Scharfe Maßnahmen und rücksichtsloses Durchgreifen

Jürgen Kilian schreibt über die Wehrmacht im Vernichtungs- und Weltanschauungskrieg, 1941-1944

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den verschiedenen Epochen der alten wie der neuen Bundesrepublik gehören die Kontroversen der Historiker. Gewöhnlich handeln sie von der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, und immer geht es um die ‚richtigen’ Lesarten, um die korrekten Interpretationen, aber immer auch sind nicht nur die Gelehrten beteiligt, die sich streiten, weil das im Wesen der Sache liegt, nein, immer auch ist die Öffentlichkeit involviert, erfolgt unverzüglich die Medialisierung, fast möchte man sagen: die Mediatisierung des Nachdenkens über die Vergangenheit durch die Medien. In diesem Sinne ein erinnerungs- und geschichtspolitisches Großereignis war das, was sich schnell als „Wehrmachtsausstellung“ in das Gedächtnis der Nation einschrieb. Tatsächlich lautete der Titel: „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Wie bei anderen Debatten ebenfalls zu beobachten, erbrachte sie keine wirklich neue Evidenz, aber sie zerstörte eine zählebige, in bestimmten Milieus der deutschen Gesellschaft beheimatete Legende: die Mär vom ‚sauberen‘ Krieg der Wehrmacht, was stets implizierte, dass dessen ‚schmutzige‘ Seiten allein der SS und ihren verschiedenen Formationen angelastet wurde.

Der Pulverdampf aus den Debatten der 1990er-Jahre hat sich längst verzogen. Die Ausstellung wurde einer pragmatischen Revision unterzogen, die Zunft der Historiker hat sich wieder ihren Alltagsgeschäften zugewandt. Bemerkenswert jedoch war und ist, dass seither eine beträchtliche Zahl seriöser Studien zur weiteren Aufhellung der in Rede stehenden Phänomene und Prozesse beigetragen hat. Wellen öffentlicher Erregung sind von ihnen jedoch nicht ausgegangen. Weder gewinnen sie die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums, noch erfahren sie nennenswerten medialen Zuspruch. Plakative Thesen sind ihre Sache nicht, wohl aber empirische Dichte, methodische Sorgfalt und Erschließung von Territorien, die früher nicht oder nur mit eingeschränktem Blickwinkel durchmessen worden sind. Aufregend, und zwar buchstäblich, sind sie allemal, und mehr noch: sie demonstrieren, welchen Wandel sich eine Militärgeschichtsschreibung verordnet hat, die nicht länger ihr Hauptaugenmerk auf Feldherren, operative Planungen und Schlachten legt, sondern bestrebt ist, in den allgemeinen Strom der historischen Wissenschaft zurückzufinden. Nicht von ungefähr trägt die Buchreihe, in der die Arbeit von Jürgen Kilian erschienen ist, den Titel „Krieg in der Geschichte“. Deren Merkmal sei, betonen die Herausgeber, die verschiedensten Gebiete und die verschiedensten Aspekte zusammen zu bringen, das Militärische jeweils mit Politik, Gesellschaft und Kultur zu verknüpfen, dabei weder die Perspektiven der Genderforschung, noch die der Alltags- und Mentalitätsgeschichte zu vernachlässigen.

Kilian schreibt zwar im engeren Sinne keine Alltagsgeschichte des Ostfeldzugs, aber die Mentalitäten und ideologischen Horizonte der Akteure, auch deren Taten und Untaten markiert er sehr genau. Keinen Zweifel lässt er daran, dass der Krieg gegen die Sowjetunion von Anbeginn an ein beispielloser Raub- und Vernichtungskrieg war. Diesem Nachweis dienen die hinführenden Kapitel, in denen außerordentlich detailliert, im Blick auf den bereits erreichten Kenntnisstand hier und da zu detailliert über den Charakter, die strategischen Ziele und den durch einschlägige Weisungen abgesteckten Rahmen des „Unternehmens Barbarossa“ berichtet wird. Dazu gehörten zuvorderst die „verbrecherischen Befehle“: der „Kommissarbefehl“, der bis zu seiner Aufhebung im Mai 1942 den deutschen Einheiten auferlegte, gefangene Politoffiziere der Roten Armee unverzüglich und ohne kriegsgerichtliches Verfahren zu erschießen; ferner die durch Absprachen zwischen Armeeführung und Reichssicherheitshauptamt abgestützte Kooperation zwischen der Wehrmacht und den Formationen der SS, dem SD und der Sicherheitspolizei, die jener die Ausschaltung des militärischen Gegners, diesen die ‚Säuberung‘ des rückwärtigen Frontgebietes überantwortete, konkret: Juden und Roma, kommunistische Funktionäre, Geisteskranke und Behinderte, überhaupt alle Personen, in denen man ein Sicherheitsrisiko vermutete, umstandslos zu ermorden. Dazu gehörte weiter der Erlass über die Kriegsgerichtsbarkeit, der tatsächliche oder nur vermutete Straftaten feindlicher Zivilisten der Truppe zur unmittelbaren ‚Erledigung‘ übertrug, umgekehrt den Verfolgungszwang für Straftaten deutscher Soldaten an der Zivilbevölkerung aufhob. Das war nichts anderes als ein Freibrief für Plünderung, Brandschatzung und Gewalt. Eingeschritten werden sollte nur bei Untergrabung der „Manneszucht“ durch sexuelle und andere Exzesse: eine außerordentlich dehnbare Bestimmung, die selten zu Gunsten der Landeseinwohner ausschlug.

Der Autor hat seinem Buch ein Motto aus Senecas Troaden beigegeben, sinngemäß übersetzt: Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet zu tun die Scham. Die Verordnungen, Befehle und Erlasse, die dem Vorgehen gegen die Sowjetunion als Regelwerk dienten, waren durchweg unvereinbar mit dem Kriegsvölkerrecht, mit den Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907, waren weit entfernt von der Idee des Rechts, der Gerechtigkeit und der Fürsorge für die Einwohner der besetzten Territorien. Milde und Großherzigkeit waren nirgendwo zu erkennen, eine Strategie der Befriedung durch „moralische Eroberungen“ war im Prinzip nicht vorgesehen, was einzelne, allerdings weitgehend wirkungslose Initiativen in diese Richtung – wie Kilian anhand einiger Beispiele zeigt – nicht ausschloss. Des barbarischen Treibens geschämt haben sich – soweit man das überhaupt rekonstruieren kann – nur wenige.

Als unverbrüchlicher Grundsatz der deutschen Kriegführung galt: Das eroberte Land ernährt die erobernden Armeen. Dass die Bevölkerung damit ihrer Subsistenzgrundlagen beraubt wurde, nahm man billigend in Kauf, waren es doch in den Augen der Besatzer nur ‚slavische Untermenschen‘, denen im Fall des Sieges ohnehin ein erbärmliches Schicksal als Heloten zugedacht war. General Thomas, der Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes, machte noch in der Planungsphase des Feldzugs kein Hehl aus den Konsequenzen: „Zweifellos“ würden, konstatierte er im Mai 1941, „zig Millionen Menschen verhungern“. Das Land sei „leergefressen“, hieß es in einer Meldung vom Dezember 1941. Bezeichnend für den Geist, der in der Truppe wie in den Okkupationsbehörden herrschte, war die Wortwahl der zahllosen Erlasse und Anweisungen. Da wurden „unerhörte Härte“ und „erbarmungsloses Vorgehen“ beschworen, fortwährend tauchen Vokabeln auf wie „erledigen“, „aussondern“, „sonderbehandeln“, „auskämmen“, „unschädlich machen“, „schonungslos vernichten“, „rücksichtslos und unbarmherzig zupacken“. Immer wieder wird „energisch durchgegriffen“, werden „schärfste Mittel“ angewandt, die sich unterschiedslos gegen Juden, Partisanen und politische Gegner richteten: Die Opfer, die aus diesem zügellosen Treiben resultierten, gingen in den zehn- und hunderttausende, auch und nicht zuletzt unter den Kriegsgefangenen, die man auf elende Weise dahin vegetieren ließ. Die Wehrmacht agierte dabei Hand in Hand mit den Verbänden der SS: Der Verfasser spricht hier zu Recht von „ideologischem Schulterschluß“, basierend auf gemeinsamen Feindbildern, antisemitischen Ressentiments und geopolitischen Perspektiven.

Der Untersuchungsraum, den Kilian durchschreitet, umfasst die rückwärtigen Gebiete der Heeresgruppe Nord, südlich und leicht südöstlich der eingeschlossenen Metropole Leningrad gelegen. Beobachtet werden die verschiedenen Instanzen, Kommandoebenen, Befehlsstränge und Dienststellen, die in das Geschehen involviert waren. Sichtbar wird im „Okkupationsapparat“ ein vielfältiges Mit- und Gegeneinander von Akteuren, jeweils ausgestattet mit unterschiedlichen Befugnissen und Aufträgen: ein im Ganzen polykratisches Gefüge, in dem Rivalitäten, nicht immer klar abgegrenzte Kompetenzen und teilweise gegenläufige Ambitionen an der Tagesordnung waren. Zweierlei hatte dabei absolute Priorität: die militärische Sicherung des eroberten Terrains, um den kämpfenden Einheiten an der Front den Rücken frei zu halten, und die wirtschaftliche Ausplünderung von Land und Leuten, was wiederum einem doppelten Zweck diente, nämlich zum einen die Versorgung der eigenen Truppen zu gewährleisten und zum andern dem Reich dringend benötigte Güter zufließen zu lassen. Eine Schlüsselrolle hatte hier die Landwirtschaft, die freilich nicht besonders ertragreich war. Für die Einwohner resultierte daraus ein Leben unter ständigen Repressalien, geprägt von Unterernährung und Siechtum, stets bedroht von Willkür, Zwangsarbeit, Abschiebung und Umsiedlung, drangsaliert von Besatzern wie von Partisanen.

Diesen Phänomenen sind die drei letzten Kapitel gewidmet. Sie erzählen und analysieren mit zuweilen ausufernder Detailversessenheit. Das macht die Lektüre nicht immer einfach. Die Dichte des ausgeschöpften Archivmaterials ist beeindruckend, die Anmerkungen, die dies dokumentieren, sind mit Drei- und Vierfachbelegen allerdings unübersichtlich. Sie zu rezipieren, auch die vielen Siglen zu entschlüsseln, erfordert beständiges Blättern zwischen Text, Quellen- und Abkürzungsverzeichnis. Wer sich jedoch mit Geduld wappnet, sieht sich am Ende belohnt durch eine ungewöhnliche Fülle von Informationen und Einsichten. Und nicht gering zu achten ist, dass Kilian ausgesprochen nüchtern argumentiert, die Befunde wenn nötig und möglich sorgsam hin und her wendet, sich vordergründiger Polemik enthält, was die Wirkung seiner Studie nicht mindert, sondern ganz im Gegenteil beträchtlich erhöht.

Titelbild

Jürgen Kilian: Wehrmacht und Besatzungsherrschaft im Russischen Nordwesten 1941 - 1944. Praxis und Alltag im Militärverwaltungsgebiet der Heeresgruppe Nord.
Schöningh Verlag, Paderborn 2012.
656 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783506776136

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