Geistesblitze und Götterfunken

Wissenschaftler und Künstler enthüllen in dem von Ernst Osterkamp und Christoph Markschies herausgegebenen Band „Vademekum der Inspirationsmittel“ das Geheimnis ihrer Kreativität

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den meisten von uns fehlt es an Inspiration. Wir leben in einer inspirationsarmen Zeit. Zumindest wird dies durch die Bilder suggeriert, die den Einband des Buches „Vademekum der Inspirationsmittel“, herausgegeben von Christoph Markschies und Ernst Osterkamp, schmücken: Wir sehen einen Duschkopf, einen altertümlichen Bleistiftspitzer, ein Kehrset und ein Fläschchen Maggi-Würze. Ludwig Börne, einer der witzigsten und originellsten Köpfe Deutschlands und ein großer Demokrat, verstand es aus jedem Menschen einen „Originalschriftsteller“ zu machen. In „Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden“ (1823) schlägt er folgende „Nutzanwendung“ vor: „Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks Kriminalprozeß, vom Jüngsten Gerichte, von euern Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden!“

Was ist aber, wenn einem nichts einfällt? Um hier Abhilfe zu schaffen, präsentieren die Herausgeber des oben genannten Bandes „zur gefälligen Nutzung“ die ,Rezepte‘ von etwa fünfzig Wissenschaftlern und Mitgliedern der Berliner Akademie der Künste und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Von der Anrufung der Muse um die „Gnade der Inspiration“ über die Suche nach Eingebung in der eigenen Seele des Künstlers und sogar in den Abgründen seines Wahnsinns und die nüchterne Reduzierung von Kreativität auf eine „Kombination bestimmter Denkvorgänge“ führt nun der Weg in das Reich der Mittel, aus denen Inspiration geboren wird. Das Geheimnis des großen Künstlers oder Wissenschaftlers, der einen „Aufschwung in Kunst und Wissenschaft“ bewirkt, ist das Geheimnis seines Inspirationsmittels.

Bilderreich und wirkungsvoll beschreiben viele der Autoren die Qual der Einfallslosigkeit und die Panik über die mangelnde Inspiration: Ein „schwarze[r] Deckel“ hat sich auf die Seele gelegt und hat auch „das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen […]: Die ‚Gehirnsubstanz‘ hat sich in Beton verwandelt“ (Ernst Osterkamp). Dementsprechend schaffen es nur robuste Mittel und Materialien, die Inspirationslosigkeit auszuhalten beziehungsweise abzufangen. So schildert Christoph Markschies mit viel Humor und Selbstironie jene dunkelroten, hochwertigen Schweizer Bleistifte aus „jahrhundertealtem Zedernholz“, an denen man in der Not der Inspirationslosigkeit problemlos und unbestraft herumkauen kann. „Schlinge“, „Sackgasse“ und „innere Lähmung“ – dies sind weitere Schlagwörter, mit denen sich der Zustand der Einfallslosigkeit beschreiben lässt. Wie Manfred Pfister zeigt, ist die Suche nach Inspirationsmitteln und nach „Quellen der Inspiration“ samt deren Erproben und Üben ein fester Bestandteil des kreativen Prozesses, wobei dieser Weg „nicht an einer Quelle endet, sondern sich […] in eine Vielzahl von Quellen auflöst“.

So stellt der Band ein breites, fantasievolles und meist amüsant vorgetragenes Spektrum an Hilfsmitteln vor, mit denen deutsche Künstler und Wissenschaftler ihrer Produktivität und Kreativität auf die Sprünge helfen. Darunter sind viele ‚natürliche‘, heimische Mittel wie Almenrausch, Rehmstackerdeich oder Murnau-Landschaft; technische Vorrichtungen wie der bereits erwähnte Bleistiftspitzer oder das Diktiergerät, chemische Substanzen wie LSD und sogar Exotisches wie japanische Brühe, japanisches Bad oder die aufgehende Sonne auf Hawaii. Weniger aufregend, fast banal hören sich dagegen Inspirationsrezepte wie Schokolade, Kochen, Duschen oder Schlafen an. Doch auch in diesen Fällen verbleiben die Autoren nicht in den Niederungen häuslicher Behaglichkeit, sind diese Mittel doch nur ein Sprungbrett zu einem „Höhenflug des menschlichen Geistes“. Schnell verwandelt sich das Duschen in ein „Fließen von Ideen“ (Barbara Stollberg-Rilinger) und das Anspitzen der Bleistifte in ein „Anspitzen der müden Gedanken und matten Einfälle“ (Christoph Markschies). Profan anmutende technische Vorgänge sind der unumgängliche, aber durchaus dankbare Weg in die Inspiration: „Also spitze ich an zur Inspiration. Und werde beim Anspitzen inspiriert.“

Ist der Kreativprozess erst einmal in Gang gesetzt, dann „schäumen“ die Ideen wie Champagner (Etienne François) und ein Rhythmus stellt sich ein. Peter von Matt bringt es auf den Punkt: „Die Inspiration ist die Zündung, der Schreibzustand die große Fahrt.“ Die „Seele [des] Bauches“ öffnet sich und gibt ihre Schätze frei (Jutta Brückner). In der „Wunderkammer“ des Schaffenden, in dem „außerirdische[n] Spiel des Lichts“ erlebt dieser „wundersame Dinge“ – vor allem begegnet er seinem „anderem Ich“ (Gerd Gigerenzer). Erinnerungen, Sinneseindrücke tauchen auf, Bauch, Kopf und Finger schließen sich zusammen, kein Körperteil rebelliert gegen den anderen, man „wächst zu sich und über sich hinaus“ (Irmela Hijiya-Kirschnereit), man fliegt „in Ketten von Assoziationen“ und auf den Flügeln seiner Fantasie auf und davon (Heinz Duddeck).

Und doch lassen die Autoren dieses Buches in ihren Selbstdarstellungen die Idee der schöpferischen Allharmonie und des göttlichen Funkens hinter sich. Zum einen machen sie auch auf jene Texte aufmerksam, die man „Gebrauchsware“ nennt, und differenzieren deutlich zwischen Kreativität und Handwerk. Wissenschaftsskepsis und -kritik ziehen sich durch mehrere Beiträge und zeigen, dass das Korsett administrativer Pflichten der Kreativität abträglich ist, so etwa Julian Nida-Rümelin: „Als günstig für das Abfassen philosophischer Texte hat sich eine größere mentale und lokale Distanz zu administrativen Pflichten erwiesen.“

Zum anderen weigern sich die Autoren, als „Inspirierte“ und „Auserwählte“ zu gelten: „Das Wort Inspiration ist mir etwas zu gewichtig und vielleicht auch zu religiös, es maßt sich eine Größe an, die mir unbehaglich ist, und das Pneumatologische kommt mir windig (anemos) vor, es paßt doch besser zu (großen) Künstlern und Predigern als zu (normalen) Wissenschaftlern“ (Jürgen Trabant). Das Vertrauen in „die göttliche Sendung von Wort und Ton“ (Norbert Miller) ist unwiederbringlich erschüttert, auch wenn die Sehnsucht danach, ein Hauch von Geheimnis und leise Andacht geblieben sind. Und nicht zuletzt haben auch Ideen eine hohe „Säuglingssterblichkeit“, denn „nur wenige Ideen überleben den ersten Tag ihrer Existenz“ (Anton Zeilinger). Aus der elegischen Stimmung solcher Verlusterfahrungen – obwohl sie einem Trauma wenig ähneln und traumatische Erfahrungen im Band überhaupt nirgends als eine potentielle Quelle von Inspiration betrachtet werden – führt aber die Erkenntnis heraus, die Hans-Jörg Rheinberger gegen Ende des Bandes formuliert: „Man schreibt ja nicht auf etwas zu, sondern von etwas weg; man stößt sich ab. Das ist die Herausforderung, aber auch der Reiz des Schreibens und insofern ist es dem Experiment vergleichbar.“ Entbunden von der Bürde göttlichen Beistands steuern so Wissenschaftler und Künstler einen „offenen Horizont“ und die Freiheit an.

Titelbild

Ernst Osterkamp / Christoph Markschies (Hg.): Vademekum der Inspirationsmittel.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
136 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312319

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