„… damals war alles so schön“

In seinem zweiten Roman erzählt Wilhelm Bartsch vom Erwachsenwerden in der DDR, ersten Liebesabenteuern und dem Kindermörder Erwin Hagedorn

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Mai 1969 ermordete der damals 17-jährige Hans Erwin Hagedorn in einem Eberswalder Waldstück zwei neunjährige Schüler. An gleicher Stelle fiel dem als Kochlehrling in einer Bahnhofsküche Beschäftigten zweieinhalb Jahre später ein zwölfjähriger Junge zum Opfer. Eine intensive Fahndung nach dem Täter führte im November 1971 zum Erfolg. Im Mai 1972 verurteilte der 1. Senat des Bezirksgerichts Frankfurt/ Oder den geständigen Hagedorn zum Tode. Durch einen Nahschuss in den Hinterkopf wurde der Täter am 15. September 1972 in Leipzig hingerichtet. Es war die letzte Vollstreckung einer Todesstrafe an einem Zivilisten in der DDR.

In Wilhelm Bartschs neuem, dem zweiten Roman des als kraftvoller Lyriker bekannt gewordenen Autors taucht Erwin Hagedorn, sein Jugendkamerad, gleich am Anfang auf. Er geht mit dem jüngeren Bruder des Bartsch-Alter-Egos Franz Florschütz in eine Klasse. Trifft sich die vielköpfige Familie Florschütz mit Freunden zu einem gemütlichen Abend vor dem Fernseher, ist Hagedorn dabei. Mit dem Ich-Erzähler und angehenden Lyriker Franz wetteifert der spätere Mörder im Gedichtemachen, muss freilich immer wieder den leichten Spott des zwei Jahre Älteren ertragen. Später tritt er als Laienschauspieler auf. In der Familie ist er wohlgelitten. Nur Franz’ Großvater hat kein gutes Gefühl, wenn Hagedorn zu Besuch ist:

„… aber der Knabe hat anscheinend kein richtiges Herz. Er hat eher irgendeine Pumpe in sich, und zwar eine für schale Himbeerbrause und nicht für Blut. So einer wie Erwin hockt mit fünfzig noch bei Muttern in der Küche auf der Kohlenkiste und mäkelt rum. Wenn er nicht vorher noch was Schreckliches angestellt hat.“

„Das bisschen Zeug zur Ewigkeit“ spielt in Eberswalde in den 1960er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Die mittelgroße Stadt im Nordosten des Landes Brandenburg entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem bedeutenden Industrie- und Agrarstandort in der DDR. Zum tagtäglichen Straßenbild bis zu ihrem endgültigen Abzug 1994 gehörten die Angehörigen der hier stationierten sowjetischen Streitkräfte, „weil in dieser Stadt 50.000 DDR-Bürger lebten, aber 100.000 sowjetische Freunde“.

Für Franz Florschütz, Bartschs zu Beginn des Romans 14-jährigen Helden, ist Eberswalde vor allem die „Stadt der Schlagersängerinnen, Russen und Klapsmüller“. Auf ihren Straßen und Plätzen sowie in den umliegenden Wäldern, durchschnitten von künstlichen Wasserstraßen, kennt er sich aus. Seine Schulkameraden schätzen ihn als emsigen Händler mit westlichen Groschenheften, eine illegale Aktivität, in die er auch Freund Hagedorn und zwei von dessen späteren Opfern mit einbezogen hat. Zunehmend interessieren ihn freilich Mädchen und Literatur. Lässt sich gar beides noch miteinander verbinden wie bei der O-Bus-Schaffnerin Karine, der er mit an François Villon geschulten Versen auf die Pelle rückt, während sie in Victor Klemperers „LTI“ liest, ist das Glück vollkommen.

Wilhelm Bartschs Roman erzählt vom Erwachsenwerden. Von den Auseinandersetzungen mit Eltern und Lehrern, dem Verlust der Großeltern, ersten Liebeserfahrungen samt den dabei natürlich nicht zu vermeidenden Enttäuschungen und – ganz nebenbei – auch vom alltäglichen Leben in einem Land, das vor mehr als 20 Jahren zu existieren aufhörte. Der Leser erfährt, wie Familien in Ekstase geraten konnten, wenn in der beliebten DDR-Fernsehsendung „Da lacht der Bär“ der Weststar Trude Herr mit der Behauptung „Ich will keine Schokolade“ auftrat. Grau bemäntelte und behütete Gestalten erscheinen plötzlich in der Schule, um Bartschs Helden für ihre geheimdienstlichen Zwecke einzuspannen – allein durch geschicktes Dekonspirieren entgeht er einem Schicksal als Stasizuträger. Der Autor erinnert an die vielen Spießigkeiten in dieser „noch nicht so recht sozialistisch sein wollenden Welt“ und konterkariert deren beklemmende Enge und Borniertheit mit fantasievoll-wilden Ausbruchsfantasien.

Vor allem seine erwachende Sexualität ist es, die Franz Florschütz davor bewahrt, an der Atmosphäre in dem Land, in welches der Zufall des Lebens ihn verschlagen hat, zu ersticken. Während „die meisten erwachsenen Leute… schon wieder sehr gut langweilig nacherzählen“ konnten, was die sozialistische Obrigkeit ihnen einflüsterte, lässt Bartsch seinen Protagonisten in zehn Kapiteln locker und freizügig von seinen Abenteuern und Abwegen auf der Jagd nach dem Glück der Liebe berichten. Dass Letzteres nie vollkommen ist und immer auch ein bisschen von seinem Gegenteil enthält, dürfte eine Erkenntnis sein, die Heranwachsende zu allen Zeiten, in Ost wie West, Süd wie Nord machen konnten und können.

„Damals war alles so schön!“, sang in jenen Tagen die DDR-Schlagerblondine Bärbel Wachholz. Wilhelm Bartschs Roman „Das bisschen Zeug zur Ewigkeit“ kommt freilich nicht als eine Verklärung der Jahre daher, in denen im östlichen Teil Deutschland an einer Gesellschaftsordnung gebastelt wurde, in die sich die einfachen Menschen dann nicht so leicht einfügen ließen wie vorgesehen. Im Glück für die Masse findet sich das Glück des Einzelnen leider selten wieder. Aber es war da – neben all dem Dunklen, für das in diesem Roman ein Triebtäter steht, den es nach dem offiziellen Selbstverständnis der DDR eigentlich gar nicht hätte geben dürfen – und Bartsch feiert es als das, was jenseits aller Ideologien und Zumutungen der Welt an einen Menschen bleibt in dessen Erinnerungen: „Und ich, ich habe noch den OKEAN 505, die Kofferheule mit Schwenkarm in Sowjetuniongelb und die eine blaue, eiernde Plastinka. Sie flüstert, sie krächzt. Sie macht vielleicht noch eine halbe Minute? So sieht das bisschen Zeug zur Ewigkeit aus. So steht das in Dantes Sternen. I can’t stop loving it.“

Titelbild

Wilhelm Bartsch: Das bisschen Zeug zur Ewigkeit. Roman.
Osburg Verlag, Berlin 2013.
216 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783955100032

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