Das Fühlhorn der Schnecke

Alexander Kluges Band „Personen und Reden“ erlaubt eine unkonventionelle Annäherung an den Autor

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alexander Kluge ist ein schwieriger Autor. Seine Texte erfordern Aufmerksamkeit und Geduld, Lust am eigenständigen Denken und Leseausdauer. Häufig sind sie irritierend und meist erfüllen sie nicht die Rezeptionsgewohnheiten. Wie kann man sich dem Autor und seinem Werk nähern? Der jüngst bei Wagenbach erschienene, (wie immer) schön gestaltete Band „Personen und Reden“ bietet eine angenehme und unkonventionelle Form der lustvollen Annäherung. Das Buch versammelt die Reden, die Kluge anlässlich diverser Preisverleihungen, aber auch zu Ehren und im Gedenken seiner intellektuellen Weggefährten gehalten hat, ein Interview mit Christoph Schlingensief sowie fünf Texte als Kommentar zur Bedeutung der klassischen Medien Musik, Literatur und Film. Auf diese Weise erfährt man viel über den Autor – den Reden ist auch immer wieder Autobiografisches eingewoben –, über dessen Vorbilder und die Intentionen seiner künstlerischen Arbeit.

Ein Anliegen Kluges besteht darin, in einer zunehmend komplex und unübersichtlich werdenden Welt mit Hilfe der Kunst eine Orientierung zu bieten. Dafür bedarf es einer Schulung der Sinnlichkeit des Menschen, wie Kluge sie insbesondere für die Oper geltend macht. In diesem Sinne plädiert er für eine möglichst frühe Erfahrung mit dem Musiktheater und macht den unkonventionellen Vorschlag, bereits Kindern das Opernerlebnis zu ermöglichen. Sympathisch daran ist der respektvolle Umgang mit und das Vertrauen in die Kinder und ihre Fähigkeiten. Sie sollen nicht belehrt, vielmehr soll ihnen eine direkte Begegnung mit dem Musiktheater ermöglicht werden. Nebenher sagt das Zitat viel über die Bedeutung des Mediums für den Autoren und Filmemacher Kluge aus: „Musik ist Vertrauenssache. Man muss auf ihre intim wirkende Macht vertrauen, also ihre Verwurzelung in den Menschen, auch in solchen, die nicht daran glauben. Man muss konsequent auf das Ohr und die Intelligenz von Kindern vertrauen, die mehr verstehen, als die Lehrer meinen. Man soll also Oper und Musik nicht an die Kinder anpassen. Auch nicht die Kinder an die Musik. Die Begegnung muss unmittelbar sein, dann geschieht das Wunder.“ Das Wunder, so erfährt man an anderer Stelle, sprengt den Rahmen der kapitalistischen Wertschöpfungskette und ist in diesem Sinne ‚nutzlos‘: Es besteht schlichtweg darin, „glückliche Momente zu erleben“.

Die Vorträge sind schöne, zum Teil poetische Texte, die sich achtungsvoll ihrem Redegegenstand beziehungsweise der im Zentrum stehenden Person nähern. Dabei betonen sie nicht immer nur die Nähe zu den Namensgebern der Literaturpreise, sondern ebenso die Distanz, etwa diejenige der Gruppe 47, zu der Kluge damals gehörte, gegenüber den etablierten Autoren im Nachkriegsdeutschland. Selbstkritisch merkt der Autor an: „Meine Generation war manchmal hochmütig.“ Kluge nimmt die nicht stattgehabte Begegnung als verpasste Gelegenheit zweier Generationen wahr, voneinander zu lernen. Die Reden können in diesem Sinne als nachgeholte Begegnungen gelesen werden, andere wiederum als fiktive (Lessing, Schiller), oder als dokumentarische (Heiner Müller, Jürgen Habermas). Analog dem hermeneutischen Verstehensmodell arbeitet Kluge in kreisförmigen Suchbewegungen die für ihn relevanten Eigenheiten der Personen und ihrer Werke heraus. Daraus resultierende Einsichten werden häufig mit den für Kluge typischen Miniatur-Erzählungen illustriert. Eine weitere Besonderheit liegt in der Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, wie sie Kluge beispielsweise in der „Rede zum Schiller-Gedächtnispreis 2001“ gelingt, in der er den Dichter aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts porträtiert: Was können uns Schillers „Briefe zur Erziehung des Menschengeschlechts“ für die Deutung des Anschlags auf das World Trade Center sagen? Welche Erfahrungen werden in den „Briefen“ transportiert?

Nicht selten geraten die Reden auch zu Selbstverständigungen, etwa die 1993 anlässlich der Verleihung des Heinrich Böll-Preises gehaltene Ansprache. Indem sie praktische Fragen der Autorentätigkeit diskutiert, wird sie unter der Hand zu einer Metapoetologie, die wiederum beim Verständnis der Kluge’schen Texte hilft. Reflektiert wird die Funktion der Montagetechnik, Möglichkeiten und Grenzen des Mediums Fernsehen, die Bedeutung der Wirklichkeit für die realistische Kunst und Traditionen der Aufklärung in der Kunst. Ein realistischer Autor wie Böll, aber auch wie Kluge selbst, muss rasch feststellen, „dass die Menschen selber sich in ihrer Mehrheit und in der Grundströmung ihrer Gefühle eher von der Wirklichkeit abwenden, die Wirklichkeit gewissermaßen abwählen, Realität periodisch in die Inflation und dann in den Bankrott treiben“. Wie kann man Menschen für die Wirklichkeit interessieren und dem Realitäts- und Geschichtsverlust entgegen arbeiten, fragt Kluge. Die Antwort des Autors liegt darin, in Anlehnung an die Tradition der mündlichen Überlieferung möglichst unmittelbar und authentisch zu erzählen.

Immer wieder spricht sich Kluge für die Organisierung und Verteidigung einer unabhängigen Öffentlichkeit aus. Erst sie gebe einer Gesellschaft das unbedingt notwendige Selbstbewusstsein. Seine Fernsehsendungen können als Versuch gelesen werden, sich „ein Minimum an unabhängiger Öffentlichkeit im Fernsehen“ zu wahren. Ihm liegt aber auch an einer Erneuerung des Mediums, wenn er die Spezifika anderer Medien in dieses einzubringen sucht. Ein sehr schöner und poetischer Satz ist Kluges Bekenntnis zu seiner Buchautorenexistenz: „Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, dass Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt.“

Diesen Zeitaspekt versucht Kluge durch seine Fernsehmagazine auch in dieses ungleich schnellere Medium einzuführen, indem er „die Geduld, die Gründlichkeit und das Wartenkönnen der Texte in die neuen Medien einbringen kann“. Um dieses Anliegen filmisch umzusetzen und um die Idee eines „Herausgeber-Fernsehens“ voranzutreiben, hat Kluge seine Produktionsfirma „Kairos“-Film gegründet. Der Begriff kairos bedeutete im antiken Griechenland so viel wie „geglückte Zeit, eine Zeit, die dem Menschen gehört“. Die Lektüre des schmalen Bändchens „Personen und Reden“ ermöglicht eine solche geglückte Zeit und ist deshalb zur Lektüre zu empfehlen: Wer noch nicht mit Kluges Werk vertraut ist, wird neugierig werden, wie dieser seine hier anhand von Vorbildern und Weggenossen dargestellten poetologischen und medialen Absichten in die Text- und Filmpraxis umsetzt. Wer sich bereits mit Kluge befasst hat, erfährt viel über den Denkansatz, der diesem Werk zugrunde liegt. Und was das Ganze nun mit dem Fühlhorn der Schnecke zu tun hat? Na, dafür müssen Sie nun wirklich selbst zum Buch greifen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien zuerst in: Der Deutschunterricht. Themenheft: Alexander Kluge, 06/2012, hrsg. von Jens Birkmeyer, Torsten Pflugmacher, Ulrike Weymann [Gast-Hg.].

Wir danken der Autorin für die Publikationsgenehmigung.

Titelbild

Alexander Kluge: Personen und Reden. Lessing–Böll–Huch–Schiller–Adorno–Habermas–Müller–Augstein –Gaus–Schlingensief–Ad me ipsum.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012.
144 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783803112828

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