Ein kühler alter Mann, auf der Höhe seiner Kunst

Hans Magnus Enzensbergers zu aufwändig gemachter Gedichtband „Blauwärts“

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwie muss es mit der Enzensberger’schen Konstanten zusammenhängen. Irgendwer muss sie zu ernst genommen und sich gedacht haben, man könnte, mit geeigneten Maßnahmen, ihren Zahlenwert hochschrauben. Und deshalb haben wir vermutlich dieses Buch so, wie es ist: bebildert und ,inszeniert’.

Zwingend ist das nicht. Man hätte den Gedichten Bilder beigesellen können, obwohl sie besser für sich stehen. Man hätte die Gedichte auch typografisch aufwändig gestalten können, obwohl sie danach nicht verlangen. Aber das eine und das andere ist zuviel des Gutgemeinten. Denn dieses Buch, so wie es ist, stört beim Lesen. Man muss sich mehr ansehen, als man will – und weiß nicht so recht, warum.

Da gibt es zwischen Text und Bildern viele Beziehungslosigkeiten, die zu vagem Assoziieren einladen, wie bei „Der graue Fleck“ – oder, noch schlimmer, Beziehungen, die zu offensichtlich sind. Brauchen wir zu einem Gedicht auf W.G. Sebald Porträtaufnahmen von W.G. Sebald? Muss, wenn im Text von der Wörther Wiese die Rede ist, daneben das Farbfoto einer Wiese am Waldrand stehen? Bei „Augenglas“ folgt auf den Titel erst einmal das Bild eines an einer Kette aufgehängten Lorgnons. Das Wort Augenglas wird, wie die Reihen einer Buchstabentafel beim Sehtest, Zeile für Zeile größer gesetzt – wobei die letzten zwei dann „Glas/ Auge“ lauten. „Der Schulweg“ kommt in Querformat und Flattersatz daher, in „Flugverkehr“ wird typografisch die Bewegung eines Grasshüpfers nachgebildet. Bringt das einen ästhetischen Gewinn?

Der Untertitel des Bandes lautet: „Ein Ausflug zu dritt“. In diesem Fall ist das für einen Lyrik-Leser zuviel Gesellschaft. Die Gedichte beanspruchen schon seine ganze Aufmerksamkeit – und sie verdienen sie.

Über Enzensbergers ersten Lyrikband „Die Verteidigung der Wölfe“ schrieb Alfred Andersch eine Rezension mit dem Titel: „1 (in Worten: ein) zorniger junger Mann“. Das war damals, 1957, eine Nachricht wert, der Seltenheit wegen. Vielleicht wäre es heute wieder eine. Enzensberger ist schon lange nicht mehr zornig. Seinen Gedichten hat das gut getan, besser als seinen Essays. Seit 1991, beginnend mit „Kiosk“, veröffentlicht er in Abständen von wenigen Jahren einen Gedichtband nach dem anderen, einer so gut wie der andere: ein lyrisches Spätwerk auf hohem Niveau. Der junge Mann ist, mehr als ein halbes Jahrhundert später, ein großer Alters-Lyriker geworden, der seine Zeitgenossen überragt.

Seine Gedichte sind meist konkret, nah an den Gegenständen, sei das ein Vogel, eine Besenkammer oder Seife. Das thematische Repertoire ist groß. Soziale Beobachtungen, etwa über das Verschwinden der Diener hierzulande in „Das Personal“, über „Gäste“ oder „Meine Nachbarn“, stehen neben Kindheitserinnerungen wie „Nürnberg 1935“, Porträts wie „Der Geschichtsschreiber“ neben naturwissenschaftlicher Poesie wie „Die Intelligenz der Pflanzen“. Manche Gedichte sind monologisch, andere dialogisch, die meisten eher reflexiv als narrativ. Gereimte wie „Ortstermin in Niederbayern“ stellen die Ausnahme dar. Die überwiegend freie Versform lässt den Stil ungehindert zur Geltung kommen.

Enzensbergers Diktion ist eine in ihrer Art vollkommene Verssprache, elegant und rhetorisch glänzend. Neben der offenen Reihung bedient er sich gern der Zuspitzung. Eine seiner Lieblingspointen ist die Selbstanwendung am Schluss. „Weniger, immer weniger“ zum Beispiel, ein Gedicht über ‚Abnehmen’ und Auffüllen, über das ‚Volle’ und das ‚Leere’, endet mit den Versen

Und was diese Seite betrifft –
wie schön war sie einst,
als sie noch leer war:
vollkommen leer –
vollkommen!

Das ganze Raffinement Enzensberger’scher Verskunst steckt in diesen fünf Zeilen: Wiederholung und Variation, ein Rhythmus des Abnehmens durch immer kürzer werdende Verse – wobei der letzte, der von der Vollkommenheit spricht, der kürzeste ist. So hebt sich Literatur spielerisch leicht selbst auf – oder tut zumindest so.

Enzensberger macht fast nie zu viele Worte, außer vielleicht in „Ortstermin in Niederbayern“. Oft weiß er sich lakonisch kurz zu fassen, so in „Der glückliche Augenblick“ und in dem ans Ende gestellten Titelgedicht „Blauwärts“. Das sind kleine Geniestreiche, unaufgeregt genau, die mit wenigen wohlgesetzten Worten auskommen. Der Leser lernt dabei, die Welt neu zu sehen, und sei es nur, im Kleinen, seine Welt, wie in „Neuschnee auf der Terrasse“:

Am kalten, helllichten Tag
eine Milchstraße zu deinen Füßen.
Wer den Kopf nur leicht bewegt,
sieht, wie unter ihm hundert Sterne
aufblitzen, brennen, erlöschen.
Jeden Augenblick eine Nova.

Unaufgeregt sind fast alle Gedichte in diesem Band. Enzensberger bevorzugt Feststellungen und Fragen, Anklagen sind seine Sache nicht mehr. Nur gelegentlich gibt er, kühl, seiner Verachtung Ausdruck, die toten Politikern in „Damnatio memoriae“, Reitern in „Luxuriöse Tiere“ oder „Architekten“ gilt. Viele Gedichte sind fast gutgelaunt, ja heiter, allerdings auch das auf eine kühle Weise. Enzensberger erlaubt sich keine großen Gefühle. Er ist ein spöttischer Philosoph, der sich die Bedrängnisse des Lebens souverän vom Leib hält. Mehr als jeder andere deutsche Dichter nach 1945 ist er ein distanzierter Intellektueller.

Was man landläufig unter Lyrik versteht: eine irgendwie anrührende Gefühlsaussprache, verweigert Enzensberger vollständig. Selbst wenn er einmal „Ich“ sagt, kann es sein, dass er nur in eine Rolle schlüpft wie in „Evolution, von außen gesehen“. Soziologisch gesprochen wird er immer wieder zu einem teilnehmenden Beobachter, der nicht mitmachen, sondern über das nachdenken will, was er sich aus der Nähe besieht. Dabei ist ihm nichts klein genug, um sich darüber Gedanken zu machen. Mit dem Großen und den Großen ist er ohnehin schnell fertig.

Die Meisterschaft, die er erreicht hat, macht gespannt auf den nächsten Gedichtband. Vielleicht ist er ja wieder bilderfrei und uninszeniert.

Titelbild

Hans Magnus Enzensberger / Jan Peter Tripp / Justine Landat: Blauwärts. Ein Ausflug zu dritt.
Hans Magnus Enzensberger: Gedichte. Jan Peter Tripp: Bilder. Justine Landat: Inszenierung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
136 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518423462

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch