Machtkämpfe und Intrigen

Zu Wolf-Dietrich Gutjahrs Biografie über Karl Radek

Von Andreas R. KloseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas R. Klose

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Im übrigen, wer kennt ihn schon!“ Mit diesem Satz beendete Nikolaj Bucharin 1936 einen an Stalin gerichteten Brief über Karl Radek, einen Brief, den er auf Radeks Bitte nach dessen Verhaftung verfasste und in dem er ihn als einen treuen Bolschewisten darstellen sollte, um bei Stalin ein mildes Urteil zu erwirken. Es war ein seltsamer Satz, weil er alles zuvor von Bucharin Geschriebene buchstäblich entwertete. Radek beschuldigte mit seinen Aussagen schließlich sogar Bucharin, der im März 1938 ermordet wurde. Radek selbst wurde von Berijas NKVD-Leuten im Gefängnis von Verchneural’sk im Südural am 19. Mai 1939 in einem provozierten Streit erschlagen.

So zwiespältig wie Radeks Persönlichkeit, so unterschiedlich sind die Urteile über ihn: Dietrich Geyer sprach ihm 1976 in einem Aufsatz „scharfsinnige Kompetenz“ zu, während Robert Service in „Spies and Commissars“ meint, dass er „niemals für Scharfsinn bekannt gewesen war“. Das Schillernde bleibt auch nach der Lektüre von Gutjahrs gewaltiger Lebensbeschreibung erhalten.

Gutjahrs streng wissenschaftliche Biografie ist in 22 relativ lange Kapitel unterteilt, in denen er in chronologischer Folge Radeks Wirken und seine Schriften zumeist in dem Zeitraum von ein, zwei Jahren erörtert. Jedem Kapitel ist zum Abschluss ein mehrere Seiten umfassendes Resümee angefügt, in dem nicht selten weitere Charakterisierungen Radeks durch Zeitgenossen präsentiert werden.

Gutjahrs Darstellung ist mit ihren 900 Seiten Text und 4.445 Anmerkungen nicht nur umfangreicher als die guten Abrisse von Warren Lerner (1970), Dietrich Möller (1976) und Benjamin Tuck (1988) und als die achthundertseitige, auf Französisch erschienene Biografie von Jean-François Fayet (2004), die Gutjahr zwar anführt, aber nicht zitiert, sondern auch länger als jede der bekannteren, neueren Biografien über Lenin, Stalin oder Trockij. Das Fehlen eines Sachregisters ist zu bedauern, und die zahlreichen hochinteressanten Kurzbiografien, die für sich eine Geschichte des Kommunismus ergeben, sind als Fußnoten über den gesamten Text verteilt und nicht wie bei Fayet am Ende gesammelt. Angesichts der Ausführlichkeit, der umfassend ausgewerteten Literatur und der Darstellung wichtiger Zusammenhänge ist der Gebrauch des bestimmten Artikels im Untertitel von Gutjahrs Biografie nicht unberechtigt.

Gutjahr beendet seine Biografie mit einer kurzen Darstellung der literarischen Verarbeitungen von Radeks Leben: Arthur Koestler, Emil Belzner, Alfred Döblin, Anatolij Rybakov, Karl Miedbrodt (ein nationalsozialistischer Autor) und Stefan Heym haben Radek in meist unhistorischen Romanen auftreten lassen, und 2006 fand die Uraufführung der Kammeroper „Radek“ von Richard Dünser und Thomas Höft statt, die für Gutjahr offenbar das überzeugendste künstlerische Bild von Radek gibt.

Radek und Lenin

Radek war der „Architekt der Rapallopolitik, Schöpfer des Kurses der Einheitsfront und Verfechter des Zusammengehens mit den deutschen Nationalisten“, der „Chefpropagandist der Bol’ševiki“ und einer „der brillantesten Demagogen des Sowjetkommunismus“. Gutjahr schildert sein politisches Wirken zwischen Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Lenin, Trockij, Zinov’ev und Stalin und vor dem Hintergrund der Machtkämpfe innerhalb der sowjetischen Kommunisten.

Radek, der sich Lenin und den Bol’ševiki 1915 zuwandte, war im Bereich der internationalen Politik „Vordenker und Stichwortgeber Lenins“: „Manches von Lenin verwendete Postulat findet sich in identischer Formulierung zuerst bei Radek.“ Jedoch waren Lenins Äußerungen über Radek „nie von besonders herzlicher Zuneigung bestimmt“. Obwohl Gutjahrs Darstellung zeigt, wie spannungsreich das Verhältnis zwischen Radek und Lenin immer blieb, bezeichnet er ihn als einen Vertrauten Lenins. Aber schon vor der Oktoberrevolution waren die Differenzen zwischen beiden so groß, dass Lenin ihn einen Intriganten nannte, der andere aufhetze. Über den Frieden von Brest-Litovsk kam es ebenso zu Auseinandersetzungen wie über den russisch-polnischen Krieg.

Jüdische Herkunft, Antisemitismus und Karriere

Gutjahrs schon erwähnte Kurzbiografien zeigen die Bedeutung der Juden für den Bolschewismus. Für Radek mit seiner Herkunft aus dem jüdischen Schtetl war die sozialistische Idee „eine säkulare Variante der uralten jüdischen messianischen Sehnsucht“. Dabei „verschleierte [er] seinen Antisemitismus vielfach mit Selbstironie, die zuweilen den Charakter von Selbsthass trug“: „er lehnte alles betont Jüdische ab“, worin er anderen assimilierten Juden glich, denen ihr Judentum unwichtig geworden war wie Luxemburg, Trockij oder Zinov’ev. Alfons Paquet notierte gar mit Fassungslosigkeit, dass Radek „die Juden ausrotten“ wollte. Radek gab sogar einer Verschwörungstheorie Ausdruck, wenn er 1925 meinte, die SPD und die Sozialistische Internationale seien von jüdischen Spekulanten gekauft worden.

Selbst ‚Kampfgenossen‘ traten Radek mit Vorbehalten gegenüber, und nicht selten ist er diffamiert worden. Die Quellen zeigen, dass Radek „bereits wegen seiner Herkunft auf Ablehnung stieß. Seine Polizeiakte in Bremen enthält eine Fülle gegen ihn gerichteter antisemitischer Zeitungsartikel.“ Andere Bol’ševiki mit jüdischen Wurzeln wurden als Russen betrachtet. Radek aber blieb für Freund und Gegner der österreichische, polnische, russische oder galizische Jude. Und Stalin – als „Nationalist und Judenhasser“ – „ließ die Parteimitglieder mit der Behauptung aufhetzen, es sei kaum ein Zufall, dass an der Spitze der Opposition landfremde Juden stünden, die den echten russischen Sozialismus verfälschten.“

Radeks Rastlosigkeit und seine zahlreichen Ortswechsel begünstigten seine Aktivitäten als illegal reisender Agitator, er „war im wahrsten Sinne des Wortes ‚vaterlandslos‘.“ Von seiner Funktion her „gewissermaßen der Volkskommissar für die internationale Revolution“, der weder Deutsch noch Russisch fehlerfrei sprechen konnte, fühlte er sich in Russland „vollkommen zu Hause“. Aber als Ausländer blieb er ein Außenseiter. Dass ihm der Aufstieg ins Politbüro und in der sowjetischen Hierarchie versagt blieb, lag nach Gutjahr an seiner nichtrussischen Herkunft. Als „ernstzunehmender Konkurrent im Kampf der bolschewistischen Führer um die Macht“ galt Radek „keinesfalls“. Selbst sein „umfangreiches publizistisches Œuvre“ hat sich „als politische Eintagsfliege erwiesen“.

Deutscher Oktober

Aus Radeks Perspektive war das russische Volk nicht in der Lage, die Welt umzustürzen. Deshalb konzentrierte er sich sein Leben lang so sehr auf Deutschland. Schon 1917 war er davon überzeugt, dass sich das Schicksal der Weltrevolution in Deutschland entscheiden würde. Der gemeinsame Sieg einer deutschen und russischen Revolution war sein Lebenstraum.

Im August 1923 trennte sich Radek „über Nacht“ von der Einheitsfronttaktik und befürwortete den bewaffneten Aufstand, vermutlich weil er „reale Möglichkeiten für einen Sieg der deutschen Revolution“ sah. Mit den Vollmachten des Politbüros ausgestattet fühlte er sich als der eigentliche Führer der KPD. Im Oktober reiste er illegal nach Dresden und Berlin, „um einen in Moskau geplanten kommunistischen Aufstand zu leiten“. Von der sowjetischen Botschaft in Berlin aus sollten „die militärischen Aufstandsvorbereitungen“ organisiert werden. Radek aber unterschätzte die Entschlossenheit der Regierung Stresemanns. Das Scheitern des Deutschen Oktobers ließ 1923 zum „Schicksalsjahr“ Radeks werden, das den Wendepunkt seiner Karriere einleitete. Dieser Misserfolg wurde Radek zur Last gelegt. Für Zinov’ev bedeutete das Scheitern der kommunistischen Aufstandspläne in Deutschland „den größten Prestigeverlust“. Der von ihm initiierte Politbürobeschluss vom Dezember 1923, der Radeks Politik verurteilte und stattdessen auf die linke Opposition in der KPD um Ruth Fischer setzte, bedeutete das Ende der Radek-Zeit in der Geschichte der KPD. „Seine Tage als Deutschlandexperte der Komintern waren gezählt.“

Wichtiger noch als das Scheitern des Deutschen Oktobers sei für Radeks Sturz seine Parteinahme für Trockij gewesen und dessen Gegnerschaft zur Troika (Stalin, Zinov’ev, Kamenev). Mit dem ersten Parteikongress der russischen kommunistischen Partei nach Lenins Tod im Mai 1924 „war Radeks Karriere als bolschewistischer Spitzenpolitiker beendet“. Er verlor seinen Sitz im Zentralkomitee, die formal höchste Position in der bolschewistischen Hierarchie, die er je innehatte. Fortan war er nur noch Parteijournalist.

Radek und der Rote Terror

Radek „hatte sich von Anfang an für den gewaltsamen und diktatorischen Weg zur Befreiung des Proletariats und der Menschheit entschieden“. Im September 1917 erklärte er, dass „wir“ im Falle des Sieges Gewalt gegen die sozialistischen Parteien, die die Revolution verraten hätten, „sowohl zulassen als auch anwenden“ würden. Knapp sieben Jahre ist er in der deutschen Sozialdemokratie aktiv gewesen. Nach der russischen Revolution war sie für ihn, wie er selbst schrieb, der gefährlichste Feind, und die westeuropäische Sozialdemokratie blieb der ideologische Hauptgegner.

Nach der Oktoberrevolution wurde er „zum Befürworter des roten Terrors und betätigte sich als Apologet des rücksichtslosen und gewalttätigen Vorgehens der Bol’ševiki.“ Mit der „konterrevolutionären Bourgeoisie“, so Radek 1918, „diskutieren wir nicht, mit ihnen kämpfen wir auf Leben und Tod mit den Waffen in der Hand“. Im September 1918 forderte er in der „Izvestija“ öffentliche Hinrichtungen. Der Terror und die Gewaltmaßnahmen eines kommunistischen Systems waren für Radek Ausdruck kämpferischer Notwendigkeiten und einer dem Aufbau geschuldeten Schwächephase: Je stärker das System, desto milder seine „Diktatur“.

Obwohl Radek die Risiken sah, hat er das Verbot oppositioneller Gruppen innerhalb der kommunistischen Partei Russlands nicht nur befürwortet, sondern auch dafür geworben. Er hat zwar keine Mordbefehle unterschrieben, aber mitgeholfen, den „bolschewistischen Gewaltstaat“ zu verwirklichen: „Er leistete mit seiner propagandistisch-publizistischen Arbeit massive Schützenhilfe als Schreibtischtäter bei der psychologischen Vorbereitung der bolschewistischen Massenverbrechen sowie ihrer ideologischen Legitimierung und Verharmlosung.“

Radek, Stalin und der Schauprozess

Als Oppositioneller und aufgrund seiner Kritik an Stalins Chinapolitik wurde er aus der Partei ausgeschlossen und im Januar 1928 nach Sibirien verbannt. Im Sommer 1929 brach Radek mit der Opposition „und kapitulierte vor Stalin“. Radeks „uneingeschränkte Zustimmung zu Stalins Kurs“ wurde im Juli 1929 in der „Pravda“ veröffentlicht. Radek konnte wieder „als politischer Kommentator in sowjetischen Zeitungen publizieren, ohne jedoch mit seiner Arbeit noch Einfluss auf die sowjetische Politik und die Komintern zu gewinnen“. Seine journalistischen Arbeiten waren „Beweise der Servilität“ gegenüber Stalin.

Zur Opposition hatte Radek jeden Kontakt abgebrochen, wofür ihn die „weniger korrupten Oppositionellen“ verachteten. Im Dezember 1934 drohte er den Trotzkisten und Oppositionellen in der „Izvestija“, dass sie „vom Antlitz der Erde getilgt werden“. Im Januar wurden Zinov’ev und Kamenev verhaftet. Radek, so Gutjahr, kroch vor Stalin „geradezu auf dem Bauch“ und „erwies sich in seinem Œuvre als ein ausgemachter Stalinist“. Im August 1936 erschien Radeks letzter Artikel in der „Izvestija“, der von Stalin in einem Gespräch mit seinen Vertrauten gelobt wurde, weil Radek mit Blick auf die Angeklagten des ersten Schauprozesses forderte: „Vernichtet dieses Geschmeiß!“

Im Spätsommer 1936 ließ Stalin auch Radek verhaften, und es kam zu einer pervers-kuriosen Abmachung zwischen ihnen: „Radek wurde zum engsten Mitarbeiter der Untersuchungsbehörde und half aktiv mit, das Szenario für die angebliche Verschwörung zu entwerfen.“ Er sagte gegen einstige Weggefährten aus und belastete sich selbst mit fantastischen, frei erfundenen Beschuldigungen und Geständnissen, die selbst westlichen Beobachtern – mit einigen Ausnahmen wie George Kennan – nicht auffielen. Er war Helfer und Opfer zugleich bei Stalins Terror, der die potentiellen und tatsächlichen Gegner des Diktators vorsorglich vernichten sollte. Dass der international bekannte Radek der Todesstrafe entging, hatte er wohl den Befürchtungen Stalins vor negativen Reaktionen des Auslands zu danken. Andererseits wurde er, wie ergänzt werden kann, auch nicht in dem Maße geschätzt, als dass auf Engagement ausländischer Persönlichkeiten seine Freilassung gefordert worden wäre wie im Fall von Victor Serge.

Radeks jüdische Abstammung, seine Intellektualität und sein Kosmopolitismus, seine Respektlosigkeit, Ironie und politischen Witze – all dies war Stalin verhasst. Gutjahr zitiert einige der gegen Stalins Politik und Person gerichteten Witze, die Radek zugeschrieben werden. Einer der besten dient Fayet als Einleitung zu einem seiner Kapitel in seiner Radek-Biografie: „Drei Oppositionelle finden sich in der Lubjanka wieder. Fragt der eine den anderen: ‚Warum bist Du hier?‘ – ‚Ich habe für Radek gestimmt. Und Du?‘ – ‚Man hat mich verhaftet, weil ich gegen Radek gestimmt habe.‘ Der Dritte geht schweigsam in der Zelle auf und ab. Schließlich fragen ihn seine beiden Zellengenossen: ‚Und Du, welches Verbrechen hast Du begangen?‘ – ‚Ich? Ich bin Karl Radek.‘“

Fazit

Es erstaunt, wie viele Aussagen Gutjahr anführen kann, in denen Radeks Charakter mit Missbilligung angesprochen wird. Rosa Luxemburgs Aversion und Abscheu gegenüber Radek wird mehrfach erwähnt. Auch Karl Liebknecht riet zur Vorsicht im Umgang mit ihm. Das Verhältnis zu Lenin blieb zwiespältig, Radek und Zinov’ev waren lange Zeit Gegner, und Trockij und Radek verfeindeten sich schließlich. Von Solidarität unter den Vorkämpfern der Weltrevolution konnte keine Rede sein: Was Gutjahr an Machtkämpfen und Intrigen berichten kann, ist ebenso faszinierend wie abstoßend, ging es ihnen doch um die Schaffung einer menschenwürdigeren Gesellschaft, eines besseren Menschen.

Immer wieder wird Radek von Gutjahr als ein Zyniker und Opportunist charakterisiert. Als seine prägenden Persönlichkeitsmerkmale sieht Gutjahr eine „hohe Intelligenz gepaart mit immensem Geltungsbedürfnis und moralischer Skrupellosigkeit“. Gleich einem Farbenblinden habe ihm „das Wahrnehmungsvermögen für moralische Werte“ gefehlt. Zwar verteidigt er ihn gegen überzogene oder falsche Beurteilungen durch Zeitgenossen, resümiert aber, „wie skrupellos Radek persönliche Loyalitäten seinen politischen Überzeugungen zu opfern bereit war“.

Mitunter kann der ‚zusammenstellende‘ Charakter von Gutjahrs Darstellung den Eindruck erwecken, die Analyse sei ihm weniger wichtig, auch wenn er eine neue oder andersartige Interpretation des Sozialismus und des Kommunismus in Deutschland und der Sowjetunion und des Stalinschen Systems gar nicht vorlegen will. Für nahezu jedes Urteil kann Gutjahr aufgrund seiner umfangreichen Forschungen eine Sekundär- oder Primärquelle anführen, wobei er die Widersprüchlichkeit dieser Urteile durchaus nicht immer ‚auflösen‘ will.

Titelbild

Wolf-Dietrich Gutjahr: Revolution muss sein. Karl Radek - die Biographie.
Böhlau Verlag, Köln 2012.
948 Seiten, 79,90 EUR.
ISBN-13: 9783412207250

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch