Anton Reiser in Arkadien

In der Anderen Bibliothek ist eine reich illustrierte Neuausgabe der „Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788“ von Karl Philipp Moritz erschienen

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass man in Berliner Akademie- und Germanistenkreisen den Schriftsteller und Kunstprofessor Karl Philipp Moritz (1756-1793), heute halbwegs bekannt durch seinen „psychologischen Roman“ „Anton Reiser“, zum Repräsentanten einer „Berliner Klassik“ ausgerufen hat, liegt nun auch schon wieder gut anderthalb Jahrzehnte zurück. Dass dadurch das öffentliche Bewusstsein von literarischer Klassik und Klassikern in Deutschland auch nur beeindruckt worden wäre, kann man nicht behaupten, nicht einmal mit Blick auf die verbliebenen Interessenten an Literaturgeschichte (oder wohl besser: deren Hinterbliebene). Natürlich liegt das auch daran, dass diese Idee eine Totgeburt sein musste, weil die Zeiten kritischer Reflexion auf die Konstitution sowie Sinn und Zweck von Klassik und Literaturgeschichte insgesamt selbst in der Literaturwissenschaft lange vorbei sind. Der von US-Germanisten herausgegebene Band, an dem zumindest die titelgebende These aufregend wirkte („Die Klassik-Legende“), ist 1971 erschienen. Noch ein projektives Verlegenheitskonstrukt, wie schon die „Weimarer Klassik“ – dafür fehlte nun doch das Interesse, bei allem Verständnis für ein metropolitanes und europäisches Berliner Gegenstück zur statuarisch-leblosen Weimar-Marbacher Kleinstadt-Klassik, die man eben erst mit Mühe von der Semantik einer nationalen „Deutschen Klassik“ emanzipiert hatte, an die ja auch die DDR mit ihren „NFG“ noch einmal anknüpfen wollte.[1] Auch die „Berliner Republik“ machte in ihren Schröder-Naumann’schen Anfangsjahren keine Anstalten, sich eine „Berliner Klassik“ als „Großstadtkultur um 1800“ zuzulegen. Um zu verstehen, warum, hätte man eben die funktionsgeschichtlichen Studien zur Erfindung der Weimarer Klassik im frühen 19. Jahrhundert nachlesen sollen. Die Berliner Republik verzichtet heute offensichtlich nicht nur auf derartige Ideen, – selbst der Gedanke an solchen Verzicht käme ihr gar nicht in den Sinn. Trotzdem hatte die Idee, die offenbar von einer traditionspolitischen Initiative Conrad Wiedemanns ausging, einen gewissen Charme, und das wichtigste Ergebnis ist sicherlich, neben den verschiedenen Sammelbänden akademischer Konferenzen, die auf 13 Bände (mit jeweils mehreren Teilbänden) angelegte Kritische Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ von Moritz, die seit langem vermisst wird und von der nun bereits 5 Bände vorliegen.

Zur Statur des neuen Klassikers Moritz gehört wesentlich dessen nirgends anders als in Italien, in Rom, beginnende Freundschaftsbeziehung zu Goethe, und der angehende Promotor der Berliner Klassik, der auf der Rückreise 1788/89 sich noch einige Monate in Weimar aufhält, scheint nebenher auch noch zum Geburtshelfer der Weimarer Gründung zu werden, in der man auf diese Weise eine Art von Dependance sehen kann und die ja, als „Zwei-Mann-Klassik“, bekanntlich erst in den 1790er-Jahren mit der Beziehung Goethes zu Schiller begründet wird und bekanntlich ohne die Abschattierung durch die Revolution in Frankreich nicht zu denken ist. Moritz ist da längst in Berlin zum Kunstprofessor und Mitglied der beiden Akademien aufgestiegen – ein weiteres ironisches Licht, das damit von der Berliner Neugründung ausgeht.

Das an Ort und Stelle verfasste Reisebuch, das Moritz – im Vergleich zu Goethe muß man sagen: schon 1792/93 in drei Teilen publizierte, im Verlag von Friedrich Maurer in Berlin, ist nun in einer Neuausgabe der bibliophilen Reihe „Die Andere Bibliothek“ erschienen, und man nimmt den schweren Band mit einigen Erwartungen in die Hand. Möchte man doch wissen, was der kunsttheoretisch versierte Moritz lange vor dem Erscheinen der 2 Teile der „Italienischen Reise“ Goethes (1813/17), den er als Dichter des „Werther“ so sehr bewundert, wohl über Italien und Rom zu sagen hat.

Wenn man Aufschlüsse über die römischen „Altertümer“ erwartet, ist es nicht sonderlich viel, und Moritz ist sich der Schwierigkeiten auch bewusst, immer mit der mächtigen Autorität Winckelmanns, Mengs’ und anderer im Rücken über die Bauwerke, Plastiken und Gemälde etwas Brauchbares zu sagen. „Den neuangekommenen Künstlern hier“ gehe es ebenso wie ihm, schreibt er am 10. November 1786, 14 Tage nach seiner Ankunft in Rom und nach einem Bericht von einer Begegnung mit dem Papst (Pius VI.) auf der Straße und einem Besuch in der Villa Medici. „Sie verlieren sich in der Anschauung des Mannichfaltigen, ihre Einbildungskraft verschwimmt sich, und kann sich auf nichts einzelnes heften; [ …] auch ist die Seel noch zu voll von den Gegenständen; alles was sie darüber sagen, oder davon wieder ausdrücken soll, kömmt ihr viel zu klein und geringfügig gegen die Sachen selber vor. Ich muß Sie also bitten, mein Lieber, so lange mit einer Beschreibung von der Villa Medicis; von einem Aufzuge des Pabstes, u.s.w. vorlieb zu nehmen, bis allmälig sich mir die Zunge löset, und ich im Stande bin, über Schönheit und Kunst, die ersten Laute hervorzubringen, die ihres Gegenstandes würdig sind.“ Er will sein „eigner Cicerone“ sein, schreibt er im Eintrag vom 20. November, und er suche sich „nach und nach in diesem großen Schauplatze zu orientiren, um dann auch nach einiger Zeit einmal ein Wörtchen darüber sagen zu können.“

Im zweiten und dritten Teil wird sich die Vorläufigkeit der Eindrücke und Urteile nicht wesentlich ändern, was aber den heutigen Leser kaum stören muß; denn eben solche Reflexionen über die Wahrnehmungsbedingungen oder auch Hindernisse gehören zu den Besonderheiten von Moritz’ Italienbuch und sind auch meist interessanter, als eine weitere Kunstbeschreibung mehr oder weniger nach Vasari, Winckelmann oder Kunstführern wie „Roma antica e moderna“ (1765, gemeint ist wohl eine spätere Auflage eines Werkes mit diesem Titel von Girolamo Franzini aus dem 16. Jahrhundert) und Johann Jacob Volkmanns dreibändige „Historisch-kritische Nachrichten von Italien“ (1777/78) es wäre, die er wie die anderen Italienreisenden dieser Jahre benutzt und fleißig ausschreibt.[2] Ebenso reizvoll der Blick auf die gemeinschaftliche Natur- und Kunsterfahrung in den verschiedenen Gruppen der deutschen Künstler und Kunstliebhaber, die sich, vor allem aus Berlin, in diesen Jahren in Rom aufhalten, die Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und Jakob Philipp Hackert und der Bildhauer Johann Gottlieb Schadow gehören nur zu den bekanntesten:[3] „Der Hr. v. G.[oethe] ist hier angekommen“, heißt es am 20. November (1786). „Dieser Geist ist ein Spiegel, in welchem sich mir alle Gegenstände in ihrem lebhaftesten Glanze und in ihren frischesten Farben darstellen“, und verallgemeinernd werden unter diesem Datum dann die Reize der geselligen Wahrnehmung in Gruppen erörtert.

Ebenso charakteristisch für dieses Italienbuch, das auch ein Buch der Selbsterfahrung ist, sind die große Beweglichkeit und Lebhaftigkeit, mit der Moritz in Italien und der großen Stadt unterwegs ist, die hier nicht nur als Roma aeterna, sondern auch als bunter Schauplatz des gegenwärtigen Lebens erscheint. Darüber liest man Eindrücke, die sich im raschen Vorbeigehen ergeben, aber auch eingehend geschilderte Szenen, von Begegnungen im Reisewagen, im Umgang mit Kutschern, einem Besuch in der Republik San Marino und vielem anderen mehr. Ein eigenes Thema ist die Wahrnehmung der katholischen Kirche, des Klerus und der Volksfrömmigkeit: Auch hier ist das Interesse am konkreten Verhalten der frommen und leidenden Menschen in den Straßen deutlich größer als der Abscheu, den man von einem norddeutschen Protestanten erwarten mag. Freilich führen Anton Reiser die Zweifel und Leiden, darunter auch die Qualen der pietistischen Erziehung, zu einer metaphysikfreien Ästhetik und nicht etwa zurück zur Religion oder gar zur gemütlichen Frömmigkeit des katholischen Italien. Zu den vielen scharfen Beobachtungen des römischen Lebens, die das Buch fast in die Nähe von Seumes Italienbuch rücken („Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“, Druck Braunschweig 1803), gehört etwa im 3. Teil ein bemerkenswerter Abschnitt über „Juden in Rom“. Moritz hatte engen Umgang mit dem Philosophen Moses Mendelssohn und Salomon Maimon, dessen „Lebensgeschichte“ er herausgegeben hat (Berlin 1792/93). Und er war ein Freund und Patient des philosophischen Arztes Marcus Herz. So lag gewiss nahe, genauere Informationen über die Lage der Juden in Rom einzuholen, auch im Vergleich mit Berlin, der hier auch angesprochen wird. Zu den Auflagen der Ghetto-Bewohner am Tiber gehöre es, heißt es im Eintrag vom 22. September 1788, „daß sie alle Sonntag Nachmittage eine Deputation aus ihrem Mittel nach einer christlichen Kirche schicken müssen, die zu dem Ende dicht am Ausgange des Ghetto gebaut ist, und wo sie genöthigt sind, eine Bekehrungspredigt anzuhören, wogegen sie dann freilich, so gut wie möglich, die Ohren mit Baumwolle verstopfen, aber doch alle Sonntagnachmittage ihre qualvolle Stunde hier zubringen müssen“.

Unter den heute bekanntesten Italien- und Romreisenden dieser Zeit nimmt Moritz einen durchaus eigenständigen Platz ein: zwischen Lessings kurzer Italienreise im Jahre 1775,[4] Wilhelm Heinses Kunstbeschreibungen, die zwischen 1780 und 1783 entstanden sind (gedruckt erst im 20. Jahrhundert aus dem Nachlass),[5] und Johann Gottfried Herders sehr eigenwilligen Tagebuchnotizen und Briefen über seine Reise in Italien, die er etwa zur gleichen Zeit wie Moritz (dem er auch begegnet ist) unternahm,[6] Goethes „Italienischer Reise“ (gedruckt 1813, 1817) sowie der genannten Erzählung von Johann Gottfried Seume. Unter vielen Aspekten kann man Herders Notate und Briefe, darunter auch viele kritische Ausführungen zu Goethe und Moritz, am interessantesten finden; die Literaturwissenschaft hat dazu, außer peinlichem Gerede, das sich von der altbekannten Goethe-Identifikation herschreibt, lange nichts Bemerkenswertes zu sagen gehabt.[7] Herder musste sich als Autor über das Reisen nicht mehr beweisen, wenn man an sein „Journal meiner Reise im Jahr 1769“ denkt (von Riga über Ost- und Nordsee nach Nantes, Druck erst 1846). Aber seine im ganzen unglückliche Italienfahrt wider Willen steht unmittelbar am Vorabend eines ganz neuen Abschnitts in seinem Leben und Schreiben: der Erfahrung der Französischen Revolution, die ein ebenfalls so eigenwilliges Werk wie die „Humanitätsbriefe“ hervorgebracht hat.

Der Band in der „Anderen Bibliothek“ (Nr. 337) ist, wie gewohnt, schön und solide gestaltet, ein handliches Vergnügen mit Lesebändchen, das man im Zeitalter der Online-Idiotie nicht hoch genug schätzen kann. Die Ausgabe ist vor allem durch zahlreiche schwarzweiße Fotos illustriert, von denen der Verfasser dieser Rezension 137 gezählt hat, aufgenommen im April und November des Jahres 2012 von Alexander Paul Englert. Sie beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf die Textpassagen, in deren Nähe man sie findet; man könnte aber nicht sagen, dass sie zu der Lektüre viel beigetragen haben (doch das kann in anderen Fällen auch anders sein). Die Erläuterungen zum Text sind sparsam, ein ausführlicher Sachkommentar ist aber in der Moritz-Edition des Deutschen Klassiker-Verlags verfügbar, den der noch ausstehende Band 5, Teil 2 der „Sämtlichen Werke“ schwerlich übertreffen wird.[8] Der Essay von Jan Volker Röhnert schließlich, Literaturwissenschaftler in Braunschweig, Verfasser von Lyrik und zahlreichen Arbeiten besonders über Rolf Dieter Brinkmann, hat ganze 65 Seiten zur Verfügung. Unterschiedlich originelle Beobachtungen über das Italienbild bei Moritz stehen neben allerlei Beliebigkeiten, die zum Teil preziös-umständlich formuliert sind und deren Plausibilisierung der Verfasser sich erspart, auch die Assoziationen und Anmutungen über die Jahrhunderte hinweg gehen meist ins Leere und tragen zum Thema kaum etwas bei, das präzise angebbar wäre. Ein Essay eben. – Ach so, ein Essay! Na dann.

[1] Vgl. „Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht“, herausgegeben von Lothar Ehrlich und Gunther Mai. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2000, und „Weimarer Klassik in der Ära Honecker“, herausgegeben von Lothar Ehrlich. Ebenda 2001.– Die seit 2003 konstituierte „Klassik Stiftung Weimar“ betont im Gegenzug und mit Hilfe einer nur noch schwer zu überbietenden, aber eben deshalb verräterischen Komplexitätsbehauptung den kosmopolitischen Wert des „Kosmos Weimar“, der auch zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört.

[2] Vgl jetzt den Reprint von Volkmanns seinerzeit berühmtem Werk: Hildesheim: Olms 2011, in 3 Bänden mit einem Kommentarband, herausgegeben von Markus Bernauer.

[3] Darüber unterrichtet Claudia Sedlarz: „Die hohe Schule der Welt (…): Das Ewige Rom hat Deutschlands Künstler gegen Ende des 18. Jahrhunderts vieles gelehrt“. In: DIE ZEIT, Nr. 14, 27. März 2013, S. 19, und dieselbe: „,Rom sehen und darüber reden’. Karl Philipp Moritz’ Italienreise 1786-1788 und die literarische Darstellung eines neuen Kunstdiskurses“. Hannover: Wehrhahn 2010 (Berliner Klassik, 12).

[4] Vgl. vor allem: „Eine Reise der Aufklärung. Lessing in Italien 1775“, herausgegeben von Lea Ritter Santini. 2 Bände. Berlin: Akademie Verlag 1993. Katalog zur Ausstellung in Wolfenbüttel und Braunschweig sowie dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Neapel; ferner Conrad Wiedemann: Lessings italienische Reise. In: „Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang“, herausgegeben von Wilfried Barner und Albert M. Reh. Detroit/München: edition text und kritik 1984 (Sonderband zum „Lessing Yearbook“), S. 151-162, und Paul Raabe: Einige philologische Anmerkungen zu Lessings italienischer Reise 1775, ebenda, S. 163-171.

[5] Vgl. Wilhelm Heinse: „Tagebuch einer Reise nach Italien“, herausgegeben von Christoph Schwandt. Frankfurt/M.: Insel Verlag 2002 (insel taschenbücher 2869), und „Wilhelm Heinse, der andere Klassizismus“, herausgegeben von Markus Bernauer und Norbert Miller. Göttingen: Wallstein 2007.

[6] Vgl. jetzt Johann Gottfried Herder: „Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788-1789“. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Albert Meier und Heide Holmer. München: DTV 1988. Das „Reisetagebuch“ (hier S. 560-619) wurde zum ersten Mal 1980 gedruckt (Berlin/DDR, Redaktion von Günter Arnold, hg. von Walter Dietze und Ernst Loeb), Teile wurden erst später von Günter Arnold aufgefunden und transkribiert.

[7] Vgl. aber Thomas Kroll: Herder in Italien. Politische Formen der Wahrnehmung Italiens am Ende des 18. Jahrhunderts. In: „Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach und die Italien-Beziehungen im klassischen Weimar“, herausgegeben von Peter Kofler u. a. Bozen: Edition Sturzflüge 2010, S. 139-152.

[8] Vgl. Karl Philipp Moritz: Werke. Zwei Bände, hg. von Heide Holmer und Albert Meier. Bd. 2: Popularphilosophie / Reisen / Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1997.

Titelbild

Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. Mit einem Nachwort versehen von Jan Röhnert und mit Fotografien angereichert von Alexander Paul Englert.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2013.
687 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783847703372

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