Von den Erkenntnissen und Irrwegen eines Neurologen

Über V.S. Ramachandrans Roman: „Die Frau, die Töne sehen konnte“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die kognitive Neurowissenschaft gilt seit einigen Jahren als die Leitwissenschaft sowohl der Geistes- als auch der Naturwissenschaften. Die Fragen nach dem Zusammenhang von Geist und Gehirn, was das Bewusstsein des Menschen ausmacht und ob es überhaupt ein Ich und einen freien Willen gibt, prägen viele Debatten und bestimmen viele Kontroversen zwischen den Anhängern der Neurowissenschaften und deren Kritikern.

V.S. Ramachandran, Professor für Psychologie und Neurowissenschaft und Direktor des „Center for Brain und Cognition“ in San Diego, gilt als einer der weltweit renommiertesten Neurowissenschaftler, gerade weil er nicht nur innovativ und unkonventionell nach neuen Erkenntnissen auf diesem Gebiet forscht, sondern auch wegen der in der Regel vorsichtigen Präsentation seiner Thesen auf diesem Gebiet. Deshalb war es bisher immer ein Gewinn, sich über seine neuesten Erkenntnisse und Forschungsergebnisse zu informieren, zumal er diese in einer lesbaren und unterhaltenden Form dem interessierten Leser präsentierte.

Wie schon der Titel des Buches verrät, geht es um das Thema Synästhesie, aber auch um die Plastizität des Gehirns und die Verarbeitung von Sinneseindrücken, in den weiteren Kapiteln geht es um das Phänomen der Spiegelneuronen und ihre Bedeutung für viele menschliche Entwicklungen, besonders in den Bereichen der Sprache und der Kunst. Im letzten von insgesamt neun Kapiteln beschäftigt sich Ramachandran mit dem Problem des Ich-Bewusstseins. Soweit der Überblick über den Inhalt. Der Leser durfte gespannt auf die Ausführungen sein, leider werden seine Erwartungen nur teilweise erfüllt.

Im Vorwort überrascht der Autor mit seinen interessanten Fallgeschichten über die verwunderlichen Reaktionen bei Patienten, deren Hirne durch Schlaganfälle, Tumore oder Kopfverletzungen geschädigt oder beeinträchtigt worden waren. So spürte ein Patient nach einem neurochirurgischen Eingriff den Schmerz, der einem anderen Patienten zugefügt wurde und den er nur beobachtete. Diese Fallbeispiele von völlig unerwarteten Fähigkeiten oder Nichtleistungen bei Patienten geben einen beeindruckenden Überblick über seine praktische Tätigkeit als Neurologe. Wenn auch die biologischen und medizinischen Fachtermini manchmal den Lesefluss hemmen, so liest man die Ausführungen doch interessiert und erfährt viele bisher unbekannte Fakten auf diesem Gebiet, zumal der Autor eine beachtliche Palette von neurologisch interessanten Fällen vorstellen kann: von Autisten, bei denen sich die My-Wellen im Gehirn verändern, von Patienten, die unter dem Capgras-Syndrom leiden, also ihre nahen Verwandten nicht mehr erkennen können oder über die Rindenblindheit, bei denen die Patienten trotz der Schädigung der Sehrinde Aufgaben ausführen können, was ihnen eigentlich wegen ihrer Blindheit hätte nicht möglich sein dürfen.

Auch die Beispiele der unterschiedlichen Formen und Ausprägungen der Synästhesie und deren vermuteten Einfluss auf die Kreativität bei diesen Patienten sind interessant und durchaus beeindruckend zu lesen. Auch seine Erklärung des bekannten Phänomens der Synästhesie, dass dieses farbige Zahlensehen durch eine Querverschaltung beziehunsweise Kreuzaktivierung der beiden zuständigen Hirnareale, dem Farb- und dem Zahlenareal, die unmittelbar nebeneinander liegen, zu erklären seien, überzeugt durchaus. Ebenso liest man das Kapitel mit den Ausführungen über seine erfolgreiche Behandlungsmethode zur Schmerztherapie mittels einer Spiegelbox bei Patienten, denen Gliedmaßen amputiert wurden oder die diese durch einen Unfall verloren hatten, und über starke Schmerzen in den „Phantomgliedern“ klagten, interessiert und gespannt. Ramachandrans Erklärung, dass die Module des Gehirns ihre Aufgaben nicht isoliert voneinander verrichten, sondern es ein hohes Maß an Wechselbeziehungen zwischen ihnen gibt, leuchtet ein.

Soweit, so gut. Anders wirken dann jedoch seine spekulativen Ausführungen über mögliche Erklärungen für den Sprung in der Entwicklung der Hominiden vor ca. 100.000 bis 60.000 Jahren. Plötzlich tauchten Feuer, Malerei, selbstgebaute Behausungen, Körperschmuck, mehrteilige Werkzeuge und differenzierter Sprachgebrauch bei diesen Frühmenschen auf. Er vermutet einen Zusammenhang zwischen der kulturellen Entwicklung und den Spiegelneuronen. Seine Ausführungen bleiben aber doch jeden relevanten Beweis schuldig, vielmehr wird der Leser mit Vermutungen und Hinweisen auf spätere Erkenntnisse und noch auszuführende Experimente vertröstet.

Dazu tragen auch seine bisweilen sehr laxen Formulierungen und Gedankenexperimente bei, wenn er sich zum Beispiel vorstellt, ein Marsbewohner, der von außen diese Entwicklung der Hominiden beobachtete, würde nur Mutationen als Ursache dieses Sprungs vermuten, während er, Ramachandran, die Spiegelneuronen als den entscheidenden Faktor dieser explosionsartigen Entwicklung ansieht. Ärgerlich sind auch seine Ausführungen, wenn er etwa anlässlich eines Rattenexperiments ein Tier denken lässt: „Donnerwetter, was für ein Rechteck.“ oder in einem anderen Experiment ein Küken sinnieren lässt, „Donnerwetter, was für ein toller Schnabel.“, an diesen Stellen fühlt man sich als interessierter Leser nicht ernst genommen.

Neben diesen sprachlichen Entgleisungen befremden aber noch viel mehr seine Ausführungen darüber, dass man zwar im Moment seine Spekulationen noch nicht beweisen könne, aber es doch interessante Thesen seien, denen man in Zukunft nachgehen müsse. So verfährt er bei vielen Problemen, die von der Neurologie bisher noch nicht hinreichend erklärt werden können. Dabei bedient sich der Autor auch zu häufig der reduktionistischen Methode, was die bekannten Probleme aufwirft, die er zwar sieht, aber doch in Kauf nimmt. Besser spekulieren und die Methode der Reduktion anwenden, als gar nicht zu fragen, führt er an einer Stelle aus. Ganz überzogen, wenn nicht gar abstrus, sind seine Ausführungen zur künstlerischen Entwicklung des Menschen und zur Kunst allgemein. Nun kann man ja Picasso und die abstrakte Kunst allgemein kritisieren, aber dass sich der Autor nach einem dreimonatigen Indienaufenthalt als Kunstsachverständiger und Erklärer der Entstehung der menschlichen Kunst aufspielt, ist einfach lächerlich. Seine neun Gesetze der Ästhetik werden jedenfalls keinen Kunstexperten auch nur annähernd überzeugen. Weder Ramachandrans Ausführungen über die Entstehung des Impressionismus noch zur Ästhetik allgemein sind wissenschaftlich relevant. Auch seine Überlegungen im letzten Kapitel zur Entstehung des Bewusstseins, eines der großen ungelösten Rätsel der Evolution und des menschlichen Geistes, vermögen nicht zu überzeugen, kennt man von anderen Neurologen doch bereits weit überzeugendere Überlegungen.

Kurz gesagt, dieses Buch überzeugt im ersten Teil, wo sich der Autor auf seinem sicheren Forschungsgebiet bewegt und über langjährige Erfahrungen verfügt. Doch die zweite Hälfte des Buches mit seinen spekulativen Thesen enttäuscht doch sehr, vor allem, wenn man den Band mit Ramachandrans vorherigen Publikationen vergleicht. Man kann nur hoffen, dass der Autor wieder zu seiner bewährten sachlichen Schilderung von interessanten neurologischen Phänomenen bei kranken Patienten zurückkehrt und sich in Zukunft weitgehend der Spekulation über neurologische Ursachen, die in der Vorgeschichte des Menschen ihren Anfang nahmen, zurückhält.

Titelbild

Vilayanur S. Ramachandran: Die Frau, die Töne sehen konnte. Über den Zusammenhang von Geist und Gehirn.
Übersetzt aus dem Englischen von Hainer Kober.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2013.
528 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498057947

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