Der Höllengestank des Wirtschaftswunders

Michael Rutschky rekonstruiert den Anfang der Bundesrepublik in einer „Vatergeschichte“

Von Stefana SabinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefana Sabin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es stank gefährlich in Bettenhausen… Es waren die Abgase von Schwefelwasserstoff und Schwefelkohlenstoff, die bei der Produktion von Zellwolle frei werden.“ Mit der Beschreibung dieses Höllengestanks, den die Spinnfaserfabrik in Kassel-Bettenhausen verursachte, beginnen die spärlichen Notizen in den Jahreskalendern des Vaters – und aus diesen Notizen destilliert der Sohn, der als Erzähler fungiert, die wirtschaftliche Rekonvaleszenz und die endgültige Genesung der gerade entstandenen Bundesrepublik. Diese Kalender, „eine Sammlung kleiner Bücher ungefähr gleichen Formats“, findet der Sohn im Geheimfach des großen Biedermeier-Schreibsekretärs nach dem Tod des Vaters, und zusammen mit Kalendern der Mutter und mit eigenen Notizen bieten sie ihm den Grundstoff zu einer „Vatergeschichte“, die eine kleine Alltagsgeschichte des (west)deutschen Wirtschaftswunders ist.

Denn der Vater, der namenlos bleibt und durchgehend nur diesen generischen Titel führt, ist Wirtschaftsprüfer und bereist die Republik, um bei den wiederauferstandenen Firmen „die Bücher zu prüfen“. So erlebt er den wirtschaftlichen Neuanfang aus der Perspektive des kleinen Angestellten und die banalen Details über seine Reisen, seinen Arbeitsalltag und seine Spesen geben Auskunft über die Verfestigung des Kapitalismus und des Konsumismus.

Schon 1951, so beginnt die Geschichte, die Michael Rutschkys in langsamen Schleifen erzählt, hatte die Kasselaner Spinnfaserfabrik – und wie sie viele andere Firmen auch – das Vorkriegsniveau wiedererreicht, und der gesellschaftliche Alltag war in gesicherte Bahnen zurückgekehrt. Rutschky kann das Wirtschaftswunder Jahr für Jahr an neuen Details festmachen: ab 1954 ersetzen Kalender als Werbegeschenke die bis dahin gekauften Kalender des Vaters; 1955 wird auf Raten ein Kühlschrank gekauft; 1956 gibt es Urlaubstage am Edersee und 1957 eine Kur in Bad Orb; 1960 nimmt der Sohn an einem Schüleraustausch teil und fährt nach England; 1962 verdeutlichen die auf dem Werbekalender aufgedruckten Firmennummern – „Landesfernwahl, Ortsruf, Fernruf, Nachtruf, Fernschreiber, Drahtwort“ – die neue „Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft“.

Die Notizen des Vaters werden unterfüttert mit Kurzgeschichten der Firmen, deren Bücher er prüft („Das verfluchte deutsche Kapital, mit dem Vater immer wieder in Berührung kam.“), mit Hinweisen auf weltgeschichtliche Ereignisse und deren Reflexe in den Gesprächen am Abendbrottisch (Adenauers Wiederwahl, Kennedys Ermordung) und mit literarischen Zitaten von Heidegger, Benjamin, Camus und immer wieder Thomas Mann, dem Lieblingsautor der Mutter. Dazu kommen eigene Kommentare des Erzählers, der mit gelassener (Selbst-)Ironie psychoanalytische und soziologische Deutungsmöglichkeiten scheinbar banaler Episoden aus dem Familienleben bietet und all diese Textsegmente mit erzählerischer Fantasie zu einer „Vatergeschichte“ verbindet, wie er sie als Untertitel vorgibt.

Tatsächlich ist Rutschkys Roman ebenso eine Vater- wie eine Sohngeschichte, denn er erzählt auch den sozialen und intellektuellen Aufstieg eines Jungen aus dem kleinstädtischen Angestelltenmilieu, der in großstädtische literarische Kreise gelangt. Vor allem aber ist dieser Roman ein Sozialgemälde der jungen Bundesrepublik, das gerade in seiner Sparsamkeit große Suggestiv- und Überzeugungskraft entfaltet.

Titelbild

Michael Rutschky: Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
274 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422656

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