Zum Jahrestag der Machtübernahme

Norbert Freis Standardwerk zum „Führerstaat“ in einer Neuausgabe

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2013 feiern wir nicht nur das Wagner-Jahr, sondern gedenken auch des 80. Jahrestages von Adolf Hitlers Machtübernahme; Grund und Anlass für die nun vorliegende Neuausgabe von Norbert Freis Standardwerk „Der Führerstaat“. Diese 1987 erstmals erschienene und in mehrere Sprachen übersetzte Geschichte der nationalsozialistischen Gesellschaft ist zu einem kompakten Standardwerk geworden, das, durch umfangreiches Quellenmaterial gestützt, rekonstruiert, was in der deutschen Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 vor und hinter den Kulissen geschehen ist.

Die verschiedenen Auflagen – insgesamt acht bis zur jetzigen ersten Auflage des Beck-Verlags – geben, ganz nebenbei, auch einen Einblick in die veränderten Forschungsschwerpunkte, die sich in jüngster Zeit zum einen auf die Kriegsjahre richten, zum anderen aber auch gezielt danach fragen, welche Möglichkeiten der Einzelne in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen hatte, sich dem System zumindest partiell zu entziehen. Ein weiteres Phänomen, das in den Fokus der Forschung gerutscht ist, ist das der gerade im Nationalsozialismus so insistent beschworenen Volksgemeinschaft. Standen von zwei Jahrzehnten noch die Konzentrationslager im Zentrum der Forscherinteressen, so ist es nun das Wesen des Volkszusammenhaltes, das immer öfter in Projekten und Arbeiten hinterfragt wird. So formuliert es auch der Autor selbst, der der Neuausgabe ein kurzes Nachwort beigefügt hat, in dem er von einer „Scharnierfunktion“ spricht, die „Der Führerstaat“ ausübe – ein Verbindungsglied also zwischen der älteren und der aktuellen Forschung, die sich vor allem der „gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive“ widme.

Auf gut 300 Seiten setzt sich der Autor mit der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft auseinander. Den inhaltlichen Schwerpunkt bildet dabei das zweite Kapitel, das sich mit der inneren Entwicklung des Nazi-Staates befasst, die sich in drei Phasen einteilen lässt: Die ersten beiden Jahre, von der Machtübernahme 1933 bis zum Röhm-Putsch (1934), dann die Zeit der Konsolidierung bis zum Aufstieg der SS (1938) und schließlich die Kriegsjahre bis hin zum Zusammenbruch des Systems. Dass dabei auch die Figur Hitlers immer wieder hinterfragt wird, versteht sich in diesem Kontext von selbst. Ergänzt werden diese detaillierten Berichte durch einen umfassenden Anhang mit Dokumenten und Übersichten, einer Zeittafel, einem Personenregister sowie dem bereits erwähnten Nachwort.

Dabei bietet dieses Buch mehr als reines Faktenwissen oder die systematische Aneinanderreihung historischer Tatsachen. Es geht vielmehr darum, auf dieser Basis nicht nur zu rekonstruieren, was geschehen ist, sondern auch zu hinterfragen, was hätte geschehen können bzw. was nicht hätte geschehen müssen. Anders ausgedrückt: Es wird immer wieder die Frage nach einer möglichen Umkehr, oder zumindest nach einer Alternative, gestellt. Gerade anlässlich dieser Neuausgabe wäre allerdings auch ein Sachregister wünschenswert gewesen, das es Interessierten wesentlich erleichtert hätte, bestimmte Entwicklungen innerhalb des Systems, wie etwa die des Reichsarbeitsdienstes, verschiedener Jugendorganisationen oder des Winterhilfswerks dezidiert zu verfolgen.

Um den „Führerstaat“ im Regal der einschlägigen Literatur bewusst zu positionieren, sei darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Buch, trotz seines handlichen Taschenbuchformats, nicht um ein reines ‚Lesebuch‘ handelt, das in einem gefälligenPlauderton erzählt, was alles so geschehen ist in jenen Jahren. Die Lektüre erfordert im Gegenteil ein hohes Maß an Konzentration. Ein solides Vorwissen ist ebenfalls von Vorteil, um sich mit Details und Zusammenhängen auseinandersetzen zu können, denn ‚jene Jahre‘ sind alles andere als einfach zu verstehen; das weiß jeder, der genau dies bereits ernsthaft versucht hat.

Das Verständnis – oder den größtmöglichen Teil davon – muss man sich mühsam erarbeiten, und je mehr man sich mit diesem Thema befasst, desto mehr Fragen stellen sich. Dabei wächst das Bewusstsein für die Komplexität des Themas mit der Intensität der Auseinandersetzung – allein aus diesem Grund ist allen zu misstrauen, die für sich in Anspruch nehmen, das vermeintliche Rätsel aufgedeckt zu haben.

Gerade das tut Frei nicht. Bei aller Akribie in der Recherche, bei aller Sorgfalt in den Formulierungen, entsteht nie der Eindruck einer ‚veritas absoluta‘ – eine größtmögliche Annäherung kann und soll angestrebt werden, stets jedoch in dem Bewusstsein, dass trotz aller Bemühungen immer ein Rest Unverständnis bleiben wird und bleiben muss. Und: dass das, was in jenen Jahren geschehen ist, auch aus Quellen schöpft, die sich bereits lange zuvor aufgetan haben. Diese Vorgeschichte fehlt verständlicherweise bei Frei, ist aber dennoch zur Kenntnis zu nehmen, denn zu einem tiefer gehenden Verständnis des III. Reiches gehört auch die intensive Beschäftigung mit der deutschen und vor allem der preußischen Geschichte, spätestens seit der Reichsgründung von 1871.

Und noch einen nicht zu unterschätzenden Aspekt gilt es zu berücksichtigen: den historischen Kontext in Hitlers geografischem Umfeld, in dem seit Benito Mussolinis Marsch auf Rom (1922) die autoritären Regime nur so aus dem Boden schießen. Bereits vor Hitler entstehen davon nicht weniger als neun, nämlich Bulgarien (Zankoff), Spanien (Primo de Rivera), die Türkei (Atatürk), Albanien (Zogu), Polen (Pilsudski), Portugal (Comes da Costa/Carmona), Litauen (Smetona/Voldemaras), Russland (Stalin), Jugoslawien (Alexander) und Rumänien (Carol II.), dann erneut Portugal (Salazar) und wiederum Litauen, das 1932 zu einem totalitären Ein-Parteien-Staat wird.

Weitere sechs autoritäre Regime entstehen zwischen 1933 und 1936: Nur zwei Monate nach Hitlers Machtübernahme beginnt in Österreich die Diktatur Dollfuß; es folgen Estland (Päts), Lettland (Umani) Griechenland (Metaxas) und schließlich Spanien, wo General Franco nach Ende des blutigen Bürgerkriegs 1936 an die Macht kommt.

Dass sich Frei tatsächlich nur auf das Innere des Führerstaates konzentriert, belegt allein schon ein aufmerksamer Blick in das Personenregister, in dem selbst Namen wie Mussolini, Dollfuß oder Franco fehlen. Zwar ist Stalin dort verzeichnet, doch die drei referierten Textstellen verraten nichts über die Vorbildfunktion des rabiaten Georgiers, der sich ab seinem 50. Geburtstag (1929) nur noch „der Führer“ nennen lässt.

Freis „Führerstaat“ gehört nicht zuletzt deshalb zwischen Vorgeschichte und Umfeld – erst dann entfaltet sich die ganze Tiefe dieses ebenso beeindruckenden wie bedrückenden Einblicks in das Innenleben des „Dritten Reiches“.

Titelbild

Norbert Frei: Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
312 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783406644498

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