Intra muros

Günter Kunerts melancholisch-ironische Notizen aus dem postkatastrophischen Zeitalter sind weder Tagebuch noch Essay

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Günter Kunert ist ein ungemein produktiver Dichter. Neben die Lyrik, die mehr als 30 Einzelbände aus 60 Jahren umfasst, treten die über die Jahrzehnte hinweg kontinuierlich entstandenen Aufzeichnungen des 1929 geborenen Schriftstellers. Vielleicht sind diese Notate, wie Walter Hinck anlässlich des Bandes „Die Botschaft des Hotelzimmers an den Gast“ (2004) schrieb, Kunerts „Hauptwerk“. Sie bündeln die Themen der Lyrik: Mensch und Masse, Ideologie- und Utopiekritik, Judentum und deutsche Geschichte, Berlin und Landleben, Melancholie und Altern, Schreiben und Lesen, um nur diese zu nennen. Sie entlasten den Autor vom Zwang zum Autobiografischen und geben dem poetischen Denken einen manchmal aphoristischen, meistens fragmentarischen Schreibfreiraum. Und sie entwerfen den Autor in seinen liebsten Selbstbildern, als „Archivar“ und „Konservator“, als Warner und Hoffenden.

Das gilt in besonderem Maße für „Tröstliche Katastrophen“. Diese Aufzeichnungen sind der aktuellste Teil aus den Notizensammlungen Kunerts, etwa so umfänglich wie der Band von 2004, zeitlich nunmehr die Jahre 1999 bis 2011 erfassend. Kunert führt diese Notizen seit seinem Umzug aus Berlin ins schleswig-holsteinische Kaisborstel (1979/80), nummeriert, später auch datiert, aber in großzügigen Jahresrhythmen. Das befreit die Aufzeichnungen einerseits vom Druck der Tagesaktualität, verleiht ihnen einen kosmopolitischen, ja weltzeitlichen Anstrich, den andererseits die in unregelmäßigen Abständen eingebauten Zeitungsausschnitte wieder mit Nachrichten von tagtäglichen Katastrophen übertünchen. Auch hier ist der gerne in Paradoxen denkende Künstler am Werk, der „rätselhaft, mehrdeutig, provokant“ schreibt (Hubert Witt), der die Widersprüche auf den Punkt bringt und so zur Schärfung der Erkenntnis nutzt.

Diese Meldungen von Unglücksfällen, Selbstmördern und Amokläufen sind nicht gerade dazu angetan, das Prinzip Hoffnung zu stärken. „Die Hoffnung aufgeben / wie einen Brief ohne Adresse / Nicht zustellbar und / an niemand gerichtet“, hieß es in dem Gedicht „Wir sind Utopia“. Nun registriert der Schriftsteller die Wechselfälle des Lebens, die Kehrseiten der Zivilisation, die Folgen von ökologischem und moralischem Raubbau. Reisen ist seine Sache nicht mehr, intra muros ist die stabile Position des Weltbeobachters. Reich ist das Spektrum des Beobachteten, immer wieder kommen die Medien ins Bildfeld. Der Filter ist Kunerts große Aufmerksamkeit für kleine Dinge. So mag er sich die Perspektive seines Hauses auf Google Earth als „Götterperspektive, die nun dem Menschen gegeben ist“, vorstellen, als Resultat eines geologischen Ennuis.

Der so schreibt, sieht sich als „Chronisten der realitätsbedingten Unwahrscheinlichkeiten“. Dazu gehört, wie könnte es anders sein, auch die Tatsache des Aufzeichnens. „Warum schreibe ich eigentlich all diese Notizen in der absoluten Ungewißheit, ob sie je jemand lesen wird?“ Die Antwort ist pessimistisch, aber nicht untröstlich. Die Mitwelt ist unverlässlich, die Nachwelt vergesslich. Und da ins Jenseits „keine Fanpost geliefert“ wird, bleibt die Aussicht, eine heitere Phänomenologie des eigenen Zustandes auszumalen. Im Alter, weiß Kunert, wird der Lebensumkreis kleiner, aber der Denkkreis größer. Dazu gehören auch Schreckensträume, die geflissentlich notiert und analysiert werden. Doch bei alledem weist der Dichter die Klagen gegen den Weltuntergang ab. Er kann die „Entfristung“ (Johann Baptist Metz) der Heilszeit zur endlichen Weltzeit nicht verhindern. Aber beschreiben: durch das, was Odo Marquard den „Entlastungs- und Aufheiterungsertrag“ des Humors nennt, der uns den Aufwand erspare, die Widersprüche der Realität zu verleugnen. Günter Kunert bannt diese Widersprüche in lakonische Fragmente. Tröstlich sind die Katastrophen, weil sie die Vernunft nicht in Fiktion auflösen, sondern in der Form einer Zeitmitschrift konzentrieren. Auch „Pandorama“ oder „Chronistkasten“ hätte man sich in Günter Kunerts Sinne gut als Titel dieser erhellenden, von Lichtenberg und Tucholsky inspirierten Aufzeichnungen vorstellen können.

Titelbild

Günter Kunert: Tröstliche Katastrophen. Aufzeichnungen 1999-2011.
Herausgegeben von Hubert Witt.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
383 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241299

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