnahme an innerem und äußerem Widerstand gegen die Repressionen in Schule und Beruf aus. Die Unentschlossenheit den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber wirkt bis in die innerfamiliären Beziehungen, etwa als Willys Bruder aus dem Westen zur Beerdigung des Vaters kommt: „Auf einmal begriff er, daß eine grundsätzliche Unentschlossenheit sich seiner bemächtigt hatte, ein Zögern, das er weder bei Rudi noch bei Bernhard je beobachtet hatte und das auch ihm bisher fremd gewesen war. Alles sprach gegen dieses Zögern – und doch war es nun da. Und daß es da war, hatte seinen Bruder mehr als alles andere enttäuscht, durch genau jenes Nichtstun hatte er, Willy, ihn davongetrieben“.

Erzählt wird bis zum Fall der Grenzen zwischen Ost und West, bis zu den Wirrnissen der Wiedervereinigung 1989. Dabei werden immer wieder auch historische Ereignisse in der Individualgeschichte gespiegelt, etwa die Ausbürgerungswelle Mitte der 1970er-Jahre: „Sie schaute auf die Uhr. ‚Wir haben noch drei Minuten bis zum Klingeln, also in aller Kürze: Der Mann mit dem Fleischerhemd ist ausgebürgert worden, ratzfatz ging das…‘“ Und es ist immer eine Angst dabei, die überlegt, was passieren könnte, wenn man etwas tun würde. Angst ist das gesellschaftliche Antriebsrad zu handeln und vor allem auch nicht zu handeln: „Jawohl, die Angst vor den Folgen einer einmal begangenen Bösartigkeit war’s, die bei ihr Treue und Aufopferungswillen hervorriefen, nicht die Strahlkraft des Guten; das hätten die Menschen gern, daß es diese Strahlkraft sei, die sie leite, aber meistens ist’s doch nur die schnöde Angst.“

Diese Angst wird in einer weiteren Erzählebene innerhalb des Buches thematisiert. Matti ist Flussschiffer und schreibt an einem Roman. Dessen Protagonisten leben in einem fiktiven autoritären Land, leiden unter einer Diktatur, an Gefangenschaft und Folter. Mattis Vater Willy vermittelt das Manuskript an einen westdeutschen Verlag. Der Autor findet dadurch Zugang zu den intellektuellen Kreisen auf dem Prenzlauer Berg in Berlin. In dem in Auszügen wiedergegebenen Roman findet man ein allegorisches Sinnbild der DDR: „Aus dem geschmolzenen Gold aber wurde für jeden Beamten des Reiches ein Ring geschmiedet. Der Oberste deklarierte dies als großzügiges Geschenk. Tatsächlich handelte es sich auch hierbei um einen Befehl zur Unterwerfung, erhielten doch die Beamten die Anweisung, ihren Ring Tag und Nacht zu tragen und diesen bei Strafe ihrer Verbannung keinen weiteren hinzuzufügen.“

Und immer wieder zeigt Meinhardt die Sehnsüchte der Menschen in der DDR auf und beschreibt gleichzeitig deren Kanalisierung: „Dieser [Matti, A.d.V.] reckte gerade seinen Hals, um in dem Gewimmel Catherine zu suchen, da hämmerte laute Musik los, die göttlichen Hiebe von Smoke on the water. Vor einem der vorhin noch braven Bläser kamen die, er prügelte jetzt die Baßgitarre, wie überhaupt alle ‚Strombolis‘ völlig verwandelt schienen, verjüngt, verdreckt und verroht.“

Die Zirkel des Prenzlauer Bergs werden beschrieben, die von Intellektuellen, Künstlern und allgemein Unzufriedenen frequentiert werden. Nebenbei kommen dabei immer wieder interessante Details zutage, von denen man sehr gut auf den Gesamtzustand des Staates DDR schließen kann: „Kurz und gut, ich habe mir ein altes Philosophisches Wörterbuch vorgenommen und ein neues danebengelegt und habe die einzelnen Stichwörter verglichen. Und nun hört zu: Im alten ist noch Konformismus, und damit notwendigerweise auch Nonkonformismus, enthalten – und im neuen nicht mehr. Das fehlt jetzt einfach. Das ist ausgemerzt als Vokabel. Es gibt keinen Nonkonformismus in diesem Land. Genauso auch das Stichwort Opposition. Keine Opposition mehr zu finden! Man tilgt demnach sogar in Standardwerken Begriffe, um die dahintersteckenden Inhalte zu bannen“. Hat man einmal diese Tiefe der Information erreicht, wie sie der Autor dokumentiert, wird einem schauderlich bewusst, womit man es zu tun hat. Es ist eine Fälschung der Welt, an der in der DDR gearbeitet wurde. Und dies ging bis in die Texte hinein, bis in die Wörterbücher und bis in die Goethe-Ausgaben, die in der DDR erschienen sind.

Genau diese kleinen Besonderheiten findet man in Meinhardts Buch und letztendlich ist es das breite Spektrum von Details und die liebenswerten Charaktere, die eine nutzreiche, lohnenswerte Lektüre mit einem hohen Unterhaltungsfaktor ermöglichen. So schreibt man Literatur!

Titelbild

Birk Meinhardt: Brüder und Schwestern. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
704 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241190

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