Familienbande

In David Vanns neuem Roman „Dreck“ wird aus einem Mutter-Sohn-Konflikt ein archaischer Überlebenskampf

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dreck“ ist der dritte auf Deutsch erschienene Roman eines der Shootingstars der neueren amerikanischen Literatur. Wie seine beiden Vorgänger – „Im Schatten des Vaters“ (Suhrkamp 2011) und „Die Unermesslichkeit“ (Suhrkamp 2012) – entwickelt er aus einem Familienkonflikt heraus eine abgründige Geschichte, die mit geradezu biblischer Wucht die Grenzen menschlicher Freiheit auslotet und in einem bis zum tödlichen Ende geführten Kampf zwischen einem erwachsenen Sohn und seiner Mutter die Frage aufwirft, ob man seiner Herkunft entkommen kann oder die Fehler der Vorfahren auf ewig zu wiederholen gezwungen ist.

Galen Schumacher ist 22 Jahre alt und lebt immer noch zu Hause bei seiner Mutter. Die betreibt eine kleine Walnussplantage in einem Vorort der kalifornischen Stadt Sacramento. Vom deutschen Großvater, einem inzwischen verstorbenen Architekten, besitzen dessen fünf Nachkommen ein Vermögen, das seine jüngere Tochter, Galens Mutter Suzie-Q, treuhänderisch verwaltet. Die entgegen allen anderen Verlautbarungen offenbar beträchtliche Summe, um die zwischen Suzie-Q und ihrer Schwester Helen immer wieder Streit ausbricht, dient zur Bestreitung der laufenden Kosten für das heruntergekommene Anwesen, die Unterbringung von Galens demenzgefährdeter Großmutter in einem Heim sowie die College-Ausbildung für ihn und seine 17-jährige Cousine Jennifer.

Allein während sie das Geld für ihre Nichte immer pünktlich überweist, vertröstet Galens Mutter den eigenen Sohn von einem Jahr auf das nächste mit dem immer wieder gleich lautenden Hinweis auf knappe finanzielle Ressourcen. Galen freilich sieht sich zunehmend in der Rolle des Gefangenen einer Frau, die ihn, der seinen Vater nie kennen lernen durfte, „zu einer Art Ehemann gemacht“ hat, und beginnt, gegen ein Schicksal zu rebellieren, welches ihn für immer an diese Frau binden will.

Mit dieser Exposition sind alle Voraussetzungen geschaffen, das ohnehin gestörte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn nach einem letzten gemeinsamen und im totalen Zerwürfnis endenden Familienausflug eskalieren zu lassen. Indem er seine Mutter ohne Nahrungsmittel und Wasser in einen Schuppen einsperrt, will Galen anfänglich nur verhindern, dass sie ihren Sohn, nachdem sie ihn bei Sexspielen mit seiner minderjährigen Cousine ertappt hat, an die Polizei verrät. Bald aber geht es um wesentlich mehr als eine Drohung, mit der die Frau ihre Macht über den Sohn zu zementieren gedenkt. Denn aus dem Streit wird ein Kampf auf Leben und Tod, eine Auseinandersetzung, in der beide Seiten nach und nach alles Menschlich-Zivilisatorische einbüßen.

Man kann „Dreck“ als eine Horrorgeschichte lesen, in der zwei Menschen in dem Bestreben, sich gegenseitig zu vernichten, nach und nach zu Tieren werden, die mit allen Mitteln gegen den anderen und um das eigene Überleben kämpfen. Angelegt in der Geschichte der Schumachers, die der Leser aus den Gesprächen der beiden Töchter mit ihrer Mutter rekonstruieren kann, ist allerdings auch eine Genealogie der Gewalt, die mit dem Großvater begann, der seine Frau wie die ältere Tochter Helen regelmäßig schlug, während er das Nesthäkchen Suzie-Q in Ruhe ließ, und die nun in Galen – nach vielen fehlschlagenden spirituellen Ausbruchsversuchen des jungen Mannes – eskaliert.

Imponierend ist erneut die sprachliche Intensität, mit der David Vann erzählt. Da tut sich nach und nach vor den Augen des Lesers ein Abgrund auf, aus dem es kein Entrinnen gibt. Aus falsch verstandener Liebe und der illusionären Sehnsucht nach paradiesischer Zweisamkeit werden Hass und der Rückfall in archaische Verhaltensweisen, die die unversöhnlich miteinander ringenden Hauptfiguren Vanns immer tiefer hineinziehen in den Dreck, aus dem sich die Menschheit einst erhob.

Nachdem sowohl die tragisch endende Vater-Sohn-Geschichte, die David Vann in seinem autobiografisch inspirierten Debütroman „Im Schatten des Vaters“ erzählt hat, als auch der Eheroman „Die Unermesslischkeit“ in Alaska spielten, hat der Autor seinen aktuellen Roman in einer anderen Klimazone angesiedelt. Die Geschichte um den Kampf zwischen einer besitzergreifenden Mutter und ihrem um Loslösung aus dem als unnatürlich empfundenen Verhältnis ringenden Sohn spielt unter der heißen Sonne Kaliforniens. Das macht durchaus Sinn, denn während es in Vanns ersten beiden Romanen um die Seelenkälte zwischen deren Protagonisten ging, haben wir es in „Dreck“ mit der Überhitzung einer familiären Beziehung zu tun, die in die Katastrophe mündet. Ströme von Schweiß werden auf dem Weg dorthin vergossen – und irgendwann nach seiner gewaltsamen Abnabelung tanzt der junge Mann nackt auf den Trümmern seiner Existenz.

Titelbild

David Vann: Dreck. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
300 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423677

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