Weiter denken

Ein Sammelband über Liminale Anthropologien in Literatur und Philosophie handelt vom Ausloten der Grenzzone zwischen Mensch, Zeit und Raum

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Jochen Achilles, Roland Borgards und Brigitte Burrichter herausgegebene Sammelband mit dem Titel „Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie“ ist aus einer Tagung und einer Vortragsreihe hervorgegangen, die 2010 an der Universität Würzburg stattgefunden haben. Neben dem Vorwort der Herausgeber und einer Forschungsfeldskizze zum Bereich der liminalen Anthropologien von Roland Borgards versammelt das Kompendium sechzehn Beiträge, die sich mit Grenz- und Übergangszonen des Menschlichen in Kunst und Philosophie befassen. Der Terminus der Liminalität wird an dieser Stelle als ein Relationsbegriff verstanden, der mit dem Denken von Grenzen eng verbunden ist, wobei diese nicht als scharfe Linien definiert werden dürfen, sondern durch und mit Grenzen eine konkrete Zone erschaffen wird, die auch als Schwelle oder Übergang gefasst werden kann. Die Leitfrage der hier versammelten Untersuchungen richtet sich darauf, wie Liminalität gedacht und dargestellt werden kann, wobei die historische Zeitspanne der Forschungsgegenstände einen weiten Bogen von der Frühen Neuzeit über die Aufklärung und Moderne bis hin zur Postmoderne spannt.

Die einleitenden Überlegungen von Roland Borgards formulieren thematisch entsprechend ein Kompendium von Fragen, die sich ergeben, sobald über das Verhältnis von Grenze und Norm, den Prozess der Grenzziehung und die jeweiligen Eigenarten eines transgressiven Grenzraumes nachgedacht wird. Dabei weist Borgards unter anderem schon voraus auf die „kulturkonstitutive Funktion der Grenzwesen“ – wie etwa Parasiten, Monster, Vampire, Tiermenschen, und vieles mehr –, und entwickelt im Anschluss drei zentrale Fragestellungen, die für die Arbeit am Begriff der liminalen Anthropologie richtungsweisend erscheinen: Dies ist zunächst der Aspekt der liminalen Handlungen – wobei Borgards auf van Genneps ‚Übergangsriten‘ ebenso verweist wie auf die liminalen Handlungen des Reisens, aber auch des Tötens –, um daran anschließend den Blick auf das Umfeld zu richten, in dem liminale Handlungen stattfinden, da dieses für das Verständnis der genannten Taten einen unerlässlichen Bezugsrahmen bildet. Damit schließt Borgards an die aus der Forschung hervorgegangenen Ergebnisse literatur- und kulturwissenschaftlicher Raumtheorie an, bleibt jedoch mit seinen Überlegungen stets einem Denken des Liminalen verhaftet, so dass der Raum als Untersuchungsgegenstand hier folgerichtig immer im Verhältnis zu seinen Grenzziehungen betrachtet wird.

Es darf also vorweg genommen werden, dass die jüngsten wissenschaftlichen Arbeiten zum Raum, seinen Ausdehnungen und Übergängen, so kündigt es Borgards Einführung schon an, von den Beiträgern weiter vorangetrieben und entwickelt werden, wodurch der Band in Gänze einen wichtigen Beitrag zum Denken an und auf der Schwelle leistet.

Doch zurück zum inhaltlichen Programm: Borgards rückt zweitens die Frage nach den liminalen Figuren des Menschlichen in den Fokus, da (in äußerster Kürze) Folgendes für die liminale Anthropologie gelte: „Der Mensch ist dort bei sich, wo er außer sich gerät.“ Zum Dritten erscheinen die spezifischen Genres von Interesse, die sich als möglicherweise konstitutiv für die Darstellung liminaler Phänomene herausstellen, wie etwa die Fantastische Literatur oder auch die Kinder- und Jugendliteratur, die nicht zuletzt bei ihren Rezipienten liminale Erfahrungen evozieren, so dass auch nach der Wirkungsästhetik des Liminalen gefragt werden sollte.

An diese überaus gelungene Skizzierung des Forschungsfeldes, die sich dadurch auszeichnet, ebenso erhellend wie kompakt auf die zentralen Punkte und Problemstellungen einer liminalen Anthropologie hinzuweisen, schließen Einzelbeiträge zu folgenden Themen an: Fremdheitsschwellen, liminale Anthropologie bei Lévi-Strauss, anamorphotisches Erzählen in den „Comentarios reales“ des Inka Garcilaso de la Vega, die Dämmerung als Grenzerfahrung in Claudius’ „Abendlied“ und Eichendorffs „Zwielicht“, die Vampirdebatte des 18. Jahrhunderts und Goethes „Die Braut von Corinth“, Menschenwissen und Mythologie im Zeitalter der Aufklärung, Liminale Zoologie im Zeichen des Proteus bei Goethe und Büchner, liminale und heterotope Strukturen amerikanischer Erzählliteratur, die ‚Free People of Color‘ und das französische Theater in New Orleans, Frantz Fanon und James Weldon Johnson’s „The Autobiography of an Ex-Coloured Man“, Schwellenerfahrungen in Kafkas „Der Verschollene“, die vielgestaltige Metapher des Halbschlafs in Prousts „Recherche“, Aragons „Le Passage de l’Opéra“, der Friedhof als Ort des Liminalen in „Ulysses“, Überlegungen zu einer Anthropologie der Entgrenzung im Science-Fiction-Genre sowie abschließend zu Science-Fiction und Posthumanismus.

Um die Vielfalt der Zusammenstellung zu veranschaulichen, für die eine deutlichere Einteilung in thematische Sektionen im Sinne der – auch inhaltlichen – Übersicht wünschenswert gewesen wäre, sollen zwei Arbeiten etwas näher vorgestellt werden: Den Anfang macht Juliane Braun mit ihrem Aufsatz über die Theatertradition der ‚Free People of Color‘ im 19. Jahrhundert in New Orleans, wobei Braun folgende These verfolgt: „Ultimately, I argue that New Orleans’s free people of color developed a distinct theatrical tradition that reflected as well as complicated the specific contours of their liminal position within the city.“ Nachdem die Autorin eine kurze Chronologie der Theatergeschichte der freien Schwarzen in New Orleans rekonstruiert, beschäftigt sie sich eingehend mit den auf jenen Bühnen dargestellten Stücken und deren Inhalten. Dabei spielt immer wieder die arrangierte Ehe zwischen Personen unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen und Herkunft eine Rolle, die so genannte Plaçage, die eine nahezu irreversible soziale Grenzüberschreitung darstellt: „Through entering a plaçage arrangement with a white man, a young black woman transgressed the boundaries of her community, and became unavailable to the men of her own race. The practice of plaçage thus established black women in a position where they belonged ‚neither here nor there‘ and deprived free black men of their sisters, daughters or potential wives.“ Die Grenzüberschreitung der arrangierten Ehe wird formal aufgenommen in den theatralen Adaptionen des Themas, so dass sowohl die historische Tatsache, als auch die künstlerische Verarbeitung der Plaçage einen Aspekt des liminal anthropologischen Spektrums vertritt.

Norbert Lennartz setzt mit seiner Arbeit zum Friedhof als Ort des Liminalen, den er anhand der Friedhofsepisode in James Joyce „Ulysses“ untersucht, hingegen dort an, wo sich Heterotopie und liminale Schwellenposition in Reinkultur begegnen. Dabei liest Lennartz die Friedhofsgeschehnisse im „Ulysses“ als „in vielerlei Hinsicht Shakespeares Hamlet verpflichtet“, da Leopold Bloom „alle Ordnungskategorien und binären Oppositionen wie oben-unten, liminal-zentral oder tot-lebendig einer radikalen Dekonstruktion unterzieht“. Denn Joyce, so der Verfasser, gestalte seine Unterweltepisode als eine „erotisch nekrophile […] Walpurgisnacht“, die eine seltsame Nähe zum Bordell offenbart und der Zerfall des Fleisches nicht mit dem Vergehen, sondern mit Fruchtbarkeit assoziiert werde. Die zuvor bestehende strikte Trennung von lebendig und tot, Stadt der Toten und Stadt der Lebenden wird somit von Joyce aufgehoben, wie Lennartz überzeugend nachweist. Stattdessen vollzieht sich in „Ulysses“ mit Leopold Bloom ein unaufhörlicher Grenzgang und Seitenwechsel zwischen den binären sozialen Strukturen und innerstädtischen Topografien Dublins. Joyce zeigt damit, dass sich mit der Moderne nicht nur die narrativen Strukturen des romanhaften Erzählens transformiert haben, sondern auch die Metaphern nunmehr losgeschriebener Topografien wie dem Friedhof, die in ihrem Verhältnis zum anderen der Stadt neu entworfen werden.

Was Norbert Lennartz für die Arbeit am „Ulysses“ leistet, lässt sich auf den gesamten Sammelband übertragen: Die ‚liminalen Anthropologien‘ werden darin nicht nur an stichhaltigen Fallbeispielen diskutiert, sondern durch die konsequente Thematisierung von Fragen und Problemstellungen zu den Begriffen der Grenze und des Übergangs wird der Weg zu einem Forschungsfeld ausgeweitet, das nicht zuletzt neue Perspektiven auf mannigfaltige Räume des Dazwischen anbietet. Der Band soll damit besonders all jenen empfohlen werden, die sich literatur- und kulturwissenschaftlich mit Fragen des Raumes beschäftigen, wobei zuvorderst die vorgestellte Forschungsskizze von Roland Borgards kontextuell als Einladung zum – im Wortsinne – Weiterdenken verstanden werden darf.

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Roland Borgards / Jochen Achilles / Brigitte Burrichter (Hg.): Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
319 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826050367

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