Agonales Erzählen

Armin Schulz’ posthum von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller herausgegebenes Kompendium zum Forschungsstand der Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive schließt eine bis dato zu beklagende Lücke

Von Katharina MünstermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Münstermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 2012 nach dem frühen Tod des Konstanzer Mediävisten Armin Schulz von Schülern und Kollegen herausgegebene Band „Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive“ sollte einmal eine an Studierende gerichtete Einführung in die Paradigmen der ‚mediävistischen‘ Erzähltheorie werden. Dass es anders gekommen ist, verrät nicht nur der stolze Preis, den der Verlag für Schulz’ opus magnum angesetzt hat, sondern auch dessen Umfang und theoretischer Anspruch, denn der Band bietet nicht weniger als ein systematisches Kompendium des bislang nur über unzählige Einzelpublikationen verstreut zugänglichen Standes einer erzähltheoretischen Forschung aus dezidiert mediävistischer Sicht.

Schulz’ Werk ist dementsprechend bezüglich seines Aufbaus nicht vergleichbar mit anderen Einführungen in die Erzähltheorie, die in den letzten Jahren erschienen sind und sich – wie etwa die „Einführung in die Erzähltheorie“ von Matias Martinez und Michael Scheffel (1999) – in der universitären Lehre etabliert haben. Anstatt wie diese die gängigen Kategorien der erzähltheoretischen Analyse nacheinander zu erläutern, setzt Schulz direkt bei den Problemen und Widerständen an, die sich bei der Lektüre mittelalterlicher Texte auf einer theoretischen Ebene im Vergleich mit moderner Literatur ergeben.

Ansatzpunkt ist folglich auch bei Schulz die viel beschworene Alterität mittelalterlichen Erzählens, das Ziel eine historische Ergänzung der bereits vorliegenden Einführungen in die Erzähltheorie, die zwar in der Regel einen universalistischen Anspruch verfolgen, jedoch überwiegend an modernen Texten entwickelt wurden und als Instrumentarium für das Verstehen mittelalterlicher Texte nur eingeschränkt zu gebrauchen seien, da sie die Ebene des discours überbeleuchten, während die Handlung und deren Motivierung eine untergeordnete Rolle spielt. Diese Gewichtung, so Schulz’ Ausgangsthese, wird derjenigen der mittelalterlichen Texte jedoch nicht gerecht, denn diese seien klar auf die Ebene der histoire fokussiert, während darüber hinaus in den Texten vorliegenden Phänomenen eher mit rhetorischem Regelwerk beizukommen sei als mit modernder Erzähltheorie. Darüber, ob diese Einschätzung in dieser Schärfe zutrifft oder die Forschung der letzten Jahre diese Differenz zu stark gemacht hat und den Texten und ihren Autoren zu wenig zutraut, kann man geteilter Ansicht sein, fest steht jedoch, dass Schulz’ Leistung, aus mediävistischer Sicht besonders fruchtbare erzähltheoretische Modelle, Konzepte und Begriffssysteme handbuchartig zusammenzustellen und bestehende Forschungslücken mit eigenen weiterführenden Überlegungen zu füllen, kaum überschätzt werden kann.

Schulz’ Ziel, der Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens erzähltheoretisch gerecht zu werden, spiegelt sich bereits in der Grobgliederung seines Handbuchs in sieben Kapitel, denn hier finden sich neben gängigen Kategorien der Erzähltheorie wie Raum, Zeit (Kapitel 5), Erzähler und Erzählperspektive (Kapitel 7) auch Kapitel, die auf spezifische Erzählstrategien mittelalterlicher Texte abzielen und in einer auf moderne Texte zumindest aus dem Bereich der ‚Höhenkammliteratur‘ zugeschnittenen Theorie vermutlich eher Irritationen auslösen würden, wenn dort etwa von „konkurrierende[n] Logiken“ (Kapitel 3) und dem „Erzählen nach Mustern“ (Kapitel 4) zu lesen ist. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang auch das nach dem Vorwort erste inhaltliche Kapitel (Kapitel 2), in dem sich Schulz zunächst mit der Figur beschäftigt. Dieser Einstieg ins Thema entspricht einer in der Forschung in der Vergangenheit immer wieder geäußerten Klage über die erzähltheoretische Marginalisierung der Figuren trotz deren offenkundiger handlungsbezogener sowie produktions- und rezeptionsästhetischer Bedeutung. Allerdings entpuppt sich das 100 Seiten starke Kapitel nach einigen theoretischen und vor allem gegenüber neuzeitlichen Erwartungen abgrenzenden Erläuterungen zur Figurenzeichnung, -konstellation, Textanalyse und -interpretation als (exzellente) Einführung in anthropologische Vorstellungen und die Kultur des Mittelalters, die bezogen auf die Kapitelüberschrift „Echte Menschen und literarische Figuren“ zwar an einigen Stellen etwas vom Eigentlichen abzukommen scheint, jedoch didaktisch stimmig und sinnvoll allen weiteren Ausführungen zum mittelalterlichen Erzählen vorgeschaltet ist und die Voraussetzungen für den Texten historisch angemessene Interpretationen überhaupt erst herstellt.

Die sich anschließenden Kapitel nutzen die Terminologie der modernen Erzähltheorie, wo sie sich anbietet, Schulz akzentuiert die Darstellung ansonsten jedoch mit Blick auf den Gegenstand in die Richtung von zum Teil älteren Konzepten zur Analyse von Erzählschemata (Brémond, Greimas, Lotman) und mediävistischen ‚Sonderkonzepten‘ zur Struktur, Bedeutungskonstitution und Gattungspoetik älterer deutscher Literatur (Doppelweg, Schemainterferenzen, Hybridisierung, sekundäre Mündlichkeit). Mit Hilfe dieser doppelten Orientierung an der Forschung und an zahllosen, zum Teil auf mehreren Seiten ausgeführten Beispielen verdeutlicht Schulz, wie mittelhochdeutsche Texte abweichend von modernen ‚funktionieren‘. Wichtig ist dem Verfasser dabei, dass Erzähltheorie nicht als Hilfswissenschaft missbraucht, sondern als „Königsweg“ verstanden wird, der einen adäquaten Zugang zu alten Texten erst ermöglicht. Dass Schulz’ Buch hervorragend dafür geeignet scheint, fortgeschrittene Studierende auf diesen ‚Königsweg‘ zu führen, liegt dabei nicht zuletzt an der gelungenen Illustration der theoretischen Inhalte mit Hilfe von zum Teil kürzeren, in die Darstellung eingebundenen, aber auch längeren, übersichtlich von den rein theoretischen Teilen abgegrenzten Beispieltexten, die Lust auf die Texte und ihre (Wieder)Lektüre macht.

Darüber hinaus bietet Schulz immer wieder Hinweise auf Trends und Schwerpunkte der mediävistischen Literaturwissenschaft aus forschungsgeschichtlicher Perspektive, sodass auch studentische Leser dazu befähigt werden, einzuschätzen, Kind welcher Zeit und Denkrichtung auch die Forschungsliteratur, die sie während des Studiums der älteren deutschen Literatur rezipieren, ist und eine kritische Grundhaltung zur Forschung einzunehmen lernen. An Schulz’ Monografie zu monieren wäre etwa an einigen wenigen Stellen die im Einklang mit dem Gros der aktuellen Forschung gepflegte Defizienzrhetorik, die die Eigenart mittelalterlichen Erzählens zumindest teilweise noch immer neben der Analyse abweichender ästhetischer Vorstellungen und Semantisierungsstrategien – gegebenenfalls unbewusst – auf das Unvermögen der Autoren in bestimmten Bereichen zurückführt.

Kontinuierlich gelesen ist Schulz’ Handbuch trotz dieser gelegentlichen Irritationen ein hervorragender Überblick nicht nur Spezifika des narratologischen Umgangs mit mittelalterlichen Erzähltexten, sondern fast eine Einführung in die oft fremde Welt mittelalterlicher Literatur insgesamt: Neben dem nicht textsortenspezifischen, sehr starken anthropologisch-kulturellen Schwerpunkt im ersten Kapitel werden auch lyrische Gattungen und deren Besonderheiten sowie fremdsprachige Texte an passenden Stellen einbezogen; die Beispiele beziehen sich nicht nur auf die in der universitären Lehre überwiegend gelesenen, ‚kanonischen‘ Texte, sondern bieten auch weniger Bekanntes.

Trotz des komplexen Gegenstandes gelingt es Schulz, einen gut lesbaren, an einigen Stellen geradezu ‚schmissigen‘ Text zu präsentieren, dem man seine Entstehung aus dem Kontext zweier Vorlesungen heraus nicht selten auch ‚anhört‘ und der – ohne anbiedernd oder gekünstelt zu wirken – die Begeisterung des Verfassers für die Reize mittelalterlicher Texte mit den sie bevölkernden „womanizer[n]“ und ihrem Überangebot an „sex and crime“ trotz der Betonung deren Schemaliteraturcharakters an den Leser weiterzugeben vermag. Insbesondere der im Vergleich mit der im deutschsprachigen Raum ansonsten üblicherweise gepflegten Wissenschaftssprache zunächst irritierende Sprachduktus trägt sicherlich erheblich dazu bei, Studierenden den Zugang zum Thema zu erleichtern.

Dass Achim Schulz’ Werk nach dessen Tod nicht im Nachlass verborgen geblieben ist, ist als Gewinn für Germanistikstudierende und die gesamte mediävistische Fachwelt anzusehen, denn das Handbuch liefert nicht nur eine verdienstvolle ‚Gebrauchsanweisung‘ zur kulturgeschichtlichen und erzähltheoretischen Einordnung und Analyse mittelhochdeutscher Epik, es stellt dank seiner kleinschrittigen Gliederung und ausführlicher Register auch ein längst überfälliges Hilfsmittel und Nachschlagewerk dar, das als Wegweiser durch die erzählten Welten des Mittelalters in keiner Bibliothek fehlen sollte.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive.
Herausgegeben von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller.
De Gruyter, Berlin 2012.
431 Seiten, 119,95 EUR.
ISBN-13: 9783110240382

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