Der aufrechte Gang als Alleinstellungsmerkmal des Menschen

Der Münsteraner Philosoph Kurt Bayertz legt eine Geschichte des anthropologischen Denkens vor

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sehr viele Wissenschaftler gibt es wohl nicht, die das Glück genießen, im „Spiegel“ expressis verbis als Geistesgröße bezeichnet zu werden, und nicht viele Bücher werden schon Jahre vor ihrem Erscheinen im selben Blatt groß angekündigt. 2007 widerfuhr diese doppelte Ehre dem Münsteraner Philosophieprofessor Kurt Bayertz, dessen Buch über die Ausdeutung des aufrechten Gangs erst fünf Jahre später erschien. Es ist eine ebenso unterhaltsame wie belehrende Geschichte nicht allein der philosophischen Anthropologie geworden. In ihr begegnet der Leser in vier Kapiteln einer erstaunlichen Fülle von teils abgelegenen Quellen und sonst selten oder nie genannten Denkern.

Das erste Kapitel, „Der aufrechte Himmelsbeobachter“, stellt die Frage nach der Bedeutung des aufrechten Gehens in einen Zusammenhang mit der Kosmologie. Denn in der Antike war der menschliche Körper als Mikrokosmos Abbild des Kosmos und wurde etwa vorgestellt als umgekehrter Baum; während dieser im Erdreich wurzelt, wendet sich der Mensch dem Himmel zu. Eben hierfür steht der aufrechte Gang. Im zweiten Teil („Verkrümmte Ebenbilder“) wird weniger die Philosophie als vielmehr die antike Theologie mit ihrer Frage nach der Gottebenbildlichkeit des menschlichen Körpers dargestellt. Die Sünde krümmt den aufgerichteten Körper des Menschen. Im dritten Teil („Aufrecht kriechende Maschinen“) zeigt der Autor, dass in der Philosophie der Neuzeit, in der nicht länger die Ordnungsprinzipien des Kosmos anerkannt werden und also nicht mehr der natürliche Vorzug des Oben vor dem Unten gilt, die Selbstbestimmung des Menschen beginnt. Hier kann der Text keiner großen Linie folgen, denn die Neuzeit ist viel reicher an Widersprüchen und Gegenströmungen als Antike und Mittelalter. Vergessene Philosophen der Renaissance wie Gianozzo Manetti oder Pierre Charron erscheinen ebenso wie Forscher des 19. Jahrhunderts, die wie Charles Darwin das Denken noch unserer Zeit bestimmen. Der vierte Teil endlich ist nicht länger historisch orientiert, sondern diskutiert im Zusammenhang mit der Evolution der Zweifüßigkeit das mit ihr korrespondierende Freiwerden der Hände und die im Vergleich zu den Tieren übergroße Bedeutung, die der Sex für uns Menschen hat. Schließlich werden auch die Folgen angesprochen, die das Aufrichten des Körpers und die veränderte Stellung des Kopfes auf der Wirbelsäule für den Rachen und damit für die Entstehung des Sprechens gewinnen musste.

Als Geschichte der Anthropologie ist das Buch glänzend gelungen, denn Bayertz schafft es, in einem leicht ironisch gefärbten und dazu stets lebhaften Stil die Bedeutung, die dem aufrechten Gehen zugesprochen wurde, in den verschiedenen Epochen einzuordnen und zu interpretieren. Er zitiert eine ganze Fülle von ganz oder wenigstens halb vergessenen Autoren, und schon allein deshalb ist dieses Buch höchst empfehlenswert. Es ist wirklich eine Fundgrube.

Allerdings fehlt auch ein Name. Nein, Hans Blumenberg, wie kurz nach ihm Bayertz für lange Jahre Professor in Münster und Autor einer nachgelassenen „Beschreibung des Menschen“, Blumenberg wird erwähnt, wenngleich nicht eben mit übergroßem Respekt behandelt und kommentiert; seiner These von der humanen Risikostruktur mag Bayertz nicht folgen. Vor allem aber wird von Bayertz die von Blumenberg angenommene „Urszene“ der Menschwerdung, das Verlassen des Urwaldes und Betreten der Savanne, als „irreal“ bezeichnet – sicherlich zu Recht. Es ist erfreulich, dass dieser Autor viel deutlicher, als es sonst zu geschehen pflegt, auf den generell höchst spekulativen Charakter der anthropologischen Szenarien hinweist. Immer wieder wird so getan, als könnte man aus wenigen Knochensplittern die weitreichendsten Folgerungen ziehen, aber tatsächlich gilt, wie Bayertz deutlich macht, dass alle diese Vorgänge „nicht mehr beobachtet und auch nicht experimentell wiederholt werden“ können, so dass eine strikt wissenschaftliche Ausdeutung heute nicht mehr möglich ist und auch niemals möglich war. Zudem sind die fossilen Funde extrem lückenhaft.

Blumenberg also wird erwähnt, aber nicht (jedenfalls nicht explizit) Arnold Gehlen, mit seinem 1940 veröffentlichten Klassiker „Der Mensch“ einer der Gründerväter der philosophischen Anthropologie, aber auch einer der am schärfsten angegriffenen Philosophen der Nachkriegszeit. Unter anderem mit der Theorie des Menschen als Mängelwesen wurde Gehlen berühmt. Diese Theorie, als deren erster Vertreter üblicherweise Herder angesehen wird, wird aber von Bayertz nicht mit dem Philosophen des 18. Jahrhunderts verbunden, sondern mit Sokrates. Xenophon und Platon, so Bayertz, seien die ersten gewesen, die in den „Memorabilien“ bzw. im „Protagoras“ die Theorie des Menschen als eines mit zahlreichen Defiziten begabten Wesens vorgetragen hätten – eine im Kern also sokratische Theorie, die im 20. Jahrhundert „unter dem Markenzeichen ‚Mängelwesen‘ neu aufgewärmt“ worden sei, so Bayertz’ wenig liebevoller und dessen Bedeutung zweifellos nicht gerecht werdender Hinweis auf Gehlen. Warum aber Arnold Gehlen, der sonst doch kaum ein Thema ausgelassen hat, ausgerechnet den aufrechten Gang nicht diskutiert, wird nun seinerseits von Bayertz nicht untersucht. Das ist eine sehr große Lücke in diesem Buch.

Eine andere Lücke tut sich auf, wenn man nach dem Zusammenhang zwischen dem Erblicken des Horizonts und dem aufrechten Gang fragt. Es scheint, dass der Horizont und seine Bedeutung für die Struktur der Welt nirgendwo diskutiert wurde, jedenfalls nicht von Autoren, die über die Bedeutung des aufrechten Ganges nachdachten.

Zu Johann Gottfried Herder merkt Bayertz kritisch an, er lasse in seinem Werk „allenthalben die personifizierte Natur auftreten und ihre Pläne wortreich erläutern.“ Weil er selbst einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Natur und Herders geschichtsphilosophischer Konzeption sieht, kann er dieses Verfahren nicht gutheißen. Eine „planende Gott-Natur auch als Person“? Sein Tadel gilt der Unterstellung, die Natur verfolge Pläne und Strategien. Er selbst aber argumentiert nur wenige Seiten später in eben derselben Weise wie Herder, wenn er von der Evolution sagt, sie verfahre „nicht wie ein Ingenieur, der ein Gerät entwirft und konstruiert, sondern wie ein Heimwerker, der ein ausrangiertes Gerät für seine Zwecke und mit seinen Mitteln umfunktioniert. Die aufrechte Haltung ist das wohl eingängigste Beispiel für die unbefriedigenden Resultate solcher Bastelei“. Da hätten wir wohl noch eine Gott-Natur, nur dass sie sich jetzt Evolution nennt und nicht aus dem Nichts erschafft, sondern bastelt.

In verschiedenen Besprechungen dieses Buches war davon die Rede, dass uns Bayertz erkläre, wie der aufrechte Gang den Menschen prägt. Aber eben dies tut er nicht, und darauf erhebt er auch keinen Anspruch. Vielmehr begnügt sich das Buch damit, die Geschichte der philosophischen Ausdeutung des aufrechten Ganges zu erzählen. Wer eine eigene Theorie erwartet, sieht sich enttäuscht. „Der aufrechte Gang“ ist ein Beitrag zur Philosophiegeschichte und nichts weiter; aber als ein solcher ist dieses Buch unbedingt empfehlenswert.

Titelbild

Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
415 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406638480

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