Freiheitsluft gegen Kerkerbrodem

Jean Paul lässt seinen Ballonfahrer Giannozzo Spott und Hohn über die „drunten“ ausgießen – über eine Edition von Klaus Detjen

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem Buch sollte man nicht einfach zu lesen beginnen, sondern zunächst blättern und schauen. Das hohe, schmale Format und der dunkelblaue Schutzumschlag, der zweispaltige Druck des Textes in leichtem Blau-Grau und die typografische Gestaltung der Seiten fallen ins Auge. Auf dem Deckelinneren – und das wiederholt sich hinten – blickt man in einen Sternenhimmel mit Fantasiegestirnen. Und die ersten Seiten wie die vorletzte Seite enthalten kleine blaue Bilder – Fotos? gemalte Bilder? – mit sich auftürmenden Wolkengebilden, die von kreuz und quer laufenden Punkt-Linien durchzogen werden. „Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch“ aus der Büchergilde Gutenberg, die auf eine lange Tradition sorgfältig gestalteter und reich illustrierter Bücher blicken kann, und aus dem Wallstein Verlag ist ein im wahren Sinn des Wortes schönes Buch.

Der Leser hält eigentlich zwei „Seebücher“ oder Logbücher oder Fahrtenbücher oder Flugbücher in der Hand: ein geschriebenes, das von vierzehn Ballonfahrten erzählt, und ein gezeichnetes, das auf über dreißig Seiten die Flugbahnen eines Ballons und die Ansichten von oben auf Orte und Wiesen und Äcker in eigenwilligen geometrischen Formen und Flächen wiedergibt. Das eine „Seebuch“ stammt von Jean Paul, der 1763, vor 250 Jahren also, geboren wurde; das andere von Klaus Detjen.

Klaus Detjen, geboren 1943 in Breslau, ist Typograf und Buchgestalter, und lehrte bis 2009 als Professor für Typografie und Gestaltung an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Seine Zeichnungen im Giannozzo-Buch sind Linien, Kreise, nach merkwürdigen Mustern angeordnete kleine und mittelgroße Rechtecke oder eigenartig geformte Vielecke, sich krümmende und schlängelnde weiße Linien, als handle es sich um Fluss- oder Straßenverläufe, immer durchzogen von den Fluglinien eines Luftschiffes. Da sind gepunktete Linien, die blumenartige Formen ergeben oder eigenartige, neckisch-fratzenhafte Gesichter, stern- und strahlenförmige Linienbündel und viele Kreise, ganze Seiten voller kleiner Punkte und Pfeile, die wie Gestirne aussehen, Sternengebilde, gerade Linien mit Richtungspfeilen, gekrümmte Linien und dunkelblau ausgemalte flächig-rechteckige Formen, Häuserparzellen vielleicht, Wiesen oder Straßenzüge, das meiste in blassen Farben und leichten, dünnen, filigranen, manchmal kaum wahrnehmbaren Federstrichen.

Einige punktierte Linien und Kreise ergeben Wörter, die sich wie geheime Botschaften lesen: Das Wort Geld ist entzifferbar oder Namen wie die Festung Blasenstein oder Kassel und Herkules. Einiges ist Außenstehenden erschließbar, vieles bleibt vage, ist Andeutung, gibt sich rätselhaft, ist offen für fantasievolle Auslegung und Träumerei.

Klaus Detjen erläutert in einem lesenswerten Nachwort seine künstlerischen Absichten und gibt Einblicke in Zusammenhänge und Probleme typografischer Buchgestaltung. Er hat gar nicht erst versucht, „Giannozzos Seebuch“ zu illustrieren, „nur“ zu illustrieren, müsste man einschränkend sagen. Denn Illustrationen „erzählen“ nicht immer eine eigene Geschichte mit den besonderen bildlichen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen; sie „wiederholen“ manchmal nur das, was im Text steht. Man kann das beobachten, wenn man das „Giannozzo“-Buch, das 1995 in der Büchergilde Gutenberg veröffentlicht wurde, mit der neuen Ausgabe des Verlags vergleicht. Das Buch damals enthält Bilder von Dieter Kliesch mit grotesken Figuren, die aus einem Gruselmärchen stammen könnten. Auch in der 1995er-Ausgabe sind die Bilder nicht einfache Übertragungen des Textes auf eine andere künstlerische Ebene; aber der Bezug zu Jean Pauls Text ist viel enger als in Klaus Detjens Abstraktionen. Äußerlich ist das darin erkennbar, dass Klieschs Bilder in den Text, so als gehörten sie zu einem bestimmten Kapitel oder einem Ereignis, eingefügt sind, während Detjens abstrakte Zeichnungen in der neuen Ausgabe einen eigenen Teil des Buches bilden, also eine eigenständige zeichnerisch-bildliche „Fortschreibung“ der Jean Paul-Geschichte sind.

Freilich macht auch Detjen gleich am Anfang seines Flugbuchs klar, dass sich seine Zeichnungen keineswegs von Jean Pauls Text lösen wollen. Er zitiert einen Satz, der ein Motto sowohl des Textes wie der Illustrationen ist: „Ich bin geschieden von der Welt“. Wer mit den Zeichnungen beginnt, ist mit diesem Satz im Kopf gleichzeitig auch in Jean Pauls „Seebuch“. Denn in der Tat: Giannozzo ist ein Luftschiffer, der sich „geschieden“ hat von der Welt unter ihm, der „auf den finstern Winter der Welt“ herabschaut, der unten nicht sein kann, weil er die biedere, dumpfe Spießbürgerlichkeit nicht erträgt, der aber auch oben in der Luft nicht einfach der Erde unter ihm den Rücken zuwenden kann. Wie magisch wird er angezogen von dem, was unten passiert und vor sich geht, muss alles beobachten, darüber nachdenken, sich darüber entrüsten und sich immer wieder – vierzehnmal insgesamt – zur Erde hinuntersinken lassen, „einzugreifen“ versuchen, weil ihm die Erd-Ereignisse unerträglich sind, nur um dann immer wieder, nach kurzer Zeit, in die freie Luft und den grenzenlosen Raum über der Erde zu entschwinden.

„Ich könnte ein pläsantes Leben hier oben führen“, klagt Giannozzo, „wenn ich mich nicht den ganzen Tag über alles erboste, was ich mir denke und finde. Schon drunten war ich oft imstande, tagelang die Stube auf- und abzulaufen und die Faust zu ballen, wenn ich über die böse Zwei (die böse Sieben für mich), über Ungerechtigkeit und Aufblasung reflektierte und mir die greuliche Menge der Schnapphähne und der Krähhähne vorsummierte, die ich in so vielen Ländern und Zeiten muß machen lassen, was sie wollen, ohne daß ich den einen die Sporen, den andern den Kamm abschneiden, dort Köpfe, hier Fenster einschlagen könnte.“

Diese innere Erbostheit über die Unzulänglichkeiten der Menschen in ihrem Umgang untereinander und über ihre Ungerechtigkeit und Mittelmäßigkeit und die Einsicht in die eigene Begrenztheit, daran etwas zu ändern, sind die Antriebsfeder für Giannozzos rastlose Ballonflüge zu allen möglichen Orten und seine Versuche, auch wenn sie nichts bewirken, den Menschen die Augen über ihr Verhalten zu öffnen. Giannozzos grundsätzliche Weigerung, den Zustand der Welt um ihn herum zu akzeptieren, macht ihn zum liebevollen, aber auch grotesken Weltverbesserer, zum „Welt-Narren“. Seine irrwitzigen Ortswechsel und Fahrten zu den Menschen, die er mit seinen Botschaften erreichen möchte, zu den „Blut- und Schweinsigeln, Kirchenfalken und Staatsfalken“, sind letztlich nichts als „irre“ Fahrten. Ironischerweise will Giannozzo die Welt von oben herab verändern, ein Versuch, der – er selbst ist sich dessen bewusst – von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.

Die Liste dessen, was Giannozzo aus seinem Weltenschiff heraus anklagt und beklagt, ist lang. So prangert er die lächerliche Aufgeblasenheit der Obrigkeit an, auch die Wortkargheit der Deutschen oder den Kitsch romantischer Liebe, die langweiligen Jubiläen vornehmer Gesellschaften, die Gewinnsucht der stattlichen Bürger, den vorgetäuschten Tiefsinn im Lehrbetrieb mancher Universität und, in einprägsamen Bildern, das „Kriegshandwerk“ der Bürger und ihre Kriegslust. Er spottet über die „feigen, hockenden Menschen drunten“ und verhöhnt in scharfen Worten die Mittelmäßigkeit der „unzähligen Narren, die wie Luftbetten nach jeder Erniedrigung sich selber wieder heben“, so dass es ihm, dem freien Luftschiffer, „höllenschwül“ wird.

Damit dem Erzähler diese Enthüllungen und Entlarvungen gelingen, braucht es eine Sprache, die genau und suggestiv zugleich ist, erzählend und bildhaft, komisch und satirisch und ernsthaft, eine Sprache, die den Leser emotional berührt, aber auch aufklärerisch ist, die die Schwächen der Menschen aufdeckt, anprangert und darüber lächeln lässt. Jean Paul steht eine solche genaue wie expressiv-bildhafte Sprache grenzenlos, wie es scheint, zur Verfügung. Einige Beispiele – allesamt aus der Perspektive des Flugschiffers, der Krieg und Töten auf der Erde beobachtet, – zeigen seine Sprachmächtigkeit und Bildkraft. So schreibt er vom „dunklen, breiten Sterbebette der Völker“, vom „Kampf-Wahnsinn“ der Menschen, von den „dumpfen Axtschlägen, womit der Tod sein Schlachtvieh trifft“ und von der „wolkigen Brandstätte voll Waffenglanz“.

Wörter scheinen dem Autor niemals auszugehen. Allein für sein Flugschiff erfindet er immer neue Ausdrücke, „Siechkobel“ zum Beispiel oder „Avisfregatte“ oder „Weltkörper“ und „Sänfte“, nennt sie liebevoll „meine Taucherglocke“ und „meine Schnellkugel“, „mein flatterndes Schifflein“ oder „meinen fixen Wandelstern“. Die Fülle nie vorher gelesener und oft ganz überraschender Wendungen macht einen großen Reiz des Giannozzo-Buches aus.

Für seine Enthüllungen der „erdlichen“ Dumpfheit und biedermeierlichen Begrenztheit seiner Landsleute, besonders der Obrigkeiten und der Behörden und der höheren Gesellschaftsschichten, hat Jean Paul seinen Flugschiffer Giannozzo, den er in einem seiner Briefe einmal einen „wilden Menschenverächter“ genannt hat, mit den besonderen Erzählgaben der Ironie, der Satire, der Komik und des Humors ausgestattet. Sie geben dem sprachgewaltigen Ballonsegler die Möglichkeit, erzählerisch über die „Menschenköpfe“ unten „ein volles hübsches Gewitter“ ziehen zu lassen, um sie mit dem Donner und den Blitzen und den Regengüssen ein wenig – davon träumt er und das erhofft er – zu „berühren“.

Jean Paul gelingen in den vierzehn Berichten über seine Ballonfahrten unterhaltsame und nachdenklich machende Episoden, Anekdoten und Abschweifungen, Beschreibungen von Menschen und Situationen, auch komische und satirische Szenen, die das schwer erträgliche Mittelmaß der Menschen aufs Korn nehmen. So gießt Giannozzo – ein Beispiel von vielen – Hohn und Spott über die vornehme Mülanzer Gesellschaft aus, verlacht sie als „aufgeklärte Achtzehnjahrhunderter“, die zum Galgen als dem Wahrzeichen ihrer Stadt eine Jubiläums-Prozession veranstalten. Als ihr „Galgenpater“ hält er schließlich eine flammende Lobrede auf die Anwesenheit von Galgen in einer Stadt und prophezeit – halb Drohung, halb Wunsch – den Mülanzern am Ende, dass sie einmal an diesen Galgen hängen würden.

Diese ironisch-spöttisch-satirisch-witzigen Passagen, die dem Leser im Giannozzo-Seebuch auf Schritt und Tritt begegnen, machen aus Giannozzo eine Figur, die in ihrer Abgehobenheit, Schwerelosigkeit und „Luftigkeit“, in ihrer Erd-Ungebundenheit und Erdenferne die Sehnsüchte und die Wünsche der „normalen“ Menschen nach Freiheit verkörpert, in ihrem scharfen Beobachtungsblick und in ihrer kritischen Erzählhaltung die Begrenztheit und Biederkeit menschlicher Verhaltensweisen aufdeckt und in ihrer satirisch-spöttischen Darstellung die Engheit und Dumpfheit gesellschaftlicher Zustände offenlegt.

Aus dem Ballon Giannozzos betrachtet, schrumpft alles, was auf der Erde geschieht, zu Nichtigkeiten zusammen. Die abgehobene Perspektive von oben verführt den Luftschiffer allzu leicht dazu, in das Leben der kleinen und großen Leute unten einzugreifen. Aber er täuscht sich. Denn sobald er sich – als „böser Engel“, wie ihn der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil genannt hat, – niedersinken lässt, um zu mahnen, zu schlichten, zu spotten und zu kritisieren, bewegt er sich unter Menschen, die seine Exzentrik nicht verstehen und oft nicht ertragen, wird einmal ins Gefängnis gesteckt, ein anderes Mal kopfschüttelnd mit Unverständnis abgetan. Das Ende des Buches, Giannozzos Flug auf Nimmerwiedersehen in fürchterlich tobende Gewitterwolken hinein, ist da nur folgerichtig.

Die Brüder Montgolfier haben ab 1783 erste Flugversuche in einem von ihnen entwickelten Heißluftballon unternommen, damit eine neue Ära der Fortbewegung eingeläutet und unter vielen fortschrittsgläubigen Menschen eine überschwengliche Begeisterung für die Eroberung des Weltraums als eines neuen unermesslichen Kontinents ausgelöst. Das Luftschiff wird zu einem Symbol der freien, unbegrenzten Bewegung. Jean Paul erkennt, als er den Text 1801 als Anhang des Titan-Romans veröffentlicht, die vielfältigen Erzählmöglichkeiten eines Luftschiffers Giannozzo, der mit seinem Ballon kreuz und quer reisen und alles Geschehen von oben herab beobachten und beurteilen kann. Die technische Seite des Fliegens oder Schwebens durch die Luft interessiert ihn wenig; er ist allein daran interessiert, dass das Luftschiff Giannozzo und damit ihm, Jean Paul, die „Geister-Maskenfreiheit“ gibt, das zu schreiben und auszusprechen, was ihm angesichts der gesellschaftlichen Zustände und des Verhaltens der Menschen dringlich erscheint.

Jean Pauls Text „Des Flugschiffers Giannozzo Seebuch“ ist in seiner kritischen Sicht auf Menschen und Gesellschaft und in seiner sprachlich überbordenden Erzählweise auch nach mehr als 200 Jahren aktuell, fesselnd und unterhaltsam. Die verschlungenen, ungeahnten, aber doch irgendwie in eine bestimmte Richtung führenden Flugwege und Flugrichtungen des Ballonfahrers Giannozzo hat Klaus Detjen kongenial und eigenständig in Zeichnungen und Bilder umgesetzt. Jean Paul und Klaus Detjen ergänzen sich, sind „Brüder im Geiste“. Das Buch in dieser schönen Ausgabe ist ein Schau- und Lesevergnügen.

Titelbild

Jean Paul: Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch.
Herausgegeben, gestaltet und mit einer Nachbemerkung versehen von Klaus Detjen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
96 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311985

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