Mit dem Aufzug in die Oberstadt

Alban Nikolai Herbsts Vortrag über „phantastische Räume“ auf der Marburger Tagung „Literarische Orte heute?“ und sein Blog „Die Dschungel. Anderswelt“

Von Sabine BorhauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Borhau

„O dieser mächtige Raum! Zu intensiven, phantastischen Räumen“ lautete der Titel des Vortrags von Alban Nikolai Herbst im Rahmen der Tagung „Literarische Orte heute? Räume des Schreibens und Schauplätze der Fiktion in der Gegenwartsliteratur“ vom 22. bis 24. November 2012 in Marburg.

Herbst ist ein Autor, der im Internet sehr präsent ist, sowohl in den sozialen Netzwerken wie etwa Facebook, als auch als Betreiber seines literarischen Blogs „Die Dschungel. Anderswelt.“ Mit dem Titel seines Blogs knüpft Herbst an das Literaturmagazin „Dschungelblätter“ an, das er in den 1980er-Jahren herausgab. Diese Dschungelmetapher passt wiederum gut zum Blog, ist dieser doch auch verschlungen und unübersichtlich. Nicht zuletzt liegt das daran, dass jeder Text durch Verlinkungen zum Haupttext werden kann. Herbst beschreibt seinen Blog als „permanente[n] Roman-in-progress, den Sie sich wie einen Baum vorstellen können, aus dessen Stamm immer wieder neue Äste und Zweige hervorgehen, die Sie ablösen, austreiben lassen und anderswo wieder einpflanzen können, als wären es ganz eigene Geschöpfe. Die es dann auch werden.“

Als ‚work in progress‘ sowie aufgrund der Struktur der Verlinkung ist Herbsts Blog niemals als abgeschlossen zu betrachten.

Das Internet ist für Herbst, wie er in seinem Marburger Vortrag ausführte, der gegenwärtig modernste fantastische Raum, in welchem Realität und Fiktion ineinander übergehen und sich vermischen. Hier wird alles Literatur und auch der Autor selbst wird zur literarischen Figur, die mit realen und fiktiven Figuren interagiert. In der Poetologie Herbsts ist der Begriff des „kybernetischen Realismus“ zentral, welcher in einem virtuellen und somit raumlosen Raum angesiedelt ist. Nach Herbst misstraut die fantastische Literatur philologischen Kriterien und dem Wahrheitsanspruch. Den fantastischen Raum sieht er als Schlüssel zum Vorstellungsvermögen der Leser, da er auf Subjektivität und Projektion abzielt. Somit ist das Internet als fantastischer Raum für ihn das realisierte Fantastische.

In Herbsts Blog werden Leser, die Kommentare schreiben, mitunter zu Figuren seines Werkes. Auch er selbst schreibt Kommentare, manchmal auch unter anderen Namen als seinem eigenen. Dadurch gibt er sich selbst eine neue Identität. Gerade die Vermischung von Realität und Fiktion ist für Herbst ein Kernelement seines Blogs. Dies wird auch in seinen Einträgen zur Marburger Tagung deutlich. Er vergleicht im Arbeitsjournal seines Blogs Marburg mit anderen Räumen und Orten, so fällt etwa der Vergleich des Fly-overs von Marburg mit dem Äquivalent in Bombay auf, wobei sich die Marburger Autobahn natürlich ungleich bescheidener ausnimmt. Die Gleisanlagen von Victoria Station werden in Verbindung mit denen des Marburger Hauptbahnhofs gebracht, die ebenfalls viel kleiner als das genannte Gegenstück ausfallen. Das Gästehaus der Universität im Alten Botanischen Garten nennt Herbst das „Tübinger Gästehäuschen“ und vergleicht es mit dem Lebkuchenhaus aus dem Märchen der Brüder Grimm. Diesem Lebkuchenhäuslein wiederum stellt er einen Plattenbau, das reale Nachbargebäude, gegenüber.

Als technisch versierter Blogger hat Herbst zusätzlich zu den Texten seiner Arbeitsjournale einige Fotos in seinen Blog integriert. Somit kann auch der Marburg unkundige Leser zumindest in Ansätzen nachvollziehen, was Herbst sieht, beschreibt und vergleicht. Die Marburger Oberstadt wird für ihn etwa flugs zum Nürnberger Christkindlesmarkt. Interessant ist hierbei, dass zum Zeitpunkt des Marburger Vortrags der Weihnachtsmarkt in der Oberstadt noch gar nicht aufgebaut war. Eine winterliche Stimmung herrschte an diesem Wochenende auch nicht, vielmehr das typisch herbstliche Marburger Nebelwetter.

Indem Herbst die realen Räume von Marburg mit anderen, ebenso realen Räumen vergleicht, aber etwa den Nürnberger Christkindlesmarkt in die Marburger Oberstadt versetzt, schafft er einen fiktiven Raum, der seiner Fantasie entspringt.

Rückblickend beschreibt Herbst die Tagung als angenehm, er verlässt Marburg, wie er in seinem Arbeitsjournal vom 24. November 2012 schreibt, mit einiger Denklust und Ideen.