Gemütlichkeit, Pflichtgefühl, Zivilcourage

Asfa-Wossen Asserates Tugend-Buch wirft Blicke in die deutsche Seele

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Krieg werde nur „das Schlechteste“ im Menschen hervorbringen, meint ein junger Soldat in Nico Hofmanns ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013). Wir sehen dann im Fortlauf des Films, wie aus dem pazifistischen Schöngeist im Krieg ein rücksichtsloser Frontkämpfer, am Ende ein hilfloser Märtyrer wird. In diesem kritischen Tugendbild werden „Fleiß“, „Pflichtgefühl“, „Treu und Redlichkeit“ als preußische Sekundärtugenden entlarvt. Wie diese ‚Tugenden‘ zum Einsatz kommen, darüber entscheidet erst ihr Zweck. Und der ist, das zeigt der Film in etlichen Szenen, verdorben im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Wofür also sind solche deutschen Tugenden noch gut?

Asfa-Wossen Asserates Buch über „Deutsche Tugenden“ gibt einen ebenso unbefangenen wie gescheiten Einblick in die deutsche Seele. Der Verfasser, Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers und promovierter Historiker, hat bereits mit seinen Untersuchungen über „Manieren“ und „Draußen nur Kännchen“ den ethnologischen Horizont der Deutschen abgetastet, ohne nationalen Stereotypen zu erliegen. Asserate lebt seit seinem Studium in Deutschland, er hat die Bräuche und Gewohnheiten der Deutschen genug studiert, um mit dem ethnologisch gerüsteten Blick von außen mehr aus ihnen herauszulesen, als diese sich selbst zuzutrauen oft bereit sind. Und dabei kommt es zu manch liebsamer Überraschung. So schlecht, wie sie für gewöhnlich gemacht werden, sind die Tugenden der Deutschen offenkundig gar nicht.

Das beginnt schon bei der Anmut. In den Fußgängerzonen scheint sie zwischen unförmigen Anoraks, bonbonfarbigen Leggins und Jogginghosen unterzugehen. Doch die Anmut ist sichtbar an deutschen Gestalten, die daher groß zu nennen keine Übertreibung ist, bei der „Grand dame der FDP Hildegard Hamm-Brücher oder dem alten Konrad Adenauer“. Schiller hielt die Anmut für die „Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit“. Im Liedgut ist sie gut aufgehoben. Und in Brechts „Kinderhymne“, die seinerzeit die Chance verpasste, Nationalhymne zu werden, vermittelte sie zwischen „Leidenschaft“ und „Verstand“.

Historische Umsicht und Literaturwissen tragen Asserates Argumentation auch in den Beiträgen über „Bescheidenheit“, „Freiheitsliebe“, „Toleranz“ und „Weltschmerz“, um nur diese zu nennen. „Pflicht“ kommt von „pflegen“, erinnert Asfa-Wossen Asserate und übersetzt das „Pflichtgefühl“ im kantischen Sinne als aus freien Stücken und innerer Überzeugung gewählte „Tugendpflicht“ gegenüber sich selbst. Sie schließe Standfestigkeit, Verantwortungsbewusstsein und „Zivilcourage“ ein (das war 1874 Bismarcks Übersetzung des französischen courage civil, des Bürgermuts). Nicht aber Kadavergehorsam und blinde Gefolgschaft. „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, schreibt Asserate mit Bezug auf die Männer des 20. Juli.

Auf diese Weise können die Sekundärtugenden, die preußisch genannt wurden, weil sie den Überlegenheitsanspruch der Bürgertums im preußischen Staat ausdrückten, wieder zu primären Eigenschaften werden. „Ordnungsliebe“, „Pünktlichkeit“, „Fleiß“ haben, wer wollte es denn leugnen, auch etwas Gutes.

Über die Erhebung der „Gemütlichkeit“ in den Adelsstand kann man gewiss streiten, aber es ist lehrreich, einmal eine positive Sichtweise einzunehmen gegenüber, sagen wir, Karl Heinz Bohrer, der die „Gemütlichkeit“ als „Gebrüll im Winkel, die mit Herzen zugenagelte Aussicht ins Freie“ gescholten hat. Der Beitrag über „Trinkfestigkeit“ ist auf der Grenze zum Kalauer und zur Rezeptologie. Vorzüglich wiederum ist, was Asserate zum Humor beisteuert. Diese Eigenschaft scheint den Deutschen nicht in die Wiege gelegt. Warum, fragt der Verfasser, und verortet die Humorresistenz der Deutschen an der scharf gezogenen Grenze zum Ernst („Spaß beiseite!“) und zum Witz (dazu lese man Asserates Kapitel über „Geselligkeit“) sowie in der starken regionalen Verwurzelung des Humors. Doch in der Literatur gibt es mehr humoreske Autoren als gemeinhin angenommen. Franz Kafka brach einmal mitten während seiner Beförderung zum „Konzipisten“ in unbändiges Lachen aus. Nicht zu vergessen auch Vicco von Bülows Humor, der einer von Asserate zitierten Beobachtung von Egon Friedell zufolge dem Leben abgeschrieben ist (in der Traueranzeige für Loriot stand 2011 zu lesen: „Lieber Gott, viel Spaß!“).

Asserate kennt die feinen Unterschiede zwischen Gourmand und Gourmet („Maßhalten“), zwischen Mozart und Wagner („Musikalität“), er praktiziert die regulative Idee des „Benimmadels“ (Ijoma Mangold). Ganz ohne den Deutschen moralische Lektionen erteilen zu wollen, wirbt er für ein positives Verständnis der „deutschen Tugenden“. Ein kluges Sittenbild der Deutschen und ein nachdenklicher Blick in ihre Geisteshaltung.

Titelbild

Asfa-Wossen Asserate: Deutsche Tugenden. Von Anmut bis Weltschmerz.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
239 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783406645044

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