Triebe unter Wasser

Juli Zehs neuer Roman „Nullzeit“ ist ein Thriller aus dem Inselparadies – mit Psychopärchen, Tauchlektionen und vielen bösen Spielen

Von Daniela OttoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniela Otto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Juli Zeh geht auf Tauchstation. Wer mit dem Titel nichts anfangen kann, erfährt auf Seite 42, was es damit auf sich hat. Nullzeit, das ist die unbedenkliche Zeitspanne, in der Taucher ohne Dekompressionsstopp aufsteigen können. Die Unterwasserwelt, das wird nicht nur in dieser Erklärung deutlich, ist genauso schön wie gefährlich und das tödliche Potential dieses entrückten maritimen Paradieses schwingt in „Nullzeit“ auf jeder Seite mit. Zeh, zweifelsohne eine der klügsten zeitgenössischen Autorinnen Deutschlands, erzählt die Geschichte eines gescheiterten Aussteigertraums, davon, wie das Böse das Gute infiltrieren und von innen heraus langsam zerstören kann. Der Abgrund des Meeres und das Abgründige der Seele sind in „Nullzeit“ eng verschwistert.

Im Roman ist es das entlegene lanzarotische Dorf Lahora, ein „Ende der Welt“, wo die Hauptfigur Sven Fiedler Ruhe und Frieden findet. Der Tauchlehrer hat Deutschland den Rücken gekehrt, weil ihm die Spießigkeit und Mentalität des Verurteilens in seiner Heimat missfällt. Er hält sich lieber heraus. Mit Antje, deren Liebe ihm selbstverständlich geworden ist, führt er nun auf den Kanaren eine Tauschschule. Antje und Sven, das ist kein leidenschaftliches Paar, sondern ein funktionierendes Team. Antje, die Sven schon seit ihrer Kindheit anhimmelt und ihm folgt wie ein treuer Hund seinem Herrchen, ist eine Figur, die einem permanent leidtut. Wenngleich sie letztlich das bodenständigste und gesündeste Mitglied der Akteure ist, kommt sie dennoch schlecht weg. Mitleid hat noch nie attraktiv gemacht. Die sachliche Harmonie der beiden wird durch die Ankunft der neuen Gäste gestört, die Sven gegen hohe Bezahlung für zwei Wochen exklusiv betreuen soll: Jolanthe Augusta Sophie von der Pahlen und Theodor Hast, kurz Jola und Theo, sind nicht nur Fremde auf der Insel, sondern auch fremdartig. Sie die wenig erfolgreiche Serienschauspielerin, er das ewig verkannte Schriftstellergenie, bilden ein Künstlerduo, das mit seiner Exzentrik und morbiden Sexualität exhibitionistisch kokettiert.

Während ihr Kommunikationsverhalten merkwürdig, jedoch harmlos ist – sie schicken sich SMS, obwohl der andere im Raum ist – umweht ihre Liebe ein Hauch des Fatalen. Jola ist auf der Insel, um sich auf die Rolle der Taucherin Lotte Hass vorzubereiten, die sie unbedingt ergattern möchte. Nebenbei soll die Beziehung zu dem „alten Mann“, wie sie Theo nennt, gekittet werden. Wie viel bei den beiden im Argen liegt, wird schnell klar, und doch speist sich die Beziehung gerade aus ihrem kranken und kaputten Nimbus. Theo demütigt seine schöne Freundin, hält ihr unmissverständlich ihr körperliches und künstlerisches Verfallsdatum vor Augen, der Sexualakt wird nur reizvoll, wenn er die grausame Ästhetik einer Vergewaltigung annimmt. In sadomasochistischer Hassliebe sind sie vereint und fallen in die unschuldige Welt des naiven Sven ein, der in dieser Konstellation nur Verlierer sein kann.

Zeh entspinnt einen gelungenen Plot, dessen Psychothrill sich vor allem aus der Erzähltechnik ergibt. Svens Bericht wird mit Jolas Tagebucheinträgen gemischt und Zeh beweist wieder einmal, dass sie das schriftstellerische Handwerkszeug beherrscht. Der Reiz des unzuverlässigen Erzählens ergibt sich aus der leisen Skepsis, die sich beim Lektüreakt einschleicht. Zeh greift auf diese Technik zurück und entfaltet eine Poesie des Zweifels, die beim Leser einen kalten Schauer hinterlässt. Die promovierte Juristin Zeh verknüpft in „Nullzeit“ ihre Passion für Recht und Literatur, indem sie das, was wir Wahrheit nennen, als rein sprachliches Konstrukt problematisiert. Am Ende der Geschichte erhält Sven den Rat einer Anwältin, das Vorgefallene niederzuschreiben, bevor die Erinnerung verblasst. Er tut es, wir lesen es, sind geneigt seine Worte als Wahrheit anzuerkennen, und doch bleibt ein Rest an Unsicherheit, der das Buch attraktiv macht. Wem soll man hier nur glauben?

Svens und Jolas Versionen der Geschichte ähneln sich in manchem Detail, stehen sich im Kern jedoch diametral entgegen: Sven stellt sich als Opfer, Jola ihn als Täter dar. Für Sven werden Jolas Tagebucheinträge zum Beweis ihres eiskalten, berechnenden Geistes. Jola schreibt, um inszeniertes Beweismaterial für Svens Killerinstinkt zu liefern. Verteidigung ist in jedem Falle angebracht. Jola und Theo beginnen mit dem nichtsahnenden Sven ein böses Spiel mit tödlichen Absichten. Viel zu schnell erliegt Sven der Exotik der Schauspielerin, die das Gegenteil der braven Antje darstellt und ist gefangen in der bizarr-erotisch aufgeladenen Atmosphäre, die Jola und Theo versprühen. „Ich habe kein Problem damit, wenn du scharf auf Jola bist. Ich rate dir nur, vorsichtig zu sein“, sagt Theo zu Sven, als die ménage à trois ins Rollen kommt. Weil Liebe aber bekanntlich blind macht, klappt das mit der Vorsicht nicht so ganz. Unter Wasser verdreht Jola ihrem Lehrer vollends den Kopf: „Ich wollte sie nicht mehr loslassen“, beschreibt er den Moment der Symbiose. „Ich wollte mit ihr dort unten bleiben und gemeinsam Seetiere betrachten, bis zum Jüngsten Tag“. Als sie sich lösen, fühlt es sich für ihn an „wie eine Amputation“.

Die Ästhetik des Bösen ist eine omnipräsente Protagonistin des Romans. Die Episoden, in denen sich Jola und Theo gefährliche Scherze leisten, wenn sie beispielsweise unter Wasser sein Sauerstoffventil zudreht oder er sie von der Klippe zu werfen droht, sind nur das Warm-Up-Programm für den finalen Coup. Warum sie mit solch gnadenloser Lust mit ihrem Leben spielen, ist eine Frage, die unweigerlich mitschwingt. Die einzig befriedigende Antwort kann sein, dass sie es für die Kunst tun. Auf der Suche nach ästhetischer Selbstverwirklichung wird die Demontage des Partners zum idealen Nährboden für die künstlerische Inspiration. In der elitären Kunst war noch niemals Platz für das Moralische, das Böse hatte stets eine Existenzberechtigung. Und so liefert Jolas Existenz, die immer am Rande des Scheiterns ist, für Theo den potentiellen Stoff für einen „Jahrhundertroman“, eine „tausendseitige Metapher auf eine würdelose Epoche“. Für Jola hingegen, deren Karriere ins Stocken geraten ist, wird der Urlaub zur Rolle ihres Lebens. Sie spielt für sich, ihre Beziehung und mit Sven, der sich in ihrem Komplott verfängt wie eine Fliege im Spinnennetz. In ihrem Tagebuch schildert sie die intimen Grausamkeiten ihres Partners und lässt Sven Sätze sagen wie: „Das Schwein bring ich um“.

Was aber ist Sven nun, ein Mörder, ein Erretter oder schlicht ein Grenzgänger? Wenn er am Ende den ins Wasser gestürzten Theo in seine Arme schließt, kommt es noch einmal zu einem Moment der maritimen Intimität, der diesmal homoerotisch konnotiert ist. Einander ausgeliefert zu sein, das gilt unter Wasser genauso wie im Bett. Die Grenzen zwischen Liebe und Tod, Verdammnis und Erlösung verschwimmen. Wenngleich auch ohne penetrant religiösen Tenor, ist „Nullzeit“ doch eine postmoderne Variante der biblischen Vertreibung aus dem Paradies. Schlangengleich wird Jola zur Verführerin, Sven verlässt schließlich seinen Garten Eden, die Insel. Wir wissen, der Sündenfall geht mit Erkenntnis einher und auch für Sven bewirkt das Einfallen des Bösen einen gewaltigen Reflexionsschub. Am Ende kann Sven nicht mehr einfach nur träumen. Er mag das Geräusch der Brandung nicht mehr ertragen und den schmerzhaften Verlust von Harmonie spüren. Raushalten, wie er es immer zu tun gedachte, geht nicht mehr. Sven wacht auf. Ob das wirklich schlecht ist? Wohl kaum. Das Böse, es kann manchmal so kathartisch sein.

Titelbild

Juli Zeh: Nullzeit. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783895614361

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