Lyrisches Erstlesen

Oder: Wie man verstehen lernt, was man nicht versteht

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

An den zweiten Gedichtband, den ich mir kaufte, kann ich mich noch gut erinnern – schon weil mein Taschengeld, das ich für die tägliche Coca Cola und gelegentlich für einen neuen Fußball brauchte, dafür gar nicht vorgesehen war. Aber ich hatte von dem Buch so viel gehört, dass ich es haben wollte. Es war Bertolt Brechts „Hauspostille“, erschienen im Mai 1969 als rororo-Taschenbuch. Wie alle Bände der Reihe damals war es weiß. Auf dem Umschlag standen, neben dem schlichten Signet weiß auf schwarz, nur die drei Wörter: „Bertolt Brechts Hauspostille“, schwarz auf weiß. Durch die Trennung des letzten Wortes waren sie über vier Zeilen verteilt. In die drei großen, frakturartig verschnörkelten Anfangsbuchstaben war jeweils ein Foto des jungen B.B. montiert, das erste rot, das zweite blau, das dritte gelb-grau eingefärbt. Den Band besitze ich noch. Er ist, von zwei Anstreichungen abgesehen, unversehrt.

Als ich ihn las, verstand ich nicht viel. Religiös erzogen, waren mir Ausdrücke wie Bittgesänge, Exerzitien und Choral vertraut. Ich musste aber nicht bis zum letzten Gedicht vordringen, um zu begreifen, dass der Autor alles anders meinte als meine Religionslehrer. Offenbar benutzte er geistliche Formen, um Gott oder die Kirche zu verhöhnen. Das erkannte ich, und ich kann nicht sagen, dass ich schockiert war. Man war das 1969 schon gewohnt.

Was ich nicht verstand, waren einfache Worte und Sätze. „Von der Freundlichkeit der Welt“: War das ironisch gemeint? „Vom Klettern in Bäumen“ glaubte ich etwas zu verstehen. Aber was sollte heißen: „Ihr sollt dem Baum so wie ein Wipfel sein:/ Seit hundert Jahren abends: er wiegt ihn“? Fast genauso rätselhaft endete „Vom Schwimmen in Flüssen“, mit dem ich gar keine Erfahrung hatte: „Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut/ Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt“. Glaubte dieser Dichter nun an Gott oder nicht? Nur die vier mal vier Verse des vorletzten Gedichts „Gegen Verführung“ begriff ich alle. „Das Leben wenig ist“ und „Ihr sterbt mit allen Tieren/ Und es kommt nichts nachher“: Das, dachte ich, kann stimmen.

Mir erging es mit diesem schmalen Buch also wie manchem Leser, wenn er zu Gedichten greift: Sie schienen mir mehr oder weniger unverständlich. An einigen Wendungen rätselte ich eine Weile herum, ohne viel weiter zu kommen. Nach einiger Zeit musste ich mir eingestehen, dass ich nicht recht wusste, was der Dichter sagen wollte. Allerdings vermutete ich, dass er gar nicht zu jemandem wie mir gesprochen hatte.

Viele Lese-Laufbahnen gehen mit einer solchen Erfahrung zu Ende, bevor sie richtig begonnen haben. In meinem Fall war es nicht so. Denn ich konnte mich noch gut an den ersten Gedichtband erinnern, den ich mir, im selben Jahr, gekauft hatte: Erich Kästners „Herz auf Taille“. Mit einem Vorwort des Autors und mit Zeichnungen von Erich Oser war er 1965 im Cecilie Dressler Verlag Berlin gleichfalls als Taschenbuch neu erschienen. Auch dieses Buch besitze ich noch. Es ist ähnlich unversehrt wie das andere und vermutlich noch häufiger gelesen worden.

Im Nachhinein fällt mir an dem gleichfalls schlichten Umschlag auf, dass der Buchtitel, in ein blau-weißes Herz gestellt, in Sütterlin-Schrift gesetzt ist. Die muss damals noch als lesbar gegolten haben. Der Name des Autors am oberen und der Untertitel und die Verlagsangabe am unteren Rand sind jeweils kirschlikörrot unterlegt. Obwohl ich noch nicht wusste, ob es das gibt, erschienen mir die Farben ironisch. So wie das ganze Buch. Seine sexuelle Frechheit, seine politische Nüchternheit, seine satirische Pointiertheit waren gleich im ersten Gedicht da: „Wir haben die Frauen zu Bett gebracht,/ als die Männer in Frankreich standen./ Wir hatten uns das viel schöner gedacht./ Wir waren nur Konfirmanden.“ Ich war immerhin schon gefirmt, als ich diese Verse las, und ich glaubte sie sofort, die Selbstironie inbegriffen, zu verstehen. So wie das ganze Buch.

Ich zog aus dieser Lektüre den einfachen Schluss, dass man Gedichte durchaus verstehen kann. Allerdings bewährte sich diese Einsicht nun, kaum gewonnen, schon am zweiten Buch nicht, und ich versuchte herauszufinden, warum das so war. In Kästners Vorwort stieß ich auf die Sätze: „Gedichte altern anders als wir. Wir werden älter, indem wir uns von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr verändern. Gedichte altern, ohne daß ihnen auch nur ein Haar ausfällt. Sie sehen aus wie ehedem.“ Brechts Gedichtband war 1927, Kästners 1928 erschienen; beide waren gut 40 Jahre alt, als ich sie, fünfzehnjährig, las. Sie schienen mir durchaus gealtert. Nicht nur den Umschlag von Kästners Buch, auch die Illustrationen von Erich Oser, den ich als Zeichner von „Vater und Sohn“ kannte, umgabt ein gewisses Altersgrau, ebenso wie manche Formulierungen von Brecht. Dessen Buch wirkte äußerlich frischer als das Kästners, das dennoch jünger und mir verständlicher war.

Aus diesen verwickelten Verhältnissen zog ich einen zweiten Schluss: dass man für manche Bücher, wenn man sie zuerst liest, zu jung ist – einerlei wie alt sie sind. Man muss warten, bis man so alt oder so erfahren ist, wie sie es verlangen. Das kann fünfzehn oder vierzig Jahre dauern. Es kann aber auch schneller gehen, vor allem wenn man viel liest und daraus lernt. Schön ist es, wenn man dabei Hilfe erfährt und kundig belehrt wird, und sei es spät. Das wurde mir bei dem Gedicht „Von der Freundlichkeit der Welt“, 24 Jahre nach der Erstlektüre, von Thomas Anz zuteil. Auch als ich Therese Giehse „Vom Schwimmen in Flüssen“ vortragen hörte, glaubte ich ein Stück weiter zu sein. Irgendwann versteht man, was man nicht verstand.

Kästners Gedichtband fesselte mich so, dass ich im folgenden Frühjahr die achtbändige Ausgabe seiner „Gesammelten Werke für Erwachsene“ erwarb. Sein etwas starkes Grasgrün leuchtet noch heute in meinem Regal. Für den Erwerb dieser Ausgabe musste ich zwei Wochen in einer Wäscherei als Packer arbeiten, was für die Wäscherei der größere Verlust war. Mit der Anschaffung einer Brecht-Ausgabe zögerte ich dagegen noch lange. Aber was mir von ihm in die Hände fiel, las ich mit erhöhter Aufmerksamkeit – nicht nur für seine Worte, sondern auch für Zeichen eines vorgerückten, altersentsprechenden Verständnisses bei mir. Das glaubte ich irgendwann erreicht zu haben. Daraus zog ich dann den dritten Schluss: dass meine beiden ersten Schlussfolgerungen richtig gewesen waren.

Literaturhinweise

Bertolt Brechts Hauspostille. o.O. (Reinbek bei Hamburg): rororo 1969.

Erich Kästner: Herz auf Taille. Mit einem Vorwort des Autors und mit Zeichnungen von Erich Oser. Berlin: Cecilie Dressler Verlag o.J. (1965).

Thomas Anz: Der Tod – kein Thema mehr (zu Bertolt Brecht: „Von der Freundlichkeit der Welt“). In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie 7. Gedichte und Interpretationen. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1983, S. 191-194.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Signet von Simone Frieling.